Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.
Fünf Tage nach dem vermeintlichen Putsch des russischen Söldnerchefs Prigoschin erschien am 28. Juni 2023 in "Foreign Affairs" - der Hauspostille des "Council of Foreign Relations" - der Artikel "Russia’s New Time of Troubles. It’s Not 1917 in Moscow - It’s 1604" (Russlands neue Zeit der Wirren. Es ist nicht 1917 - es ist 1604). Autor dieses Artikels ist der in Moskau geborene Historiker Wladislaw Martinowitsch Subok, der nunmehr als Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science lehrt.
Der an der Moskauer Lomonossow-Universität ausgebildete Subok (geb. 1958) gilt im Westen als Experte für den Kalten Krieg, die Sowjetunion, den Stalinismus und die Geistesgeschichte Russlands im 20. Jahrhundert. Nach Abschluss seines Doktoratsstudiums im Jahr 1985 war Subok von 1994 bis 2001 Inhaber eines Forschungsstipendiums („Fellow“) am National Security Archive der George Washington University. Nach Lehraufträgen am Amherst College, der Stanford University und an sonstigen Bildungsstätten in den USA wurde er 2004 ordentlicher Professor an der Temple University in Philadelphia. Heute ist er Professor für Internationale Geschichte an der Londoner "School of Economics and Political Science".
Für Subok besteht kein Zweifel daran, dass die Prigoschin-Affäre die Lage in Russland unwiderruflich verändert hat, wobei vieles in Bezug auf den Aufstand und seine Folgen ungewiss bleibt. Klar ist jedoch für Subok,
„…dass Putin und seine Kritiker und Gegner mit dem Verweis auf das Jahr 1917 die falsche historische Analogie gewählt haben. Was sich derzeit in Russland abspielt, hat weniger Ähnlichkeit mit den Ereignissen von 1917 als mit denen einer früheren Epoche: der sogenannten Zeit der Unruhen oder Smuta, die von 1604 bis 1613 dauerte“(1).
1580-1618 Polens frühe Aggressionen gegen Russland
Im Westen wird dagegen eher von der "Zeit der Wirren" gesprochen, die durch den Tod des Rurikiden-Zaren und Großfürsten von Moskau Iwan der IV. (Beiname "Der Schreckliche") 1584 nicht zuletzt dadurch vorbereitet wurde, dass er seinen Sohn Dimitri, den möglichen Thronfolger, in einem Wutanfall getötet haben soll. Als Grund wird u.a. auch von einem handgreiflichen Streit zwischen Vater und Sohn über die vielen Rückschläge im Livländischen Krieg und die vom Sohn geforderte Hilfe für die von den Polen ab August 1581 belagerte russische Stadt Pskow, bei dem auch der Bojare und Höfling Boris Godunow (1552-1605) verletzt wurde, als er dazwischentreten wollte. Die polnische Armee hatte schon 2 Jahre zuvor die Städte Polozk und Welikije Luki besetzt.(2) Mitte Januar 1582 unterzeichneten Stephan Báthory und Iwan der IV. den Vertrag von Jam Zapolski. Die polnisch-litauische Armee zog sich zurück.
Beim Tod von Iwan der IV. könnte auch Boris Godunow nachgeholfen haben. Den Grund sehen russische Historiker darin, dass Godunow vehement gegen die vom damaligen englischen Leibarzt Robert Jacob initiierte Absicht Iwans gewesen sein soll, eine Verwandte von Elisabeth I., Mary Hastings, zu ehelichen.(3) Diese Verbindung, so die Sorge der Verschwörer, hätte den Einfluss der englischen Krone auf das russische Reich bedeutend verstärkt.
Zwischen 1584 und 1598 lenkte Boris Godunow als Schwager des religiösen und unpolitischen Zaren Fjodor des I. entscheidend die Politik des Landes. Nach dem Tod Fjodors und dem Aussterben der Rurikiden-Dynastie begann unter Boris Godunow - 1598 bis 1605 Zar und Großfürst von Russland - die "Zeit der Wirren", die erst mit dem Herrschaftsantritt von Michael dem I. im Jahr 1613, dem Beginn der Herrschaft der Romanows, endeten. In dieser Zeit gab es fünf Regenten auf dem Zarenthron.
In den Jahren 1601 bis 1604 traten drei Hungersnöte auf.