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Werdet nicht zu Kulturpessimisten!


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Liebe Leserinnen und Leser,

im Sommer 2024 saß ich mit dem Kommunikationschef einer Partei beim Mittagessen in Berlin. Er sagte mir das, was man im Berliner Politik- und Medienbetrieb zu diesem Zeitpunkt von vielen Seiten hörte: Die nächste Regierung (damals war relativ klar, dass die Ampel nicht mehr lange hält) ist die letzte Chance für die Parteien der Mitte. Dieser „letzte Schuss“, der müsse sitzen.

Wie erwartet gewann die Union dann die Bundestagswahl. Die Ampel und Olaf Scholz waren abgewählt, die FDP flog aus dem Bundestag.

Dem waren allerdings mehrere eigenartige Geschichten vorausgegangen. So hatte Friedrich Merz, im Januar noch Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, bei einer Abstimmung zum Thema Migration in Kauf genommen, dass erstmals eine Mehrheit mit Hilfe der AfD erreicht wurde. Das Kalkül war: Deutschland muss bei diesem so wichtigen Thema endlich handeln und der Wähler sollte sehen, dass die Union hier handlungsfähig ist. Nur so bekommt man die AfD klein, dachten sich Merz und sein engster Kreis.

Der Plan ging grandios nach hinten los.

Die Union fuhr bei der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar ihr zweitschlechtestes Ergebnis aller Zeiten ein, die AfD verdoppelte sich auf ihr bestes Ergebnis und die eigentlich schon in der politischen Versenkung verschwundene Linke erlebte eine Wiedergeburt. Und damit nicht genug: Als die Koalition aus Union und SPD stand, bekam Friedrich Merz bei der Wahl des Kanzlers im Bundestag im ersten Wahlgang keine Mehrheit. Ebenfalls ein historischer Tiefpunkt. Heute wissen wir (mit großer Sicherheit), dass die fehlenden Stimmen (zumindest teilweise) ein Signal aus den eigenen Reihen der CDU/CSU in Richtung Merz gewesen waren.

Aber gut, nach diesem holprigen Start - dachten sich viele - konnte es jetzt ja richtig losgehen. Pragmatische Politik, Zukunft, entschiedenes Handeln. Doch es kam anders und nun steht die AfD in Umfragen gleichauf oder sogar vor der Union. Spätestens als es zum Debakel rund um die Wahl der Verfassungsrichter-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf kam, die die Koalition an den Rand des Zusammenbruchs brachte, war klar: hier läuft etwas gehörig schief. Der letzte Schuss? Womöglich schon vergeben.

Unser politisches Personal Mist, Deutschland am Ende, die AfD schon mit einem Bein im Kanzleramt. So könnte man gerade denken. Ich rate allerdings davon ab und will erklären, warum.

Kulturpessimismus als reichweitenstarker Selbstläufer

1961 erschien das Werk des US-amerikanischen Historikers Fritz Stern „Kulturpessimismus als politische Gefahr“.

Stern wurde 1926 in Schlesien geboren. Im September 1938 flohen er und seine Familie vor dem Nazi-Terror aus Deutschland und wanderten in die USA aus. Das Buch, dessen Grundlage Sterns Promotion Mitte der 50er-Jahre gewesen war, wurde zu einem seiner wichtigsten Werke. Stern fokussierte sich darin auf drei Personen: Paul de Lagarde, ein Orientalist (und Antisemit); Julius Langbehn, ein Schriftsteller und Kulturkritiker (und Nationalist); und Arthur Moeller van den Bruck, ein völkisch-nationaler Staatstheoretiker und Publizist, der 1923 ein Werk namens „Das dritte Reich“ veröffentlichte.

Sterns Hauptargument: Diese drei Personen, die alle im 19. Jahrhundert geboren wurden und den Aufstieg Adolf Hitlers an die Macht dann gar nicht mehr miterlebten, bildeten ein Fundament für den sogenannten Kulturpessimismus, der wiederum zur Basis für den darauffolgenden Faschismus und die große Tragödie wurde.

Kulturpessimismus, so Stern, war eine Form von ausgearteter Kritik am vermeintlichen „Niedergang“ deutscher Kultur und Werte.

Stern schreibt:

„Alle drei schrieben mit großer Eindringlichkeit und Leidenschaft. Ihnen ging es weniger um die Klarlegung und Analyse von Tatbeständen als vielmehr darum, Verdammungsurteile zu fällen und Prophezeiungen zu äußern. […] Jahrzehntelang wurden sie als Zeitkritiker und Propheten deutschen Volkstums gefeiert. Ich habe diese drei Männer nicht deshalb ausgewählt, weil ihre Ideen besonders originell waren, sondern weil ihr Denken und ihr Einfluss auf das deutsche Leben deutlich die Existenz einer kulturellen Krise im modernen Deutschland erkennen lassen. Sie waren – selbst krank – die Analytiker einer zumindest zum Teil kranken Gesellschaft, und als solche spielten sie in der deutschen Geschichte eine wesentliche, bisher nicht genügend erkannte Rolle.“

Und an anderer Stelle schreibt der Autor:

„Gerade weil er so unlogisch ist, trifft der Ausdruck ‚konservative Revolution‘ genau den Kern der Sache, verkörpert doch die Bewegung in der Tat ein Paradoxon: ihre Anhänger wollten die von ihnen verachtete Gegenwart zerstören, um in einer imaginären Zukunft eine idealisierte Vergangenheit wiederzufinden.“

Warum ist das heute so relevant?

Sterns Buch ist nicht nur ein bemerkenswerter Rückblick und eine Antwort auf die Frage, warum es zum Nationalsozialismus kam, sondern in Teilen auch eine Vorausschau auf das, was noch kommen würde. Und in der Tat, auch heute gibt es sie wieder, die Kulturpessimisten. Natürlich nehmen sie eine andere Gestalt an und vertreten (teils) andere Ideologien, doch es gibt viele Parallelen.

Klar ist, dass die heutigen Kulturpessimisten und die Themen, die sie setzen bzw. die Falschinformationen, die sie verbreiten, auf eine empfängliche Masse treffen.

Eines sollten wir dabei wissen: Es ist die ausgewiesene Strategie der politischen Rechtsradikalen und Neo-Kulturpessimisten, Deutschland (und Europa) so schlecht wie möglich zu reden. Es ist übrigens auch die ausgewiesene Strategie von Wladimir Putin und seinen Geheimdiensten, genau das zu unterstützen und noch zu befeuern. Und um auch das klarzustellen: Mit „schlechtreden“ meine ich nicht berechtigte und dringend notwendige Kritik an Politik, Wirtschaft und politischen Entscheidern. Was ich meine, das sind die, die den Untergang Deutschlands herbeischreiben und auf der Suche sind nach einem Sündenbock. Klingt nach einem bekannten Muster in Deutschland.

Ganz oben auf der Agenda der Kulturpessimisten steht in dem Kontext natürlich das Thema Migration. Es ist mittlerweile zu einem Selbstläufer geworden. Auf Basis von Fakten wird schon lange nicht mehr argumentiert. Remigration ist das neue Zauberwort, mit der die Rechtsradikalen in den politischen Kampf ziehen. Vorbild: Die Politik von US-Präsident Donald Trump. Eva Vlaardingerbroek, eine Influencerin der katholischen Rechten, bezeichnet Remigration gar als die „Mission unseres Lebens.“

Dabei werden in den sozialen Medien auch oft gezielte Kampagnen vorbereitet und ausgespielt, die wiederum ein ganz bestimmtes und negatives Bild über Deutschland und Europa darstellen sollen. Die Strategie ist klar: Deutschland steht am Abgrund und ist im Grunde bereits dem Niedergang geweiht.

Die Stern-Reporterin Miriam Hollstein schrieb darüber auf X:

Wenn nicht gerade gegen Migranten und/oder Minderheiten geschossen wird, dann werden wiederum politische Entscheiderinnen und Entscheider verächtlich gemacht.

Hier geht es nicht um kritische Äußerungen oder berechtigte Rücktrittsforderungen. Nein, diese Form der Kritik hat ein anderes, ein viel zynischeres Level. Von Accounts mit vielen Followern (viele davon werden aus dem Ausland gesteuert) werden Ausschnitte aus Pressekonferenzen oder Bilder ohne Kontext genommen und auf eine bestimmte Art und Weise „geframed“. Dabei geht es ausschließlich darum, jemanden so schlecht wie möglich aussehen zu lassen und eine Geschichte um ein Bild zu bauen - natürlich frei von Fakten und Wahrheit.

So stand Friedrich Merz auf einer Konferenz mit internationalen Regierungschefs für ein paar Momente allein auf der Bühne und verschränkte die Arme. Diesen Moment nutzten hunderte Accounts auf X, um den Bundeskanzler lächerlich aussehen zu lassen.

Bei dieser Herabwürdigung von Deutschland und seinem politischen Personal machen aber nicht nur unbekannte Accounts mit. Es gibt auch „Journalisten“ in Deutschland, die zunehmend eine Art kulturpessimistische Kritik betreiben und damit bewusst oder unbewusst die gleiche Agenda pushen. Dazu gehört z.B. der ehemalige Chefredakteur der BILD Zeitung, Julian Reichelt.

Und dann gibt es natürlich auch offen rechtsextreme Akteure. Dazu gehört z.B. der Aktivist und Publizist Jürgen Elsässer, Gründer und Chefredakteur des rechtsextremen Magazins „Compact“, der wiederum propagiert, dass Deutschland mehr Angst vor seinen eigenen Politikern haben sollte, als z.B. vor Wladimir Putin. Auch hier ist die Strategie klar: Deutschlands Regierung muss um jeden Preis verunglimpft und geschwächt werden. Putin wiederum wird als kluger Stratege dargestellt, der auf der Suche nach Frieden sei.

Zu guter letzt sind da noch Kommentatoren wie Richard David Precht, den ich zwar nicht per se als Kulturpessimisten bezeichnen würde, der allerdings ebenfalls ein Geschäftsmodell aus der Negativität gemacht hat. Ich habe darüber in meinem Newsletter in der vergangenen Woche geschrieben.

Tatsächlich lassen sich in den Medien, und natürlich auch in Podcasts, enorme Reichweiten mit dieser Art von negativer Berichterstattung erzielen. Da sind Gäste wie Precht absolute Klick-Garanten.

Meistens entstehen dann Headlines wie diese hier:

Werden wir gerade alle zu Kulturpessimisten?

Verstehen Sie mich nicht falsch. Für mich ist es ein Unterschied, ob man berechtigte und dringend notwendige Kritik an den teils fragwürdigen Entscheidungen unserer politischen Akteure trifft, oder ob man jeden Tag den Untergang unserer Kultur, unseres Landes und der Wirtschaft herbeischreibt, ohne dabei auch nur eine einzige konstruktive Lösung vorzuschlagen.

Und damit sind wir in diesem Artikel auch bei einem ganz entscheidenden Punkt angekommen.

Viel wichtiger als die offensichtlichen Kulturpessimisten unserer Zeit ist nämlich die Frage, wie die Mitte der Gesellschaft, die immer kleiner wird, auf diese negative Dauerbeschallung reagiert. Ich stelle fest, dass sich auch bei den moderaten und diplomatischen Menschen im Land eine neue Negativität und ein Pessimismus eingenistet hat. Das ist eine gefährliche Entwicklung.

Hinzu kommt, dass Menschen in der Mitte der Gesellschaft zunehmend verachtet werden. Sie werden von den Rändern als haltungslos und ohne Rückgrat dargestellt. Dabei bildet die Mitte einer Gesellschaft das Fundament einer funktionierenden Demokratie und oft findet man genau hier die so wichtigen Brückenbauer zwischen den verschiedenen Lagern.

Das Herbeischreiben und Herbeikommentieren des Untergangs entwickelt sich wiederum gerade zum Bestseller: Alle sind gegen die Regierung und wettern gegen unser Land, aber keiner ist bereit, Kompromisse einzugehen. Wir schwächen uns selbst. Und zwar auf grandiose Art und Weise. Die, die ein Interesse daran haben, Deutschland und die EU zu zerstören, freuen sich dabei diebisch!

Wenn wir dagegen ankommen wollen, dann brauchen wir bessere Argumente. Wir müssen z.B. besser erklären, warum Institutionen wie die Europäische Union so wichtig sind und warum wir sie verteidigen müssen vor ihren Feinden. Und ja, auch unsere gewählten Volksvertreter müssen erkennen, dass sie gerade eher hilflos agieren. Es braucht eine neue Form der wahrhaftigen und authentischen Kommunikation, damit wir endlich rauskommen aus diesem teuflischen Kreis des Pessimismus.

Ideen? Her damit.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.

Philipp Sandmann



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