10.1. In seinem frühen Werk Die Traumdeutung plaziert Freud das manifeste Traumbild wie eine Art Schwellenphänomen zwischen einerseits die Realität des archaischen, im Zweifel krankmachenden Begehrens (die Realität des Unbewußten im Modell des psychischen Apparats) und andererseits die Realität der Erfordernisse der Außenwelt (im Modell des psychischen Apparats: die Realität der vorbewußten Zensur). Der manifeste Traum schwebt vor seiner Deutung wie vermittelnd zwischen beiden Instanzen. – Insofern steht der Traum für die Freudsche Traumwissenschaft nicht einfach (wie etwa für die antike Traumkunde Artemidors) für eine „andere“ Wirklichkeit („der Kinder“, „der Neurotiker“), sondern er ist vor seiner Deutung noch ein unklarer Text, nach seiner Deutung aber liegt die „wirkliche“ – und das heißt die medizinisch-objektive – Bedeutung des Traumes offen, die auf gewisse Weise die „kranke“ wie auch die „naive“ Außenansicht des Traumbildes in aufgeklärter Form zusammenbringt.
10.2. Für das 20. Jahrhundert ist Freuds Traumtheorie an Wirkung unüberboten geblieben (und auch seine Theorie einer Wirklichkeit des Ich als Kompromißbildung zwischen den kollidierenden Realitäten des Begehrens und der Außenwelt). Gleichwohl gibt es zwei interessante Richtungen der Kritik. Beide nehmen Freuds Denken von Traum und Wirklichkeit zwar auf, radikalisieren es aber und arbeiten es erkennbar um.
10.3. Nur von der ersten dieser Kritik-Richtungen und Neuakzentuierungen war heute die Rede. Sie setzt ein beim Problem der Deutung – und betrachtet sie nicht länger als „Objektivierungsprozeß“, sondern als soziale und auf Heilung angelegte Situation. Nach Jacques Lacan zielt die Psychoanalyse nicht auf das innere Sosein (ein quasi-organisches „Unbewußtes“) des Menschen, sondern auf die Aktualität einer in einem existenziellen Sinne „sprachlichen“ Situation. Das Reden vom Traum hat eine Schlüsselstellung inne in einem machtvollen Ringen um das „volle Sprechen“ des Patienten, an dem der Analytiker wie der Patient auf unterschiedliche Weise beteiligt sind – und das im Gelingensfall mit einem neuen, „freien“ Ichsagen (und Ich-Erfahrenkönnen) des Patienten endet.
10.4. Das Verhältnis der Psychoanalyse zur Differenz von Traum und Wirklichkeit rückt aus Lacans prozeßbezogener Beziehungs-Sicht der Therapiesituation in ein neues Licht. Der Arzt „entdeckt“ nicht gleichsam unterhalb des manifesten Traumbildes die innere quasi-physische „psychische“ Wirklichkeit des Subjekts, sondern er verweigert die Akzeptanz der Traumerzählungs-Assoziationen des Patienten, bis dieser sich mit einer neuen und „normaleren“ (weil selbst-distanzierteren und daher teilbaren) Sprecherposition identifiziert.
10.5. Was Freud noch für möglich gehalten hatte: Ein chemisches oder neurologisches Modell als Basiserklärung der unbewußten Vorgänge ist mit der kommunikations- und anerkennungstheoretischen Theorie Lacans vom Tisch. Dafür muß nun die ganze Psychoanalyse (und auch die Traumdeutung) nurmehr als eine Art „Überredung zur Normalität“, eine Durchsetzung von Wirklichkeitsmacht, erscheinen. Die Analogie mit dem ärztlichen Eingriff paßt nicht mehr. Und es stellt sich die Frage, wie man die Psychoanalyse selbst wiederum (z.B. politisch) verantworten will.