7.1. Drei Grundzüge des romantischen Denkens bleiben als feste Bestandteile des
naturwissenschaftlichen Denkens durch das ganze 19. Jahrhundert erhalten: Das romantische Wissenschaftsverständnis hat erstens einen holistischen Zug: Es denkt die überhaupt nur möglichen und die wirklichen Aspekte der Welt als einen einziges prozeßförmig-bewegtes Kontinuum zusammen. Es verlegt zweitens sein Erkenntnisinteresse auf Latenzphänomene –
Phänomene unterhalb dessen, was „positiv“ meßbar oder sonstwie evident zutage liegen: In den Blick genommen werde verborgene – „unbewußte“ – Kräfte, die dem (Selbst)Bewußtsein nur in Grenzerfahrungen bzw. nur als Grenzerfahrung gegeben sind. Das romantische Wissenschaftsverständnis sorgte drittens für eine ästhetische Distanz und eine Ent-Zeitlichung der Sicht auf die aktuelle Realität: Unterhalb der aktuellen Wirklichkeit eröffnet sich im Untergrund unserer Erfahrung ein weiter, von ganz anderen als den aktuell wirksamen „äußeren“ Kräften regierter Raum. Hier spielen Größen wie der „Wille“, das „Leben“ oder „Lebenskräfte“ eine entscheidende Rolle. Solche existentiellen Mächte lassen potentiell Traum, Wirklichkeit, Begehren und Erinnerung ineinander gleiten.
7.2. Holismus, Latenz eines „Unbewußten“, Ent-Zeitlichung des einfachen Zeitpfeils der
historischen Realität – sofern auch die Traumtheorie Freuds von diesen drei Merkmalen geprägt ist, kann man sie als einen Nachfahren der romantischen Wissenschaftsverständnisses betrachten.
7.3. Ziehen wir diese Linie (Romantik – Psychoanalyse), so bietet die nachromantische Theorie von Arthur Schopenhauer eine Art Übergangsfigur. Jedenfalls metaphorisch hat Schopenhauer die Träume zu „lesbaren“ Seiten im Buch nicht „der Welt“, sondern unseres „Lebens“ erklärt. In den Träumen tobt unser Wille: derselbe Wille, der als verborgene Urkraft auch im wachen Leben unsere Vorstellungen formt.
7.4. Nicht etwa nur Schopenhauer nimmt das Träumen ernst, in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts tut dies vielmehr auch die naturwissenschaftliche Forschung: Die aufblühenden Disziplinen der empirischen Anthropologie – Psychologie, Physiologie, Neurologie, Völkerkunde – entdecken das Thema. Eine Fülle von Literatur erscheint, bringt allerdings in hohem Maße uneinheitliche Thesen und widersprüchliche Ergebnisse hervor.
7.5. Im Jahr 1900 publiziert Sigmund Freud sein umfangreiches Werk über Die
Traumdeutung. Das Buch geht aufs Ganze. Wenngleich Freud sich im Namen der Medizin geradezu demonstrativ vom Traumdiskurs seiner Zeit absetzt (er will allein als Mediziner schreiben, „den Umkreis neuropathologischer Interessen“ nicht überschreiten) geht sein Ansatz weit über medizinische Hypothesenbildung hinaus. Freud stellt den Traum vor als den
Schlüssel zur Erklärung und zur Therapie der Nervenkrankheiten und auch zum Verständnis von Erfahrungsverarbeitung im Seelenleben überhaupt. Der Traum hat, so Freud, einen „theoretischen Wert als Paradigma“ Damit wird eine neue Form von Wissen und eigentlich eine neue Wissenschaft gestiftet: eine, die den Traum nicht allein ‚erklärt‘, sondern ihn zum
Modell erklärt.