„Glaube und Vernunft“
3.1. Schon im Frühmittelalter werden die antiken Traumlehren christianisiert – und das heißt vor allem, daß sich im Verhältnis von Traumgesicht, Träumendem und Traumdeutung die Machtfrage verschiebt. Jenseits der Macht des Traums (oder auch der Traumkunde) erscheint die (Über)Macht einer äußeren Autorität, die den Individuen ihre Träume eingibt. Da Träume
von guten oder bösen Mächten gesandt werden können, bedarf es einer weiteren Autorität, um den Christenmenschen in Sachen Traum zu schützen: Das kirchliche Dogma entscheidet daher über die mögliche spirituelle Bedeutung von Träumen. Die profane Traumdeutung gilt als Aberglauben.
3.2. In den Meditationen des Descartes taucht der Traum in einer neuen Rolle auf: Das Argument, das vermeintlich Wahrgenommene könne auch geträumt sein, genauer: man könne sich das vermeintlich Wahrgenommene auch als geträumt denken und es also bezweifeln,
dient als Zwischenschritt auf dem systematischen Weg einer Vernunftphilosophie, die sich selbst (ihr eigenes „Denken“) als Gewißheitsform identifiziert.
3.3. Descartes argumentiert nicht nur mit dem Traum, er definiert den Traum: als Mangel an Klarheit. Auch das letzte Argument des Descartes, sein „Gottesbeweis“, mobilisiert daher im Grunde mit der Figur des Traums: Die Welt könne nicht von einem genius malignus, einem bösen Geist, geschaffen sein, denn unsere Wahrnehmung von ihr und vor allem unsere Erkenntnis des Cogito (im Denken, im cogitare) seien „klar“.
3.4. Mit seiner methodischen Widerlegung der Geträumtheit der Welt hat Descartes dem Traum gleichsam ein rein negatives Wesen zugewiesen: Er ist das bloßen Fehlen von Etwas, von Vernunftsicherheit und -klarheit. Seine Traumdefinition liegt genau auf der selben Linie wie der Einsatz des Traumarguments. Wenn nicht alles ein Traum ist (eine Täuschung des
genius malignus, des bösen Geistes), dann ist eigentlich nichts wirklich anderes als die Vernunft denkbar – es gibt nur noch den Mangel an Vernunft.
3.5. Mit der cartesischen Wendung entsteht eine Traumtheorie, die der Wirklichkeit den Traum nur noch als Leerfall oder Ausfallserscheinung gegenüberstellt. Der Vernunft fremd ist der Traum nicht mehr. Er ist einfach unwirklich – während alles, was vom Cogito her einen vernünftigen Zusammenhang bildet, wirklich ist.