11.1. Unterscheidet man zwei Pfade oder Richtungen der Traumtheorie nach Freud, so kann man die erste dieser beiden Richtungen (um die es in der heutigen Vorlesung ging) charakterisieren als
(1) eine gesellschaftstheoretische Kritik an Freud und
(2) den Versuch einer gesellschaftskritischen, einer historisch-polischen Überschreitung der Freudschen Psychoanalyse.
Zu nennen sind (neben Jacques Lacan) Autoren wie Karen Horney, Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Wilhelm Reich und andere. Die theoretisch maßgeblichen Arbeiten dieser Autoren entstanden (zumeist) im mittleren Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts und sie erlebten insbesondere in den Jahren um 1968 auch eine Phase der politisch-praktischen Aktualität.
11.2. Die marxistisch inspirierte Traumdeutung kritisiert Freuds Theorie und seine Praxis als zu eingeschränkt: Die Psychoanalyse fragt per se nie nach der Berechtigung einer neurotischen Struktur, sie ignoriert ihre eigene normalisierende Rolle, sie hinterfragt nicht die Machtstrukturen, gegen die der Patient in seinen Träumen rebelliert.
11.3. Autoren wie Marcuse, Bloch oder Reich fordern eine Parteilichkeit der Analyse nicht für, sondern gegen die herrschende Normalität. Sie nehmen den Traum nicht nur als einen lebensgeschichtlich motivierten Kompromiß zwischen den unbewußten Triebregungen und dem individuellen Überich eines erwachsenen Menschen. Sie sehen vielmehr hinter den anerzogenen Verzichtsstrukturen die entfremdenden Lebensbedingungen der modernen (kapitalistischen) Gesellschaft. Damit wird der Traum zum Politikum: Nicht einfach das Individuum ist krank, sondern die gesellschaftliche Verfassung muß geändert werden, und zwar bis in das familiäre und sexuelle Alltagsleben hinein.
11.4. Das gesellschaftskritische Ideal der Traumdeutung schwankt damit – plakativ gesprochen – zwischen einerseits der symptomatischen Interpretation des Traums: Er ist eine Art „Schrei der Unterdrückung“; und andererseits einem romantischen Wörtlichnehmen des Traumes: In unseren Traumbildern (bei Bloch: im Wachtraum) entwerfen wie als Opfer von Unterdrückung Utopien davon, wie eine andere und bessere Zukunft auszusehen hätte. Gemäß dieser zweiten Lesart hieße es dann gleichsam: „Phantasie an die Macht!“.
11.5. Nehmen wir diesen doppelten Wert, diesen sowohl Symptomwert als auch utopischen Wert des Traumes ernst, so erhalten wir eine Spannung: Der Traum spielt eine dialektische Rolle. Er reagiert auf die Widersprüche der Gegenwart und entwirft gleichsam „wissend“ eine Utopie – die durch Veränderungen, die noch ausstehen, zu verwirklichen wäre. Am Leitfaden unserer Frage nach der Differenz von Traum und Wirklichkeit, müssen wir freilich auch registrieren, daß mit dieser „objektiven“ gesellschaftskritischen Bedeutung über Freud hinaus ein neuer, quasi ein zweiter „Realismus“ des Traums in die die Traumtheorie eingezogen ist. Der Traum ist „realistisch“ bezogen auf die Krankheit und er ist „realistisch“ in seiner Gesellschaftskritik. Das nähert sich einer cartesianischen Figur: Der Traum erscheint als eine (nur verborgene) Gestalt der Vernunft.
11.6. Deutlich anders, nämlich gerade nicht nun auch noch „realistisch“ – in ihrer Freudkritik, aber auch in ihrer gesellschaftspolitischen Vision – setzen die Vertreter einer jüngeren Generation der freudianisch-marxistischen oder vielleicht auch postfreudianisch- postmarxistischen Gesellschaftskritik an. Ich nannte als Beispiele die Namen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Waren Marcuse, Bloch und Reich antirepressive Reformisten (oder vielleicht auch – im Zeichen einer sozial wie psychisch repressionsfreien Zukunft – antikapitalistisch und sexualpolitisch „revolutionär“), wollen sie also eine bessere Realität, so argumentieren Deleuze/Guattari anarchisch. Sie attackieren das Realitätsprinzip selbst. Eben deshalb jedoch kann für sie (in diesem Punkt folgen sie dem Freudschen Modell) der paradigmatisch eigentlich interessante Gegenstand jedoch gerade nicht der Traum sein, sondern derjenige der Schizophrenie.