12.1. Neben der gesellschaftskritischen Verallgemeinerung der Psychoanalyse gibt es eine zweite, eine eher erkenntnistheoretische und wissenschaftskritische Richtung einer Infragestellung der Psychoanalyse. Sie betrifft nicht die Deutung des manifesten Traums und die Frage, wie man den unbewußten Strukturen unterhalb eines Traumbildes wohl tatsächlich gerecht wird. Sie betrifft vielmehr den Status des manifesten Traumbildes selbst. Mit was für einem Objekt arbeitet die Psychoanalyse eigentlich? Verkennt sie nicht – schon diesseits der Frage unbewußten Strukturen – bereits den ja nur vermeintlich klaren Status ihres Ausgangsobjekts?
12.2. Zeichentheoretisch betrachtet schwankt Freud hin und her zwischen der Behandlung des manifesten Traumeindrucks als einer Art von Schrift oder aber einer Art von Bild – zum Beispiel der Philosoph und Zeichentheoretiker Jacques Derrida arbeitet das heraus. Sieht man näher hin, so scheitern schon in der Traumdeutung beide Modelle: Der Traum ist weder Schrift noch ein Bild oder eine Sequenz von Bildern. Der Psychoanalyse sei es „niemals gelungen, die Bilder sprechen zu lassen“ heißt es bei Michel Foucault. Gemünzt ist der Satz auf Freud.
12.3. Foucaults Kritik am Traumverständnis der Psychoanalyse rückt einen kleinen Aufsatz des Psychoanalytikers Ludwig Binswanger ins Licht. Binswanger – wiewohl selbst Psychoanalytiker – löst sich von einer psychologischen Sichtweise der Rolle des Traums in der Therapie. Den letztlich auf eine (an seiner Oberfläche jedenfalls) unproblematische Natur des Traums bezogenen Blick der Freudschen Seeelenwissenschaft (und auch den Realitätsbezug der Psychoanalyse: ein allzu selbstverständlich-naturalistisch „deutenden“ Bezug) ersetzt Binswanger durch eine Perspektive, die das vermeintlich Problem der „Krankheit“ als ein Problem des Weltverhältnisses, der (wie er es nennt) „Daseinsform“ begreift. Der Unterscheid zwischen dem Träumer und dem Wachenden (und dem Kranken irgendwo dazwischen) ist lediglich einer der existentiellen Hinwendung oder Entschlossenheit des Individuums (des „Daseins“) zur Welt.
12.4. Als Theorie des manifesten Traumes betrachtet weiß die Psychoanalyse im Grunde nicht mehr und nichts qualitativ besser Begründetes über ihr Objekt zu berichten als die Traumtheorien historisch anderer Zeiten – eher weniger. Das betrifft vor allem die Wirklichkeitsfrage. Denn diese wird in der Psychoanalyse auf das Thema des psychischen Widerstandes reduziert, das war die Diagnose Binswangers und Foucaults gewesen: Der Traum verliert in der Psychoanalyse seine Welt-Bedeutung, er wird „psychologisiert“.