philosophie. podcast. serie I. Traum.

#6. Literatur.


Listen Later

6.1. Die Funktionen des Traumes in der schönen Literatur korrespondieren durchaus mit den philosophischen Traumtheorien der jeweiligen Epoche.
6.2. Die klassische Literatur spätestens seit der Aufklärung und jedenfalls danach variiert des Thema Traum vielfältig und bunt. Der Traum hat eine problematisierende Funktion: Er zielt gegen einfache, eindeutige Wahrheits- und auch Wirklichkeitsvorstellungen. Der Traum kann verwirren, fehlleiten, hilfreich sein oder Wahrheiten künden – und zumeist hat er Folgen, die nicht einfach zu bewältigen sind. Als Medium der Vorausdeutungen, der Intrigen und Tricks und der Sehnsucht firmiert er in Komödie und Tragödie, Lyrik und Roman. Dabei bleibt er jedoch cum grano salis bis zur Romantik auf die Frage der Komplexität und erst allmählichen Entflechtung von Irrtum und Wahrheit bezogen.
6.3. Das romantische Projekt der „Universalpoesie“ hatte seine direkte Entsprechung in einer Literatur, in welcher der Traum nicht länger lediglich präsentiert wird als eine unter mehren typischen Figurationen des (mehr oder weniger folgenschweren) Irrtums, des Rätsels, der Illusion. Wie die romantische Philosophie macht sich die romantische Literatur die Form des Traums zu eigen – und konfrontiert auf diese Weise nicht nur die Ansichten oder die Meinungen ihrer Leser, sondern die individuelle Wirklichkeitserfahrung des Lesers mit einer
Irritation.
6.4. Wie die Philosophie verkörpert auch die Literatur der Romantik nicht nur eine Infrage-
stellung der Wirklichkeit. Sie praktiziert vielmehr auf Dauer (und man könnte auch sagen: Sie feiert) ihre eigene Gegenstellung zur Welt. Literarische Texte lösen die von ihnen selbst aufgerissene Problematik möglicher verborgener Abgründe in der Welt und in unserer Seele selbst gerade nicht mehr auf. Die Kunst verkörpert so exemplarisch, daß es ein Drittes geben kann, für das die „reale“ Grenze zwischen Traum und Realität leibhaftig nicht mehr gilt.
6.5. Die Auswirkungen des romantischen Denkens und der romantischen Bewegung in Kunst und Literatur sind für die Folgezeit (und für das ganze 19. Jahrhundert) überaus prägend gewesen, und zwar sowohl was die Sujets anbetrifft – Natur, Rätsel und Geheimnis, Liebe, Tod, das Geschlechterverhältnis – als auch abstrakter, was das Wirklichkeitsverhältnis angeht. Das 19. Jahrhundert wird mobilisiert durch einen neuen Sinn fürs Untergründige, für die verborgenen, die „latenten“ Seiten der sichtbaren und wissenschaftlich schon erschlossenen Seiten der Welt. Man kann die „idealistische“ politischen Philosophien des 19. Jahrhunderts als „romantisch“ bezeichnet. Es ist aber nicht zuletzt die Naturforschung, die jenes Interesse am Verborgenen und jenen neuen Traum-Sinn der Romantik beerbt.
...more
View all episodesView all episodes
Download on the App Store

philosophie. podcast. serie I. Traum.By audioscience / TU Darmstadt.