Ein Kommentar von Willy Wimmer.
Die weltpolitische Entwicklung wirft ein drastisches Scheinwerferlicht
auf die neue Bundesregierung und Berlin als Ganzes. Es ist nicht nach 16
Jahren politischer Monokultur der Übergang von der einen zur anderen
Regierung. Die Regierung Scholz kommt zu einem Zeitpunkt ins Amt, in dem
Deutschland geradezu in seiner Rolle in Europa und der Welt ohne sein
Zutun herumgewirbelt wird. Da kann noch so intensiv im Koalitionsvertrag
davon geschrieben werden, dass Deutschland in der Welt bitteschön doch
mehr Verantwortung übernehmen solle.
Die Deutschen wären schon ganz
zufrieden, wenn die neue Regierung dafür sorgen würde, aus Deutschland
ein Land der guten Nachbarschaft zu machen. Gewiss, das wäre eine Anleihe
bei Willy Brandt. Was wäre daran falsch? Die unmittelbar vor uns
liegende Zeit wird zeigen, wie sehr uns Willy Brandt fehlt und Egon Bahr
dazu. Wer heute für Deutschland die Übernahme von mehr Verantwortung in
der Welt fordert, der solle doch bitte die Frage danach beantworten, für
wen wir und unsere Soldatinnen und Soldaten denn diesmal die heißen
Kartoffeln aus dem Feuer holen sollen. Sind nicht die toten deutschen
Soldaten nebst den mehr als 12 Milliarden Euro Kosten für den
Afghanistan-Einsatz Mahnung vor weiteren Abenteuern genug?
Von den
hunderttausenden toten afghanischen Zivilisten gar nicht zu sprechen.
Einfach weitermachen, weil die üblichen Strippenzieher im Hintergrund es ins Ohr flüstern?
Es ist in der heutigen Zeit unmöglich, die Dinge neu zu ordnen und die
eigene Handschrift zu erkennen zu geben. Die direkten Kontakte
vielfältiger Art zwischen den beiden Präsidenten Putin und Biden in den
letzten Monaten haben das deutlich gemacht. Vor der letzten
Videokonferenz beider Präsidenten konnten Frankreich und Deutschland
noch von einer eigenständigen Rolle in Zusammenhang mit dem sogenannten
"Normandie-Format", das heißt der möglichen Lösung der Probleme in und
um die Ukraine, ausgehen.
Das Gespräch beider Präsidenten und der
Hinweis des amerikanischen Präsidenten Biden auf die nachgeordnete Rolle
europäischer Staaten in der NATO hat schlagartig klar gemacht, wo der Bartel den Most herholt. Wenn Präsident Putin mit Präsident Biden auch nur
virtuell am Tisch sitzt, ist der Welt hinlänglich vor Augen geführt,
auf wen es ankommt. Darüber mögen die NATO-Europäer raisonnieren, die
beiden Präsidenten ficht das nicht an, vielleicht später, wenn es darum
gehen sollte, die Dinge aufzuräumen.
Gerade diese Perspektive macht deutlich, was uns fehlt.
Es gab Zeiten,
da war die Bundesrepublik Deutschland schon nach der Vertragslage in
bestimmten Fragen nicht souverän. Sie verfügte in Adenauer, Brandt,
Schmidt und Kohl allerdings über Persönlichkeiten, die im entscheidenden
Moment die Dinge an deutschen Interessen ausrichteten. Das ging nicht
ohne die Egon Bahrs dieser Welt und eine eigene Grundeinstellung, die Block-übergreifend auf Verständigung und Abwehr der nächsten Katastrophe
eingestellt gewesen ist. Ja, da hat sich leider etwas verändert. Heute
ist Deutschland durch die Entscheidung der damaligen Sowjetunion
zugunsten einer Wiedervereinigung Deutschlands wieder souverän. Auf
einem anderen Blatt steht aber, ob man im Sinne deutscher Interessen
auch von dieser auf dem Papier stehenden Souveränität Gebrauch macht?
Jede Politik muss unterfüttert werden und das wird in wenigen Segmenten
deutscher Politik so sichtbar wie an der ehemals hochgerühmten
Völkerrechtsabteilung des Auswärtigen Amtes. Ohne die dort über
Jahrzehnte hinweg geleistete Arbeit wäre bündnispolitisch und
Block-übergreifend vieles erst gar nicht möglich gewesen. Heute weiß
niemand mehr, dass diese Abteilung überhaupt noch existiert, weil der
NATO-Westen insgesamt - seit dem ordinären Angriffskrieg gegen
Jugoslawien 1999 - alles unternommen hatte,