Nicht nur unser Immunsystem hat während des Lockdowns gelitten, sondern auch unsere Sozialkompetenz — doch Verlerntes kann man sich wieder aneignen.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Ein Standpunkt von Andrea Wiedel.
Was wir nicht trainieren, verkümmert. Das gilt für unsere Muskulatur, wie man an älteren Menschen sehen kann, die nach längerem Krankenhausaufenthalt buchstäblich hinfällig werden. Es gilt für unser Immunsystem. In einer übermäßig sterilen Umgebung verlernt dieses, seine Arbeit zu machen, und uns haut jeder Kontakt mit einer harmlosen Bazille um. Aber auch unsere Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit schrumpft, wenn wir uns abkapseln, wenn „Distancing“ das Einzige ist, was an unserem Verhalten noch sozial ist. Wirklich kriminell wird es, wenn antisoziale Verhaltensweisen uns quasi von der Regierung anbefohlen und somit Gemeingut werden. Dazu gehören Achtlosigkeit, Wegschauen, Kontaktvermeidung, Unhöflichkeit, gegenseitiges Anraunzen oder gar Bespitzelung. Wir konnten in den letzten zwei Jahren einen dramatischen Verfall der „Sitten“ feststellen. Nicht wenige Zeitgenossen zeigten einen schockierenden Mangel an simplen sozialen Fähigkeiten wie Achtsamkeit, Höflichkeit und Zugewandtheit. Doch die gute Nachricht ist: All das lässt sich wieder erlernen. Wenn man will.
Als im Frühjahr 2020 der Lockdown verkündet wurde, habe ich gedacht: Wir leben wie auf der Intensivstation. Niemand kommt auch nur mit einem fremden Virus, Bakterium et cetera in Kontakt. Unser Immunsystem fährt herunter. Wenn der Lockdown dann irgendwann beendet sein wird — dachte ich damals im Herbst 2020 — und wir wieder Kontakt mit anderen Menschen haben werden, dann wird uns das allerkleinste Virus umhauen. Denn unser Immunsystem wird verlernen, mit Krankheitserregern aller Art umzugehen. Dies ist eine anerkannte wissenschaftliche Theorie: use it or lose it. Benutze es oder verliere es.
Diese Theorie gilt für viele menschliche Bereiche. Muskeln zum Beispiel.
Wenn wir unsere Muskeln nicht benutzen, bauen sie sich ab. Sie können sich auch wieder aufbauen, wenn wir Sport machen und uns bewegen — aber bei Nichtbewegung bauen sie sich erst mal ab.
Wir müssen uns also bewegen und trainieren, um den Status quo zu erhalten. Ähnlich ist es mit dem Gehirn und dem Denken. Wenn wir unser Gehirn nicht nutzen, dann bauen sich intellektuelle Leistungen ab. Natürlich fällt nicht jeder, der mal nicht arbeitet und (denk-)faul herumliegt, auf einen unterirdischen IQ. Aber wir alle wissen, wie schwer es uns fällt, nach einer längeren Auszeit wieder in den Arbeitsalltag zurückzufinden. Einfachste Dinge fallen uns schwer und erfordern eine ungewöhnliche Konzentration. Deshalb ist es für alte Menschen wichtig, ihr Gehirn zu trainieren. Nicht selten habe ich erlebt: Sind Senioren erstmal im Altersheim und bekommen eine Rundumversorgung, bauen sie geistig ab und können bald gar nichts mehr.
Jetzt, im Juli 2022, sind die Corona-Maßnahmen nach längerem Hin und Her seit mehreren Monaten beendet. Und ich merke, wie schwer es mir fällt, in die gesellschaftliche Normalität zurückzufinden. Ich meine damit nicht die große gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Normalität, sondern meine ganz persönliche.
Überforderung beim Kofferpacken und Verreisen
Zum einen bin ich mit Tätigkeiten überfordert, die ich früher nebenbei gemacht habe: Koffer packen und reisen zum Beispiel. Ich habe so lange keinen Koffer gepackt, dass ich gar nicht mehr weiß,