Können sämtliche Mitglieder einer Gemeinschaft süchtig sein, auch wenn der Einzelne gar keine Drogen nimmt? Die US-amerikanische Frauenrechtlerin und Psychotherapeutin Anne Wilson Schaef war der Überzeugung: Ja! – In ihrem 1987 erschienenen New-York-Times-Bestseller „When Society Becomes An Addict“ („Wenn die Gesellschaft süchtig wird“) beschreibt sie nicht nur die Auswirkungen der Abhängigkeit, sondern schildert auch Auswege. Angesichts von Corona, Krieg und Inflation sind ihre Einsichten aktueller denn je.
Ein Standpunkt von Rumen Milkow.
Vor kurzem war dem Ärzteblatt zu entnehmen, dass in Deutschland ein Viertel mehr Menschen rauchen als vor der Pandemie, was alleine deswegen bemerkenswert ist, weil das Virus bekanntermaßen die Lunge angreift. Bei Alkoholmissbrauch wie Rauschtrinken, bei Abhängigkeit und Entzugserscheinungen gab es binnen eines Jahrzehnts einen Anstieg der Diagnosen um rund 31 Prozent – alleine zwischen 2019 und 2021 um 4,5 Prozent. Dazu muss man wissen, dass Abhängigkeitserkrankungen über einen längeren Zeitraum hinweg entstehen, und sie sich statistisch in der Regel erst zeitverzögert abbilden lassen. Zugenommen haben in den letzten zwei Jahren auch die Auftritte Prominenter in Talkshows, die über ihre Depressionen sprechen – und die Bücher, die sie darüber geschrieben haben.
Ende August kam ein Hilferuf aus der Pfalz, und zwar von der dortigen evangelisch-katholischen Telefon-Seelsorge. Der Anteil junger, hilfesuchender Menschen mit dem Thema „Suizidalität“ habe in den letzten beiden Jahren erheblich zugenommen und ist mit circa 40 Prozent deutlich höher als im Durchschnitt aller Altersgruppen, wo er bei 21 Prozent liegt. Deswegen schon von „Massenselbsttötung“ oder gar „Massenselbstmord“ zu sprechen, ist sicherlich übertrieben. Richtig ist, dass Termine beim Psychologen zu einem äußerst raren Gut geworden sind.
Im Zeitalter der Sucht
All diese aktuellen Informationen und Entwicklungen ließen mich als gelernten Krankenpfleger, Therapieerfahrenen und trockenen Alkoholiker nicht nur aufhorchen, sondern darüber hinaus ein Buch erneut in die Hand nehmen, das ich bereits mehrfach gelesen habe. Die Rede ist von „Im Zeitalter der Sucht“ von Anne Wilson Schaef, auf deutsch zum ersten Mal 1989 bei Hoffmann und Campe erschienen, das ich hier vorstellen möchte, weil es sowohl Erklärungen enthält, als auch Lösungsansätze aufzeigt. Das Buch der bekannten US-amerikanischen Therapeutin und Mitbegründerin des „Woman’s Institute of Alternative Psychotherapie“ ist erstmals 1987 bei Harper & Row in San Francisco unter dem Titel „When Society Becomes An Addict“ („Wenn die Gesellschaft süchtig wird“) herausgekommen. Weitere Titel von Wilson Schaef sind „Co-Abhängigkeit“ (1986), „Die Flucht vor Nähe“ (1990) und „Nimm dir Zeit für dich selbst“ (1992).
Anne Wilson Schaef ist Anfang 2020 im Alter von 86 Jahren in Arkansas verstorben. Ihr indianischer Name war Weán Wamblischka Wanka, sie wurde von ihrer Mutter und Urgroßmutter in der Tradition der Cherokee aufgezogen. Ausgehend von den Prinzipen ihrer Erziehung sah sie sowohl ihr Leben als auch ihre Arbeit als „living in process“, bei dem es ihr an erster Stelle ums „Lernen, Wachsen und Heilen“ und nicht um ihre Person ging.
Wilson Schaef war der Überzeugung, dass wir in einem Suchtsystem leben und dass jeder von uns das System in sich trägt.