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Der Mythos der Objektivität | Von Michael Meyen


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Journalismus ist ein Amalgam aus Meinungen und wechselseitigen Einflüssen — das ist in Ordnung so; schwierig wird es nur, wenn ein Wahrheitsanspruch dazukommt.




Es ist nicht schlimm, wenn Journalisten subjektiv schreiben. Schließlich sind sie Menschen mit bestimmten Prägungen, individuellen Meinungen und Präferenzen. Es ist nicht einmal schlimm, wenn in bestimmten Artikeln die Meinung von Jens Spahn oder Annalena Baerbock zum Ausdruck kommt. Schwierig — und gefährlich für die Demokratie — wird es erst, wenn der subjektive, propagandistische und gelenkte Charakter bestimmter Presseerzeugnisse für den Konsumenten nicht transparent ist. Dann maßt sich Indoktrination eine Qualität an, die ihr nicht zukommt: Objektivität. Und die Leser und Zuschauer riechen den Braten nicht so leicht. Die geschickteste Lüge ist immer die, die im Gewand unanfechtbarer Wahrheit daherkommt. Das betrifft eingebettete Wissenschaft ebenso wie die Leitmedien, die gern mit ihren journalistischen Qualitätskriterien prunken. Michael Meyen, Autor des kürzlich erschienenen Spiegel-Bestsellers „Die Propaganda-Matrix“, ist selbst Medienwissenschaftler und erinnert an einen vergessenen journalistischen Denker der Weimarer Republik, Paul Harms. Dessen Credo ist so hart wie wahr: Absolute Objektivität in der Presse ist eine Illusion.
Ein Kommentar von Michael Meyen.






Dieser Tage ist mir Paul Harms wieder eingefallen, einer der Helden meiner frühen Versuche als Pressehistoriker. Das ist kein gutes Zeichen. Paul Harms war eine Nummer im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Mitstreiter von Theodor Wolff beim Berliner Tageblatt, Leitartikler der Leipziger Neuesten Nachrichten, Buchautor. Das ist es aber nicht, was mich zusammenzucken ließ.
Paul Harms war Bismarck-Fan und sah Hitler und seine Partei schon Neujahr 1931 als einzigen Hoffnungsträger (1). Die Gestapo hielt ihn zwar ein paar Jahre später nur für „bedingt zuverlässig“ und hatte nicht vergessen, dass seine Artikel vor 1933 „in nationalsozialistischen Kreisen wiederholt Missfallen hervorgerufen“ hatten (2), in meinem Gedächtnis aber war Paul Harms verloren gegangen. Abgespeichert als Nationalist, Opportunist oder noch schlimmer.
Ich muss vielleicht erst berichten, wie dieser Mann mein Held werden konnte, bevor ich erkläre, was Paul Harms mit dem Thema dieses Textes zu tun hat — mit der journalistischen Berufsideologie der Gegenwart, die die Propaganda-Matrix unsichtbar werden lässt. Solange wir uns erzählen lassen, dass die Redaktionen eine neutrale und autonome Instanz sind, die sich bei der Auswahl und der Aufbereitung der Nachrichten ausschließlich an handwerklichen Kriterien orientiert, solange können wir nicht sehen, dass und wie wir manipuliert werden.
Solange glauben wir möglicherweise tatsächlich, dass die Leitmedien „sagen, was ist“, so Rudolf Augstein. So lange glauben das höchstwahrscheinlich sogar die Journalisten selbst. Objektivität, Unparteilichkeit, Ausgewogenheit: Diese Berufsideologie wurzelt nicht im Journalismus, sondern im Kapitalismus und ist nach 1945 von den US-Amerikanern nach Deutschland gebracht worden. Paul Harms war da schon tot.
Kennengelernt habe ich diesen Mann als Doktorand. Ich wollte damals herausfinden, ob es Sinn macht, in Medien zu investieren, wenn man die Stimmung in einer Stadt und vor allem die Wahlergebnisse verändern will. Leipzig war so ein Fall. Ullstein, dem Pressegiganten in Berlin, Freund der Demokraten, gefiel nicht, was die Leipziger Anfang der 1920er Jahre lasen: die Leipziger Neuesten Nachrichten. Ein Blatt des Kaisers, ein Blatt des Krieges, ein Blatt, das die Republik nicht wirklich mochte. Ullstein hat die kleinen Konkurrenzzeitungen gekauft, zusammengelegt und — ist mit seiner Neuen Leipziger Zeitung krachend gescheitert, obwohl Geld bis zum Ende von Weimar keine Rolle spielte.
Ich habe mich durch Ausgaben gewühlt,
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