Ein Kommentar von Sylvie-Sophie Schindler.
Propaganda, Anglizismen, und andere Obsessionen beschädigen die Schönheit der deutschen Sprache ― es wird Zeit, dieser wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.
Früher sprach man vom „Land der Dichter und Denker“. Heute sind wir in einem Land der Richter und Lenker angekommen. Unsere Sprache hat ihre Schönheit verloren und ist zum Verlautbarungsinstrument verkommen, mit dem betreut Denkende dienstbeflissen den Grad ihrer Angepasstheit an den jeweiligen Zeitgeist zum Ausdruck bringen. Das Sprechen ist umzäunt von Verboten, verunziert von künstlich uns aufgedrängten Wortungetümen. Wenn es überhaupt noch Deutsch ist, was wir sprechen. Denn schon sehr lange wird uns über Anglizismen eine Zweitidentität als Engländer oder US-Amerikaner aufgedrängt. Statt eigenständige Gedanken in selbst gefundene Worte zu verpacken, reihen wir vorgefertigte Module aus Werbung und Propaganda, Technik- und Wirtschaftssprache aneinander. Wenn die Sprache einer Kultur Ausdruck ihrer geistigen Verfassung ist, dann ist es um die unsere schlecht bestellt. Der Prozess der Sprachverwahrlosung ist jedoch nicht unumkehrbar. Weigern wir uns, nur noch korrekt, aber inhaltsleer zu stammeln, erobern wir uns unsere Sprache zurück.
Eine sportliche Funktionsjacke wird beworben. Sie hat, so ist zu lesen, eine dreifache Ausstattung: wasserdicht, winddicht und atmungsaktiv. Würde die Außenjacke nicht mehr benötigt, könne die Fleece-Innenjacke auch einzeln getragen werden. Ergibt zwei Jacken kombiniert zu einer. Der Hersteller spricht von einem „multifunktionalen Bekleidungssystem“. Nur: Muss das sein? Braucht es diesen Begriff? Man könnte entgegenhalten, dass die deutsche Sprache doch geradezu berühmt dafür ist, Wortungetüme zu erschaffen und also daran nichts ungewöhnlich sei.
Neologisch Fragwürdiges wie „multifunktionales Bekleidungssystem“ nimmt sich allerdings geradezu harmlos aus im Vergleich zu monströsen Komposita wie Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Lohnsteuerermäßigungsantragsformular und Eisenbahninfrastrukturbenutzungsverordnung. Es gibt Wortriesen, die es sogar ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft haben. Dort aufgeführt als längstes deutsches Wort ist Donaudampfschifffahrtselektrizitätenhauptbetriebswerkbauunterbeamtengesellschaft. Zum Vergleich: Das längste französische Wort, das von der Académie française offiziell anerkannt wurde, hat 25 Buchstaben und lautet „anticonstitutionnellement“. Auch das Italienische kann mit dem deutschen Hang zu sprachlichen Übertreibungen nicht mithalten. Was unter anderem mit der Grammatik romanischer Sprachen zusammenhängt.
Gut so?
Da es unter Menschen schon kompliziert genug ist, sind weitere Verstrickungsangebote tatsächlich eher hinderlich. Man könnte also argumentieren, Sprache solle besser das allzu Aufwendige unterlassen und vielmehr selbst sein wie eine Funktionsjacke, also in der Hauptsache praktisch und so anzuwenden, dass man dabei möglichst nicht nachdenken muss.
Das allerdings erteilt auch der Poesie und Literatur eine Absage. Anders gesagt: Applikationen sind ebenso unerwünscht wie ausgefallene Schnitte. Schönheit und Ästhetik werden ohnehin subtrahiert, ganz so wie es der technikaffine Zeitgeist will. Jemanden wie den Schriftsteller Peter Handke mag man unter all denen, die Sprache handhaben wie Funktionskleidung für einen trefflich Verirrten halten, wenn er befindet, die Wörter seien „die Sonne der Welt“. Ihm an die Seite ist Walter Benjamin zu stellen, der eintrat gegen eine Sprache, die zu einem bloßen Mittel erniedrigt wird, das dem Handelnden dienlich ist.
Wohin nur, wohin geht es mit der deutschen Sprache? Man mag sich an Nebenkriegsschauplätze wie bürokratisches Kauderwelsch leidvoll gewöhnt haben, das wohl eigens dafür geschaffen wurde, in den temporären Wahnsinn zu treiben, und auch an den wüsten Gebrauch von Anglizismen, die als populäre Waffe im frenetischen Feldzug gege...