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Es gibt wunderbare zwischenmenschliche Anziehungskräfte, wir spüren und erleben sie meist völlig unvorbereitet, oft in wandlungsstarken Zeiten. Die Literatur will, wenn sie davon erzählt, nichts entschuldigen oder bewerten – sie will nur darstellen und seit dem 20. Jahrhundert häufig auch den psychologischen Hintergrund beleuchten.
Da ist diese Frau aus dem Zigarren- und Zeitungsstand, in einem billigen Kleid, zehn Jahre älter als der Freund des Erzählers, von dem hier berichtet wird, der auch selbst erzählt. Das wechselt. Die Frau wirkt weder schön noch sonst irgendwie anziehend. Doch als der Mann sie sieht, gerät er in einen unbekannten Zustand. Das ist die titelgebende „Andere“. Also nicht die, die er heiraten soll und wohl auch will. Will er? Oder …? Doch nicht? Einen Tag vor der Hochzeit schläft der Mann mit eben jener Frau aus dem Zigarrenladen, mit „The Other Woman“ (so der Originaltitel). Und dann, im Rückblick, lesen und hören wir unentwegt unsichere Selbstreflexionen, Grübeleien.
Der, der da reflektiert, grübelt und an Entscheidungen zu zweifeln scheint, das aber zugleich immer bestreitet, empfindet das Erzählen von der anderen Frau „als Befreiung“. Wovon eigentlich? Von einem Schuldgefühl? An die Andere denke er – längst mit der einen verheiratet – noch immer: „nachts“. Er sei der Frau „eine Stunde lang näher“ gewesen „als je einem anderen Menschen“, lesen wir, er habe mit ihr „das denkwürdigste Erlebnis (seines) Daseins“ erlebt. Doch er heiratete die eine, die Zarte, Feine, Unerfahrene, nicht „The Other Woman“, mit der er offenbar Lust, Sexualität, Begierde, was auch immer erlebt hatte; es bleibt im Text unbenannt. Er erzählt gewissermaßen gegen die Macht der anderen Frau oder eigentlich gegen die der anderen Beziehung an, will sie erzählend unbedeutender machen als sie ist. Es hilft nichts: Er bleibt in einem „bösen Zwiespalt“, wie er das Phänomen selbst nennt. Bei Freud heißt es Liebesspaltung.
Als er seine Geschichte erzählt, kann er sich an kein Wort erinnern, das er „je von ihr vernommen hätte“. Aber an vieles andere, z.B. daran, dass er selbst in einer anderen Stimme als sonst gesprochen hatte, als er mit ihr zusammen war. Diese Frau weckte offenbar etwas bis dahin Verstecktes in ihm, eine Seite, die er von sich selbst nicht gekannt hatte. Das ist bedeutsam. Das vergisst man/frau nicht so leicht. Warum auch?
In diesem Text von Sherwood Anderson herrscht Ambivalenz in extremem Maße. Anders als viele andere Autoren seiner Generation verfiel Anderson nicht in das recht simple Storytelling der populären US-amerikanischen Short Story des 20. Jahrhunderts und interessierte sich stattdessen stets für psychologische Beweggründe von Figuren, die er dann auch erzähllogisch darzustellen wusste. In „The Other Woman“ aus dem Jahr 1921 kann der Leser/Hörer jedenfalls mühelos die Perspektiven verschiedener Figuren einnehmen – so ausdruckssicher und psychologisch schrieb dieser Autor. Die eindrucksvolle Übersetzung besorgte Karl Lerbs. Es liest Volker Drüke.
Es gibt wunderbare zwischenmenschliche Anziehungskräfte, wir spüren und erleben sie meist völlig unvorbereitet, oft in wandlungsstarken Zeiten. Die Literatur will, wenn sie davon erzählt, nichts entschuldigen oder bewerten – sie will nur darstellen und seit dem 20. Jahrhundert häufig auch den psychologischen Hintergrund beleuchten.
Da ist diese Frau aus dem Zigarren- und Zeitungsstand, in einem billigen Kleid, zehn Jahre älter als der Freund des Erzählers, von dem hier berichtet wird, der auch selbst erzählt. Das wechselt. Die Frau wirkt weder schön noch sonst irgendwie anziehend. Doch als der Mann sie sieht, gerät er in einen unbekannten Zustand. Das ist die titelgebende „Andere“. Also nicht die, die er heiraten soll und wohl auch will. Will er? Oder …? Doch nicht? Einen Tag vor der Hochzeit schläft der Mann mit eben jener Frau aus dem Zigarrenladen, mit „The Other Woman“ (so der Originaltitel). Und dann, im Rückblick, lesen und hören wir unentwegt unsichere Selbstreflexionen, Grübeleien.
Der, der da reflektiert, grübelt und an Entscheidungen zu zweifeln scheint, das aber zugleich immer bestreitet, empfindet das Erzählen von der anderen Frau „als Befreiung“. Wovon eigentlich? Von einem Schuldgefühl? An die Andere denke er – längst mit der einen verheiratet – noch immer: „nachts“. Er sei der Frau „eine Stunde lang näher“ gewesen „als je einem anderen Menschen“, lesen wir, er habe mit ihr „das denkwürdigste Erlebnis (seines) Daseins“ erlebt. Doch er heiratete die eine, die Zarte, Feine, Unerfahrene, nicht „The Other Woman“, mit der er offenbar Lust, Sexualität, Begierde, was auch immer erlebt hatte; es bleibt im Text unbenannt. Er erzählt gewissermaßen gegen die Macht der anderen Frau oder eigentlich gegen die der anderen Beziehung an, will sie erzählend unbedeutender machen als sie ist. Es hilft nichts: Er bleibt in einem „bösen Zwiespalt“, wie er das Phänomen selbst nennt. Bei Freud heißt es Liebesspaltung.
Als er seine Geschichte erzählt, kann er sich an kein Wort erinnern, das er „je von ihr vernommen hätte“. Aber an vieles andere, z.B. daran, dass er selbst in einer anderen Stimme als sonst gesprochen hatte, als er mit ihr zusammen war. Diese Frau weckte offenbar etwas bis dahin Verstecktes in ihm, eine Seite, die er von sich selbst nicht gekannt hatte. Das ist bedeutsam. Das vergisst man/frau nicht so leicht. Warum auch?
In diesem Text von Sherwood Anderson herrscht Ambivalenz in extremem Maße. Anders als viele andere Autoren seiner Generation verfiel Anderson nicht in das recht simple Storytelling der populären US-amerikanischen Short Story des 20. Jahrhunderts und interessierte sich stattdessen stets für psychologische Beweggründe von Figuren, die er dann auch erzähllogisch darzustellen wusste. In „The Other Woman“ aus dem Jahr 1921 kann der Leser/Hörer jedenfalls mühelos die Perspektiven verschiedener Figuren einnehmen – so ausdruckssicher und psychologisch schrieb dieser Autor. Die eindrucksvolle Übersetzung besorgte Karl Lerbs. Es liest Volker Drüke.