In der Literatur tummeln sich schräge Figuren: Narren, Schelme, Pechvögel, merkwürdige, randständige Gestalten, die anders sind, weit entfernt vom Normalen und Durchschnitt. Schon das macht sie für Schriftsteller interessant und für Leser und Hörer attraktiv. Auch in diesem Podcast sind wir bereits einigen begegnet: etwa Baudelaires Possenreißer, all den extrem individuellen Tieck-, Hoffmann- und Kafka-Figuren, Büchners Lenz oder auch Jakob, dem armen Spielmann in Grillparzers gleichnamiger Novelle. Wie dieser ist Bartleby in Herman Melvilles Geschichte, die wir heute vorstellen, Schreiber von Beruf, angestellt in einer vom Erzähler geführten Anwaltskanzlei. Und dieser Erzähler widmet sich dem Mitarbeiter wie einem Studienobjekt, er wirkt fast wie ein Anthropologe, der das außergewöhnliche Verhalten seines Angestellten erforscht. Und ja, Bartleby verhält sich merkwürdig, er verweigert bald die Arbeit, ja eigentlich jegliche Tätigkeit – und das mit dem immer gleichen Kommentar „I would prefer not to“ (so im Original) bzw. „Ich möchte lieber nicht“. All die Beobachtungen und genauen, häufig auch sehr komisch wirkenden Beschreibungen des Erzählers, dargebracht in einer klaren literarischen Sprache, helfen ihm selbst nicht, eine Lösung für den Umgang mit dem sonderbaren Mitarbeiter zu finden. Bartleby bleibt rätselhaft, undurchschaubar, unnahbar auch. Für uns Leserinnen/Hörer ist es jedoch schlicht ein Genuss, dieser klaren Erzählsprache zu folgen.
Es ist erstaunlich, dass dieses ästhetisch außerordentlich schöne Werk – zuerst 1853 erschienen – ein ganzes Jahrhundert benötigte, um weltweit beachtet zu werden. Seit „Bartleby, der Schreiber“ aus dem langen Schatten des großen Melville-Romans „Moby Dick“ trat und von der literarischen Öffentlichkeit vielfach beleuchtet wurde, gilt der Text als Meisterwerk der Erzählkunst. Wir präsentieren hier einen ersten Teil (morgen folgt bereits der zweite), dies mit freundlicher Genehmigung der Westdeutschen Blindenhörbücherei in Münster. Es liest Daniel Kasztura.