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Die Wahrheit ist eine Frage der Perspektive – Beleuchtung unterschiedlicher Narrative im Ukraine-Konflikt | Von Wolfgang Effenberger


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Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.
Im Ukraine-Konflikt stehen sich zwei Narrative diametral gegenüber:
Für den Westen ist das Referendum auf der Krim vom 16. März 2014 eine völkerrechtswidrige Annexion, für Russland eine völkerrechtskonforme Sezession. Der Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 wird vom "Kollektiven Westen" als völkerrechtswidriger Angriffskrieg gesehen, der keinesfalls zufolge gezielter Provokationen Russlands ausgelöst wurde. Im Gegensatz dazu spricht Präsident Putin von der Notwendigkeit dieser "speziellen Militäroperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine". Deren Ziel es sei, jene Menschen zu schützen, die seit acht Jahren den Schikanen und dem versuchten Völkermord durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind.1)
Beide Sichtweisen bilden sicherlich nur jeweils einen Teil der Wahrheit ab. Um die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen, ist es unabdingbar, dass sich alle Konfliktparteien jeweils auch mit den Sichtweisen ihrer Gegner ernsthaft auseinandersetzten und bereit sind, die unterschiedlichen Positionen nüchtern zu analysieren und versuchen, die Gründe für den nun tobenden Krieg mit der Bereitschaft eines Standortwechsels zu verstehen. Schon im römischen Reich, das alles andere als eine vorbildliche Demokratie war, galt stets als Handlungsprinzip die weise Erkenntnis des Philosophen Seneca ( 4 vor Chr. Bis 65 n Chr.): "Audiatur et altera pars"2) (man höre immer auch die andere Seite an!). Deutschland scheint allerdings auf die Anwendung des Artikels 103 / Absatz 1 im geltenden Grundgesetz bewusst zu verzichten. Dieser besagt: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör“. In der gesellschaftlichen Praxis ist von diesem Handlungsprinzip offensichtlich nicht viel mehr übrig geblieben. Frieden aber ist nur auf Basis eines verantwortlichen Umgangs mit diesem Grundrecht möglich, das jegliche Parteilichkeit und Vorverurteilung ausschließt.
Im Sinne einer der Menschheit dienenden Zukunft ist im gegenständlichen Fall ein objektiver Rückblick unerlässlich. Am 7. Dezember 2022 beschrieb NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in der "Financial Times" die Entwicklung seit 2014. Demnach haben die NATO-Verbündeten – vor allem die Vereinigten Staaten, Kanada und das Vereinigte Königreich – die Ukraine über viele Jahre hinweg unterstützt, insbesondere seit 2014, so dass die ukrainischen Streitkräfte im Februar 2022 viel größer, viel stärker und viel besser ausgerüstet sind als beim ersten Einmarsch Russlands im Jahr 2014. Diese Unterstützung der Ukraine geschah nach Stoltenberg vor der Erkenntnis,


„...dass ein Sieg Putins nicht nur für die Ukrainer eine Tragödie, sondern auch für uns alle sehr ernst wäre. Es wird die NATO-Verbündeten verwundbarer und die Welt gefährlicher machen, und deshalb können wir nicht zulassen, dass Präsident Putin gewinnt.“3)

Vor diesem Hintergrund begann 2014 die Umgestaltung der NATO. Zugleich wurde die militärische Präsenz der NATO im östlichen Teil des Bündnisses mit Verbänden verstärkt, die eine hohe Gefechtsbereitschaft aufwiesen. Zusätzliche Truppen wurden verlegt, die Zahl der Kampfgruppen im östlichen Teil des Bündnisses verdoppelt. Stoltenberg in seiner finalen Analyse:


„Zum ersten Mal in unserer Geschichte verfügen wir über Gefechtsverbände im östlichen Teil des Bündnisses. Wir haben Zehntausende von Truppen unter dem Kommando der NATO, die von einer bedeutenden Luft- und Seestreitmacht unterstützt werden…. Der Krieg begann nicht am 24. Februar dieses Jahres, sondern 2014.  Und das Paradoxe ist, dass Präsident Putin genau das Gegenteil von dem bekommt, was er wollte. Er ist in den Krieg gezogen, um weniger NATO zu bekommen. Was er bekommen hat, ist mehr NATO. Mehr NATO-Militärpräsenz im östlichen Teil des Bündnisses, mehr NATO-Mitglieder, Finnland und Schweden treten der NATO als unmittelbare Folge von Russlands brutalem Krieg bei,
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