Ein Standpunkt von Anselm Lenz.
Ein Mann, etwa Ende Dreißig, schlendert die Landsberger Allee hinunter. Ihm steht eines der Miet-E-Fahrräder im Weg. Unvermittelt tritt er es mit voller Wucht auf die karge Berliner Grünfläche. Der Mann, nennen wir ihn Torsten, geht weiter. Faxen dicke.
Die Mitarbeiterin einer Tankstelle muss die entwürdigende Plastik-Uniform des Shell-Konzerns tragen. In dieser Teletubbie-Verkleidung putzt sie die Kaffeemaschine, muss Fabrikbrötchen aufbacken, die Bockwürste heißmachen und den Kloschlüssel verwalten. Neben allem anderen. Zum Beispiel dem Beruf selbst als Kassiererin, genannt Job.
Sie – nennen wir sie Melanie – hatte einmal Fachkraft werden wollen. Allein, die Angebote fehlten. Was am einstmals ehrbaren Beruf der Kassiererin heute so mies sein soll, dass Shell sie derartig mies behandelt, weiß sie nicht. Und auf welche Stellen sich die Fachkräfte bewerben sollen, die ihre Regierung fleißig anwirbt, ist ihr auch unklar. Für sie war bislang nichts, aber auch gar nichts drin. Rassistin ist sie nicht, das geht in Berlin auch gar nicht, wenn man ein aktives Leben führen will. Ihr Freund heißt Shlomo. Beide zusammen müssen mit rund 2.000 Euro netto über die Runden kommen. Eine Erbschaft steht auch nicht in Aussicht. Damit ist eine Familiengründung ausgeschlossen, geschweige denn Urlaub, Auto, Bausparvertrag. Nichts, keine Kinder, kein Gärtchen. Gar nichts. Schon für einen kleinen Hund wäre keine Zeit und keine Tierarztrechnung drin. Tendenz sinkend.
Hinter der Corona-Plexiglasscheibe vor dem Kassen-»Terminal« verschwindet Melanie fast. Eine Zigarettenwerbung über ihrem Kopf kündet von der Freiheit amerikanischer Highways mit Cabrio und Fluppe. Im Konzernradio läuft irgendein bassig aufgezuckerter Beschleunigungs-Synthie-Pop. Demnächst soll die Tankstellen-Arbeiterin vom Konzern durch einen Roboter ersetzt werden. Die Schlange vor Melanie ist diesmal lang. Sie arbeitet mal wieder alleine im gelb beleuchteten Tankshop.
Die Leute stehen sich die Beine in den Bauch, die Verkäuferin auch. Ihre Bewegungen wirken so, als habe sie es schon mit Mitte Dreißig in der Hüfte. Eine ältere Frau ist verzweifelt, sie hat ein Problem mit ihrem Auto an Zapfsäule drei. Doch in Tankstellen gibt es schon lange niemanden mehr, der sich auch nur mit Ölnachfüllen auskennt. Der Flachildschirm im Gang zeigt die Aufnahmen der Überwachungskameras im Shop. Eine andere Frau kramt zwischen »Fisherman’s Friend« und »Haribo Riesenpommes extrasauer«.
Schon wieder klemmt die Kartenzahlung, Unmut äußert sich nur noch nonverbal, passiv-aggressiv. Stöhnen, Scharren mit den Füßen. Melanie hat genug von den »Herausforderungen der Digitalisierung«, holt mit dem kabellosen Kartenleser aus und haut den Kopf der Digitalanzeige von der Überwachungskasse. Dann tritt sie mit vollem Schwung aus der Hüfte in die Kaffeemaschine, die einem Replikator aus der Serie »Star Trek, the next generation« nachempfunden scheint. Faxen dicke.
Melanie verschwindet im Rückraum und packt ihren Rucksack. Schicht-Ende, selbstgewählt und final. Die Kunden sind verblüfft, aber heiter. Endlich tut mal jemand etwas gegen die Hölle auf Erden. Wir wollten hier alle nicht sein, es ist … nicht unsere Welt. Wer jetzt kassiert? Niemand.
Abgesang auf Ólafur Eliasson
Ein Berliner Museumsbau. Mal wieder wird eine seelenlose Geisterbahn-Installation von Ólafur Elíasson als Kunst verkauft. Unförmige Körper tapsen durch Nebelschwaden. Regenbogenfarbene Dreiecke, die in den Kriegsnebel projiziert werden, wandern durch den Saal. Eine einzige Verarschung ohne Inhalt, ohne jeden neuen künstlerischen Mehrwert seit Pink Floyd und der der »dunklen Seite des Mondes«. Im Grunde ein Abklatsch der LSD-Kunst der 1970er Jahre also. Im Westen nichts Neues seit 50 Jahren.
Die Kartenverkäuferin im Foyer zur Geisterbahn muss für Mindestlohn arbeiten und soll den Besuchern 20 Euro fürs Familienticket abknüpfen.