Es ist ein unerhörtes Geschehen, das hier geschildert wird. Ein Desaster! Gleich zu Beginn die furchterregende Situation: Der titelgebende Landarzt steht vor der Frage, wen er bevorzugen und wen er in gewisser Weise opfern muss. Das schöne Hausmädchen Rosa wird vom Pferdeknecht bedrängt, es wird ihr Gewalt angetan, es droht eine Vergewaltigung. Der Arzt jedoch wurde zu einem Patienten gerufen. Und alles wird noch schlimmer: Denn er kommt gar nicht dazu, sich aus seiner dilemmatischen Situation zu befreien – ab sofort entscheiden nur noch andere. Zunächst der Knecht, der die Kutschpferde antreibt und so den Landarzt zu seinem Patienten und weg von Rosa befördert. Und später wirkt es so, als wären die Pferde selbst die Regisseure des Geschehens. Der Arzt jedenfalls hat längst keinerlei Zügel mehr in der Hand, jegliche Kontrolle ist verloren. Am Ende irrt er, wahrscheinlich unendlich lang, umher. „Niemals komme ich so nach Hause.“ Eine Katastrophe auf ganzer Strecke! Dem Patienten konnte er nicht helfen, Rosa nicht beschützen, sogar sich selbst nicht. – Erstaunlich nur, dass er uns davon erzählen kann (er ist ja der Ich-Erzähler). War alles ein Traum?

Es ist viel über diese Novelle aus dem Jahr 1917 geschrieben worden. Und selbstverständlich tauchen hier etliche Symbole auf, die z.B. aus psychoanalytischer Sicht sehr interessant sind. Doch die Geschichte ist einfach auch ein meisterhaftes Erzählkunstwerk, das aus sich selbst heraus wirkt. Die Traum-Atmosphäre, allein durch Sprache erzeugt, in der sich die schauderhafte Geschichte entfaltet, aufregend klar und schön erzählt von einem einzigartigen Autor. Eva Schröer liest „Ein Landarzt“ langsam. Jedem Wort wird Raum gegeben, jede Silbe erklingt in eigenem Sound. Ein aufmerksames Lesen. So sollte es sein bei Texten von Franz Kafka.

Mit dieser Novelle beginnen die Kafka-Wochen in diesem Podcast. Bis Anfang Juni werden 14-täglich Geschichten dieses Autors veröffentlicht.