Eine Überprüfung zeigt: Die Reden vieler Abgeordneter bei der Bundestagsdebatte zur Impfpflicht am Mittwoch letzter Woche offenbaren ein erhebliches Defizit an sachlichem Wissensstand, teils auch an kognitivem Denkvermögen. Grundlegende Daten zur Belastung des Gesundheitssystems sind nicht bekannt oder werden ignoriert. Einfache logische Zusammenhänge werden nicht erkannt.
Ein Kommentar von Karsten Montag.
Die Abgeordneten, die am 26. Januar in der Orientierungsdebatte im Bundestag für eine allgemeine oder altersbezogene Impfpflicht plädiert haben, begründen ihre Haltung zumeist mit zwei grundsätzlichen Argumenten. Erstens soll mit einer Impfpflicht eine bestehende oder drohende Überlastung des Gesundheitssystems abgewendet werden. Zweitens sei ein Ende der Einschränkungen der Grundrechte nur mit einer sehr hohen Impfquote möglich. Der Faktencheck zeigt jedoch: Beide Argumente sind sachlich falsch.
Argument 1: Drohende Überlastung?
Die Auswertungen der Belegungstage zeigen, dass es in den Jahren 2020 und 2021 zu einer Rekordunterauslastung der deutschen Krankenhäuser gekommen ist. 2020 waren 13 Prozent weniger Belegungstage im Vergleich zu 2019 zu verzeichnen, in den ersten fünf Monaten des Jahres 2021 sogar 20 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum 2019. Diese Zahlen stammen vom ehemaligen Expertenbeirat des Gesundheitsministeriums, der zwischen April 2020 und Dezember 2021 die Abrechnungsdaten der Krankenhäuser mit den Krankenkassen ausgewertet hat. Die Erkenntnisse wurden in Berichten im Auftrag des Gesundheitsministeriums sowie in Beiträgen im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht.
Multipolar hat die Abrechnungsdaten der Krankenhäuser ebenfalls ausgewertet und mehrfach über deren Unterauslastung berichtet. Die deutlich geringere Inanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen durch Patienten ist dabei nicht darauf zurückzuführen, dass die Krankenhäuser die Behandlungen verschoben haben, um Betten für COVID-19-Patienten freizuhalten. Prof. Dr. Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin, einer der beiden Hauptverantwortlichen für die Berichte des Expertenbeirats des Gesundheitsministeriums, schreibt dazu im Ärzteblatt:
"Insgesamt festigt sich die Beobachtung aus dem Jahr 2020, dass bei praktisch allen Diagnose(gruppen), bei denen die vorliegenden Routinedaten eine Einteilung in 'dringend(er)' und 'weniger dringend' beziehungsweise 'vermeidbar' erlauben, der Rückgang bei Ersteren wesentlich weniger ausgeprägt war als bei Letzteren. Das verdeutlicht auch weiterhin, dass das Inanspruchnahmeverhalten eine deutlich größere Rolle als die aktive Absage von Behandlungen durch die Krankenhäuser gespielt hat."
Dies bedeutet, dass viele Menschen von sich aus auf weniger dringende und vermeidbare Behandlungen verzichtet haben. Eine Überlastung der Krankenhäuser aufgrund von COVID-19 war also seit Beginn der Coronakrise nicht zu verzeichnen. Aufgrund der deutlich geringeren Bettenbelegung war eine Überlastung auch nie zu befürchten.
Abbau von Intensivbetten in der Krise um 29 Prozent
Das DIVI-Intensivregister, eine vom Bundesgesundheitsministerium angeordnete und von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut (RKI) seit März 2020 betriebene Echtzeit-Datenerfassung für Intensivbettenkapazitäten, verzeichnete im Mai 2020 einen Höchststand von über 31.000 Betten auf deutschen Intensivstationen. Im Januar 2022 sind davon noch circa 22.000 Betten übrig – ein Rückgang von 29 Prozent.
Abbildung 1: Eigene Darstellung, Datenquelle: DIVI-Intensivregister
Zudem ist an den Daten des Intensivregisters zu erkennen, dass die vermehrt intensivmedizinisch behandelten Patienten mit einer SARS-CoV-2-Infektion während der typischen Wellen von Atemwegserkrankungen nicht zu einer kritischen Überbeanspruchung der Intens...