In unseren alltäglichen Gesprächen über Moral kommen die Ausdrücke „reif“ und „unreif“ auffallend häufig vor. Nicht nur sagen wir, eine gewisse Person, ein gewis-ses Urteil oder eine Handlungsweise sei „gut“ oder „schlecht“, sondern auch, sie/es sei „reif“ oder „unreif“. Interessanterweise gibt es noch keine eigentlich philosophi-sche Forschung zur Klärung des Begriffs der Reife und seiner Relevanz für die Mo-ral, trotz seiner offensichtlichen Aktualität und Relevanz im alltäglichen moralischen Denken.
In dieser Arbeit werden die verschiedenen Bedeutungen des alltäglichen Aus-drucks der Reife sowohl als die anderer verwandten Ausdrücke analysiert: „Moral“, „Sympathie“, „Autonomie“ und „reifes Urteil“. Die Alltagsbedeutungen der Aus-drücke, die durch den alltäglichen Gebrauch bestimmt werden, werden in der Arbeit Common Sense genannt. Diese Methode erinnert an die des sog. „ordinary language philosophy“, der Philosophie der Alltagssprache der Oxforder Schule der 50er und 60er Jahre, aber im Unterschied zur Oxfordschule wird in dieser Arbeit kein Versuch unternommen, mit den Mitteln des „ordinary language philosophy“ philosophische Probleme zu lösen. Stattdessen bietet die Analyse eine Grundlegung der philosophi-schen Arbeit an den Begriff der Reife durch eine Analyse dessen Bedeutung und mo-ralische Relevanz in der Alltagssprache, weshalb diese Studie nicht im strengen Sin-ne als eine Arbeit in der Tradition des „ordinary language philosophy“ betrachtet werden kann.
Die Klärung dieser fünf Alltagsausdrücke und deren sprachlogischen Beziehungen erlaubt ein tieferes Verständnis für die Art und Weise wie wir diese Ausdrücke be-nutzen, sowohl als für ihre Relevanz in unserer täglichen moralischen Praxis. Dazu können Analysen des Common Sense unser alltägliches Denken und Sprechen über Moral beeinflussen, zugunsten größerer Genauigkeit, was die Alltagsbedeutungen der Ausdrücke selber verändern würde.
„Reife“ bedeutet in der Alltagssprache ein geistiges Erwachsensein. Wir beurteilen die Reife eines Menschen ausgehend von seinem Urteilen und seinem Handeln, und was wir damit beurteilen ist sein inneres Leben: „Reife“ wird mit intellektueller und emotionaler Entwicklung in Verbindung gebracht, und was wir im Menschen als reif oder als unreif beurteilen ist sein Bewusstsein, mit dem wir eine gewisse Art des Ü-berlegens, Fühlens und Wünschens assoziieren.
Wir nennen aber auch einzelne Urteile und Handlungen „reif“ oder „unreif“. Ein reifes Bewusstsein zeigt sich im Urteilen und idealerweise auch im Handeln, als gu-tes, überlegtes und gewolltes Urteilen und Handeln, und solche Urteile und solche Handlungen nennen wir auch „reif“. Der reife Mensch erfüllt seine Rolle in der Ge-sellschaft, was heißt dass er als guter Staatsbürger, als gutes Mitglied der Gesellschaft zum Guten der Gemeinschaft und dadurch aller Mitglieder der Gesellschaft beiträgt.
In der Alltagssprache wird „Unreife“ mit Introvertiertheit, Selbstsucht und starker und sehr wechselhafter Emotionalität in Verbindung gebracht. „Introvertiertheit“ bedeutet eine ungemäße Selbstreflexion, wodurch die Reflexion über die Außenwelt vernachlässigt wird; die Person beschäftigt sich in ihren Gedanken ungleich stark mit ihrem eigenen inneren Leben. „Selbstsucht“ bedeutet dass das Handeln eines Men-schen von der Absicht, das Gute für einen selber sicherzustellen, bestimmt wird, im Bewusstsein davon dass dies zum Nachteil anderer werden kann. Eine starke und sehr wechselhafte Emotionalität zeigt sich in Wutausbrüchen, exaltierter Freude, o-der plötzlichen und gewaltigen Stimmungsveränderungen. Zusammen implizieren Introvertiertheit, Selbstsucht und starker und wechselhafter Emotionalität eine Geis-teshaltung von Sorge um sich selber, d.h. ein Interesse an sich selber mit dem aus-schließlichen Ziel sich selber zu befördern. Dies nennen wir Selbstzentriertheit. Ein solcher Mensch erfüllt nicht seine Rolle in der Gesellschaft, weder als Familienmit-glied, noch als Arbeit