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Fantasie und Faschismus: Was nicht passt, wird passend gedacht | Von Tom J. Wellbrock


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Ein Standpunkt von Tom J. Wellbrock.





Der Titel dieses Textes mag merkwürdig anmuten. Doch unser derzeitiges Problem besteht unter anderem darin, davon auszugehen, dass Fantasie und Faschismus sich einander kategorisch ausschließen oder nichts miteinander zu tun hätten.



Fantasie ist etwas sehr Umfassendes. Fantasien können wunderschön, betörend, bewegend und zärtlich sein. Sie können aber auch hässlich, verängstigend, erstarrend und brutal sein. Zur Fantasie gehört, sich auf Gedankenreisen zu begeben, deren Richtung und Ziel uns nicht klar ist. Sich auf den gedanklichen Weg in das Unvertraute, Unbekannte und bisher von uns Ungedachte zu machen, ist eine Herausforderung, weil wir angehalten sind, Neues einzuordnen, ohne es zu schnell zu bewerten. Es macht uns offen, wenn wir uns darauf einlassen und zunächst einmal eine neue Situation unvoreingenommen wahrnehmen.
Unvoreingenommenheit setzt voraus, dass wir etwas Neues wertfrei betrachten. Befänden wir uns plötzlich in einem der Fantasie entspringenden Raum, der keine Ecken hat, stellen sich zahlreiche Fragen:
1. Auf welchem Untergrund befindet er sich?
2. Wie wird er daran gehindert, sich zu bewegen, einfach wegzurollen?
3. Was passiert, wenn ich mich von meinem Standort wegbewege?
4. Was kann ich überhaupt machen in diesem Raum, in den ich keine Möbel stellen kann?
Der Fantasie bei den Fragen sind keine Grenzen gesetzt. Ein runder Raum setzt viele Möglichkeiten des Denkens frei, so wie andere Momente des Neuen, mit dem wir uns zuvor nicht auseinandergesetzt haben wollten oder nicht auseinandergesetzt haben konnten. Im Grunde beruht jede Forschung auf dem Einsatz der Fantasie. Einstein wäre niemals zu seinen genialen Schlussfolgerungen gekommen, wenn er es sich nicht gestattet hätte, Dinge zu denken, die andere nicht oder nicht in dieser Form gedacht haben.
Das „Unfassbare“ fassen
Wie aber bringt man Fantasie und Faschismus in einen sinnvollen bzw. zielführenden Zusammenhang? Zunächst, indem man Faschismus definiert. Das ist eine schwierige Angelegenheit, weil es zahlreiche Definitionen gibt, die teils stark voneinander abweichen. Verwenden wir hier die in der Wikipedia zu findende Definition von Roger Griffin:


"Da die Definition [des Faschismus] auf den ideologischen Kern zielt statt auf die konkreten historischen Erscheinungsformen (Führerkult, Paramilitarismus, Politik des Spektakels usw.), mit anderen Worten: da sie Faschismus genau wie andere generische politische Ideologien (Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus) behandelt, wird es einsichtig, ein politisches Phänomen auch dann als faschistisch zu betrachten, wenn es nur im embryonalen Zustand im Kopf eines Ideologen und ohne Ausdruck in einer politischen Partei, geschweige denn einer Massenbewegung, existiert. Darüber hinaus mag es sinnvoll sein, eine Form politischer Energie als faschistisch zu erkennen, selbst wenn sie auf die Absicht verzichtet, als parteipolitische und/oder paramilitärische Kraft zu operieren und stattdessen einem Ansatz folgt, der eher mit politischem Quietismus denn mit revolutionärem Fanatismus zu tun zu haben scheint."

Die französische Psychoanalytikerin Janine Chasseguet-Smirgel und der deutsche Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn vertreten laut Wikipedia die Ansicht, dass der Nationalsozialismus nicht einfach als eine Kategorie des Faschismus angesehen werden kann. Sie argumentieren, dass der Nationalsozialismus nicht als „ganz banale Diktatur“ bezeichnet und somit auf eine Stufe mit dem Faschismus von etwa Pinochet in Chile gesetzt werden kann. Das „Unfassbare“ der Judenvernichtung durch den Nationalsozialismus sei auf einer anderen Stufe anzusiedeln.
Dieses „Unfassbare“ ist sicherlich ein Teil dessen, was uns den Umgang mit dem Nationalsozialismus so schwerfallen lässt.
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