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Gebt die Straße den Bürgern zurück!, rufen die Demonstranten. Es ist der 20. August 2023. Trotz des starken Regens sind zehntausende Menschen zusammen auf den Straßen Taipeis – gemeinsam fordern sie Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit, in einem Land das auch als “Fußgängerhölle” bezeichnet wird. Auch die Präsidentschaftskandidaten Hou Yu-ih (侯友宜), Ko Wen-je (柯文哲) und Lai Ching-te (賴清德) sind gekommen – es sind noch 5 Monate bis zur Präsidentschaftswahl.
Das Thema Verkehrssicherheit erhitzt in Taiwan die Gemüter. Ende 2022 veröffentlichte der Amerikanische Fernsehsender CNN einen Artikel mit der Schlagzeile “Taiwan’s ‘living hell’ traffic is a tourism problem, say critics” – die Taiwanische “Verkehrshölle” sei Kritikern zufolge ein Problem für den Tourismus. Der Artikel machte den Begriff der “Fußgängerhölle” (行人地獄) auch im Ausland bekannt. Die Berichterstattung von CNN erhöhte den Handlungsdruck auf die taiwanische Regierung und wurde auch von taiwanischen Medien weiter aufgegriffen.
Ich habe mit YC Wu (吳宜蒨), einer der Initiatorinnen der Großdemonstration, gesprochen – darüber, wie sie zur Verkehrssicherheitsaktivistin wurde, mit welchen Problemen Fußgänger in Taiwan konfrontiert sind, und welche verkehrspolitischen Änderungen taiwanische Fußgängeraktivisten fordern.
Unfälle sind trauriger Teil der Alltags
Auf der website roadsafety.tw veröffentlicht das Taiwanische Verkehrsministerium aktuelle Statistiken zu Verkehrstoten in Taiwan. Im Jahr 2024 starben 366 Fussgänger in Taiwan, insgesamt gab es fast 3000 Verkehrstote. Sowohl was die Zahl der getöteten Fußgänger als auch die Gesamtzahl der Verkehrstoten angeht, sind Deutschland und Taiwan etwa gleich auf – dabei hat Deutschland dreieinhalb mal so viele Einwohner wie Taiwan.
Viele Familien in Taiwan haben Verwandte die im Strassenverkehr starben oder schwer verletzt wurden, darunter auch YC Wu: “Mein Vater wurde von einem betrunkenen Fahrer überfahren, woraufhin er verstarb. Meine Tante, als sie sehr jung war, im Alter von etwa 17, 18 Jahren, saß sie hinten auf dem Motorroller eines Freundes, sie fuhren zu schnell glaube ich… Jetzt ist sie deshalb körperlich schwerbehindert. Ich selbst hatte auch einen schweren Verkehrsunfall.”
Bei einem Motorradunfall erlitt sie einen Knochenbruch und hatte fortan eine Stahlstange im Bein. Später wurde sie als Fußgängerin von einem Auto angefahren – dieses Mal ohne Knochenbruch, dafür aber entwickelte sie eine posttraumatische Belastungsstörung. Und auch schon als Kind wurde sie beim Fahrradfahren von sich öffnenden Autotüren getroffen. Mit solchen Erfahrungen ist sie nicht alleine: “Für Taiwaner ist das eine traurige kollektive Erinnerung"
Vor Ort etwas verändern
Ich habe YC Wu zum ersten Mal Anfang 2024 getroffen, auf einer Veranstaltung auf der sie erzählte, wie sie sich auf lokaler Ebene für bessere Fußgängerinfrastruktur in der Nähe ihres Zuhauses und ihrer Arbeit eingesetzt hat. Seither ist nicht wenig passiert; mit einigen Mitstreitern hat sie den Verein Vision Zero Taiwan gegründet, der sich nach schwedischem Vorbild für das Ziel von null Verkehrstoten einsetzt. Auch darüber wollte ich mit ihr sprechen.
Unser Interview findet an einem Dienstagabend statt, YC kommt direkt von der Arbeit. Sie hat eine Vollzeitstelle als Projektleiterin an einer taiwanischen Universität, im Master hat sie Kommunikationswissenschaft studiert. Ihre aktivistische Tätigkeit hat allerdings im Kleinen angefangen.
“Natürlich habe ich nicht damit angefangen, eine gesellschaftliche Bewegung zu starten, beziehungsweise diese große Demo zu organisieren. Zunächst habe ich einfach dort angefangen, wo ich wohne und wo ich arbeite. Schließlich ist das, wo ich am deutlichsten bemerke, welche Stellen nicht sicher sind.“
YC schrieb einen Post auf facebook, in dem sie die zuständigen Volksvertreter taggte. Sie beschrieb ihre Erfahrungen im Verkehr und fügte Fotos und Videos dazu.
“Ich habe das sehr klar beschrieben und auch geschrieben, wie man es verbessern kann. Ich habe es dann gepostet, in der Hoffnung die Aufmerksamkeit der Volksvertreter zu erregen. Ich poste oft online und habe auch viele Follower. Die Volksvertreter haben diese Sache dann bemerkt. Wir sind dann gemeinsam zu diesen Straßen gegangen und haben geschaut, wo das Problem liegt.
Ich habe meine Vorschläge dann an sie übergeben. Sie haben dann entsprechend mit den Verantwortlichen vor Ort, den Ortsvorstehern, der Polizei, den Anwohnern und so weiter gemeinsam diskutiert, um zu schauen, ob sie mit einem Bürgersteig d’accord wären. Vielerorts gibt es dagegen nämlich Widerstand. Ich habe dann sehr energisch gesagt, dass ich unbedingt einen Bürgersteig haben möchte. Letztendlich war es dann erfolgreich, bei meinem Zuhause und meinem Arbeitsplatz gibt es jetzt einen Bürgersteig. Allerdings sind es nur etwa 100 Meter, oder ein Zebrastreifen um die Straße zu überqueren. Aber es war nicht leicht, das zu erreichen, es hat mehrere Monate gedauert.“
Anders als in Europa, wo sich Verkehrsaktivismus vor allem auf Fahrradinfrastruktur konzentriert, steht in Taiwan Fußgängerinfrastruktur im Vordergrund. Davon gibt es nämlich erschreckend wenig.
”Das größte Problem für Fußgänger in Taiwan ist, dass wir, wenn wir zu Fuß gehen, oft parallel zu den Autos auf der Straße gehen. Wir haben keine physischen Bürgersteige. In Taipeh sind Bürgersteige noch am weitesten verbreitet, aber in ganz Taiwan haben nur etwa 40% der Straßen Bürgersteige. Und bei diesen 40% sind die mit grüner Farbe aufgemalten Bürgersteige schon mit inbegriffen, die überhaupt keine physische Struktur haben.“
Wer schon mal in Taiwan war, weiß wovon sie spricht. Ähnlich den in Deutschland oftmals mit roter Farbe auf Straßen aufgemalten Fahrradwegen, gibt es in Taiwan viele Fußgängerwege, die einfach mit grüner Farbe aufgemalt sind, auf gleicher Höhe wie die Straße. Eine Bordsteinkante oder andere physische Abgrenzung gibt es in dem Fall nicht.
”Und dann steht da „Bürgersteig“, aber es ist nur mit grüner Farbe auf die Straße draufgemalt. Wenn man auf diesen Wegen geht, fahren Autos an dir vorbei, manchmal parken auch Autos illegalerweise auf dem Gehweg. Das ist ganz anders als im Ausland, in Ländern mit einem normalen Verkehr.“
Das öffentliche Bewusstsein wandelt sich
2023 begann YC dann mit anderen Verkehrsaktivisten und zivilgesellschaftlichen Gruppen, eine Großdemonstration vorzubereiten. Sie erzählt:
“In den drei Monaten in denen ich die Demonstration vorbereitet habe, gab es einige sehr schwere Verkehrsunfälle, die bei den Menschen einen starken Eindruck hinterlassen haben. Zum Beispiel gab es in Tainan ein kleines Mädchen, die bei der Überquerung eines Zebrastreifens mit ihrer Mutter angefahren wurde.”
Der Unfall ereignete sich Anfang Mai – das dreijährige Mädchen verstarb bei dem Vorfall, ihre Mutter wurde schwer verletzt. YC erzählt, dass es nach diesem Vorfall sehr viel Wut in der Bevölkerung gab. Der Vater des Kindes sollte später auf der Demonstration eine Rede halten. Für YC Wu fühlte es sich so an, als gab es in dieser Zeit jeden Tag Nachrichten über einen Verkehrsunfall. In dieser Zeit habe sich auch ein Bewusstsein für Fußgänger entwickelt.
Und auch von der Regierungsseite gab es Aufmerksamkeit. Vor der Demo trafen sich die Organisatoren mit Regierungsvertretern, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln: “Es war eine besondere Gelegenheit, wirklich sich hinzusetzen und zu besprechen, wie man die Politik ändern kann.”
Die Regierung sei durch die öffentliche Meinung gestärkt gewesen, sagt YC: “Ich hatte das Gefühl, die Regierung will etwas machen. In der Vergangenheit hatten sie nicht bemerkt, dass die öffentliche Meinung das will, aber jetzt wo es eine Gruppe Menschen gab, die gesagt haben “Wir wollen Gehwege, wir wollen Rechte für Fußgänger”, da haben sie sich getraut so etwas zu machen.”
Fünf Forderungen für mehr Verkehrssicherheit
Die Organisatoren formulierten anlässlich der Demonstration fünf Forderungen, die auch heute noch gelten:
“Wir hoffen, dass es eine bessere Infrastruktur für Fußgänger gibt. Wir wollen physische Fußgängerwege, das ist wie gesagt das elementarste. Wir wollen Verkehrsinseln! Es gibt Zebrastreifen mit einer Länge von 100 Metern, ohne Verkehrsinseln. Dadurch können viele Unfälle passieren.” erzählt YC. Durch den Bau von Gehsteigvorziehungen wären Fußgänger beim Überqueren der Straße besser sichtbar und würden nicht etwa von parkenden Autos verdeckt.
Die zweite Forderung ist eine Änderung des Verkehrsausbildungssystems: “Wir wollen das Fahrschulsystem verändern.”, sagt YC. “Jeder weiß, dass es in Taiwan sehr einfach ist, einen Führerschein zu bekommen. Man lernt in der Regel erst zu fahren, nachdem man den Führerschein bekommen hat.”
Als drittes wird eine besserer Vollzug von Fußgängerrechten gefordert: dazu gehört das Vorgehen gegen Falschparker und Vorfahrtnehmen. Als viertes sollen Verkehrssicherheitsgesetze modernisiert werden, einschließlich einer landesweiten Standardisierung der Planungsvorschriften. Im Moment scheinen sich Lokalregierungen ihre eigenen Verkehrszeichen auszudenken - so gibt es in Taipei nun Straßenschilder für eine “verkehrsfreundliche Zone” mit Tempo 20. Gleichzeitig eingeführt wurden “Fußgängervorrangzonen” ebenfalls mit Tempo 20. Hier dürfen Fußgänger sogar auf der Fahrbahn laufen. Das dafür eingeführte Verkehrsschild weicht allerdings stark vom internationalen Standard ab.
Die fünfte Forderung ist wohl die wichtigste: “Wir hoffen auch, “Vision Zero” zu verwirklichen.", sagt YC. "Wir sind zwanzig, dreißig Jahre später dran als Schweden, die haben dort 1997 angefangen. Aber es ist nie zu spät anzufangen.”
Vision Zero kommt, wie YC sagt, ursprünglich aus Schweden. In den Worten von Claes Tingvall, der während seiner Zeit als Verkehrssicherheitsdirektor der Schwedischen Verkehrsbehörde einer der Initiatoren von Vision Zero war:
„Bei Vision Zero ging es wirklich darum zu sagen, dass es nicht darum geht, zwischen Mobilität oder Leben oder Gesundheit oder Umwelt oder Lärm oder was auch immer zu wählen. Es geht wirklich darum, dass wir alles haben wollen. Wir wollen keine Menschen umbringen, bloss weil wir Mobilität wollen. Andererseits wollen wir natürlich trotzdem Mobilität für alle. Wir wollen eine sichere Mobilität, für ältere Menschen, für Kinder, für jeden in der Gemeinschaft.
Aber wir wollen auch eine lebenswerte Stadt in Bezug auf Umweltverschmutzung, Lärm und so weiter. Und ich glaube, dass wir als Menschen heute nicht mehr bereit sind, eine Sache für einen anderen Nutzen zu opfern.”
Einfach auf Deutsch zusammengefasst wird die Vision auch als: “Niemand kommt um, alle kommen an”. Vision Zero sieht die Verantwortung für Unfälle nicht alleine bei den Verkehrsteilnehmern, sondern auch bei den Verkehrsplanern.
Neue Aktionsformen
Seit 2023 haben YC Wu und Vision Zero Taiwan keine Großdemonstration mehr organisiert, sondern fokussiert sich auf andere Aktionsformen.
“Mit einer Demonstration erregt man die Aufmerksamkeit der Menschen. Im Internet haben viele Menschen gesagt, die Demonstration 2023 war der Anfangspunkt der Fußgängerrechte in Taiwan. In dem Jahr wurde auch das Verkehrssicherheitsgesetz verabschiedet, und in den Medien wurde es auch als das erste Jahr der Fußgängersicherheit bezeichnet, das macht mich sehr stolz. Aber ja, ich denke, es ist wichtiger, weiterzumachen und sich langfristig zu engagieren. Man kann sich nicht nur auf eine einzige Demo verlassen, und jedes Jahr eine Demo organisieren.“
Stattdessen organisiert Vision Zero kleinere “Fußgänger Festivals” in unterschiedlichen Städten Taiwans, um auf die Interessen von Fußgängern aufmerksam zu machen. Auf Social Media nehmen sie regelmäßig Stellung zu verkehrspolitischen Diskussionen.
Außerdem haben sie die Übersetzung eines japanischen Buches über die Verkehrswende in Auftrag gegeben und über Crowdfunding finanziert. “Die Hegemony des Autos” (車輛霸權) erschien im vergangenen Oktober.
Seit der Demonstration hat es einige Änderungen gegeben. Noch im selben Jahr, am 1. Dezember 2023 wurde ein Verkehrssicherheitsgesetz verabschiedet, welches die Vision Zero offiziell gesetzlich festschrieb. “Das hat mich sehr bewegt. Sie haben das Ziel von null Verkehrstoten in den ersten Paragrafen gepackt.”, sagt YC.
Gleichzeitig garantiert die Festschreibung als Ziel noch nicht die erfolgreiche Umsetzung. YC findet es noch zu früh, um den Erfolg der Politik zu bewerten: “Erst wird jetzt erst seit ein, zwei Jahren vorangetrieben. Wir können noch nicht genau sehen, ob die Verbesserungen gut sein werden.”
Sie selbst ist jedoch zuversichtlich: “Ich bin sehr hoffnungsvoll, weil ich glaube, dass diese Idee in Taiwan bereits Wurzeln geschlagen hat”
Benedict Kroll: Roller-Führerscheinprüfung in Taiwan
Ist Taiwan eine Hölle für Fußgänger?
By Juliane Miller, RtiGebt die Straße den Bürgern zurück!, rufen die Demonstranten. Es ist der 20. August 2023. Trotz des starken Regens sind zehntausende Menschen zusammen auf den Straßen Taipeis – gemeinsam fordern sie Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit, in einem Land das auch als “Fußgängerhölle” bezeichnet wird. Auch die Präsidentschaftskandidaten Hou Yu-ih (侯友宜), Ko Wen-je (柯文哲) und Lai Ching-te (賴清德) sind gekommen – es sind noch 5 Monate bis zur Präsidentschaftswahl.
Das Thema Verkehrssicherheit erhitzt in Taiwan die Gemüter. Ende 2022 veröffentlichte der Amerikanische Fernsehsender CNN einen Artikel mit der Schlagzeile “Taiwan’s ‘living hell’ traffic is a tourism problem, say critics” – die Taiwanische “Verkehrshölle” sei Kritikern zufolge ein Problem für den Tourismus. Der Artikel machte den Begriff der “Fußgängerhölle” (行人地獄) auch im Ausland bekannt. Die Berichterstattung von CNN erhöhte den Handlungsdruck auf die taiwanische Regierung und wurde auch von taiwanischen Medien weiter aufgegriffen.
Ich habe mit YC Wu (吳宜蒨), einer der Initiatorinnen der Großdemonstration, gesprochen – darüber, wie sie zur Verkehrssicherheitsaktivistin wurde, mit welchen Problemen Fußgänger in Taiwan konfrontiert sind, und welche verkehrspolitischen Änderungen taiwanische Fußgängeraktivisten fordern.
Unfälle sind trauriger Teil der Alltags
Auf der website roadsafety.tw veröffentlicht das Taiwanische Verkehrsministerium aktuelle Statistiken zu Verkehrstoten in Taiwan. Im Jahr 2024 starben 366 Fussgänger in Taiwan, insgesamt gab es fast 3000 Verkehrstote. Sowohl was die Zahl der getöteten Fußgänger als auch die Gesamtzahl der Verkehrstoten angeht, sind Deutschland und Taiwan etwa gleich auf – dabei hat Deutschland dreieinhalb mal so viele Einwohner wie Taiwan.
Viele Familien in Taiwan haben Verwandte die im Strassenverkehr starben oder schwer verletzt wurden, darunter auch YC Wu: “Mein Vater wurde von einem betrunkenen Fahrer überfahren, woraufhin er verstarb. Meine Tante, als sie sehr jung war, im Alter von etwa 17, 18 Jahren, saß sie hinten auf dem Motorroller eines Freundes, sie fuhren zu schnell glaube ich… Jetzt ist sie deshalb körperlich schwerbehindert. Ich selbst hatte auch einen schweren Verkehrsunfall.”
Bei einem Motorradunfall erlitt sie einen Knochenbruch und hatte fortan eine Stahlstange im Bein. Später wurde sie als Fußgängerin von einem Auto angefahren – dieses Mal ohne Knochenbruch, dafür aber entwickelte sie eine posttraumatische Belastungsstörung. Und auch schon als Kind wurde sie beim Fahrradfahren von sich öffnenden Autotüren getroffen. Mit solchen Erfahrungen ist sie nicht alleine: “Für Taiwaner ist das eine traurige kollektive Erinnerung"
Vor Ort etwas verändern
Ich habe YC Wu zum ersten Mal Anfang 2024 getroffen, auf einer Veranstaltung auf der sie erzählte, wie sie sich auf lokaler Ebene für bessere Fußgängerinfrastruktur in der Nähe ihres Zuhauses und ihrer Arbeit eingesetzt hat. Seither ist nicht wenig passiert; mit einigen Mitstreitern hat sie den Verein Vision Zero Taiwan gegründet, der sich nach schwedischem Vorbild für das Ziel von null Verkehrstoten einsetzt. Auch darüber wollte ich mit ihr sprechen.
Unser Interview findet an einem Dienstagabend statt, YC kommt direkt von der Arbeit. Sie hat eine Vollzeitstelle als Projektleiterin an einer taiwanischen Universität, im Master hat sie Kommunikationswissenschaft studiert. Ihre aktivistische Tätigkeit hat allerdings im Kleinen angefangen.
“Natürlich habe ich nicht damit angefangen, eine gesellschaftliche Bewegung zu starten, beziehungsweise diese große Demo zu organisieren. Zunächst habe ich einfach dort angefangen, wo ich wohne und wo ich arbeite. Schließlich ist das, wo ich am deutlichsten bemerke, welche Stellen nicht sicher sind.“
YC schrieb einen Post auf facebook, in dem sie die zuständigen Volksvertreter taggte. Sie beschrieb ihre Erfahrungen im Verkehr und fügte Fotos und Videos dazu.
“Ich habe das sehr klar beschrieben und auch geschrieben, wie man es verbessern kann. Ich habe es dann gepostet, in der Hoffnung die Aufmerksamkeit der Volksvertreter zu erregen. Ich poste oft online und habe auch viele Follower. Die Volksvertreter haben diese Sache dann bemerkt. Wir sind dann gemeinsam zu diesen Straßen gegangen und haben geschaut, wo das Problem liegt.
Ich habe meine Vorschläge dann an sie übergeben. Sie haben dann entsprechend mit den Verantwortlichen vor Ort, den Ortsvorstehern, der Polizei, den Anwohnern und so weiter gemeinsam diskutiert, um zu schauen, ob sie mit einem Bürgersteig d’accord wären. Vielerorts gibt es dagegen nämlich Widerstand. Ich habe dann sehr energisch gesagt, dass ich unbedingt einen Bürgersteig haben möchte. Letztendlich war es dann erfolgreich, bei meinem Zuhause und meinem Arbeitsplatz gibt es jetzt einen Bürgersteig. Allerdings sind es nur etwa 100 Meter, oder ein Zebrastreifen um die Straße zu überqueren. Aber es war nicht leicht, das zu erreichen, es hat mehrere Monate gedauert.“
Anders als in Europa, wo sich Verkehrsaktivismus vor allem auf Fahrradinfrastruktur konzentriert, steht in Taiwan Fußgängerinfrastruktur im Vordergrund. Davon gibt es nämlich erschreckend wenig.
”Das größte Problem für Fußgänger in Taiwan ist, dass wir, wenn wir zu Fuß gehen, oft parallel zu den Autos auf der Straße gehen. Wir haben keine physischen Bürgersteige. In Taipeh sind Bürgersteige noch am weitesten verbreitet, aber in ganz Taiwan haben nur etwa 40% der Straßen Bürgersteige. Und bei diesen 40% sind die mit grüner Farbe aufgemalten Bürgersteige schon mit inbegriffen, die überhaupt keine physische Struktur haben.“
Wer schon mal in Taiwan war, weiß wovon sie spricht. Ähnlich den in Deutschland oftmals mit roter Farbe auf Straßen aufgemalten Fahrradwegen, gibt es in Taiwan viele Fußgängerwege, die einfach mit grüner Farbe aufgemalt sind, auf gleicher Höhe wie die Straße. Eine Bordsteinkante oder andere physische Abgrenzung gibt es in dem Fall nicht.
”Und dann steht da „Bürgersteig“, aber es ist nur mit grüner Farbe auf die Straße draufgemalt. Wenn man auf diesen Wegen geht, fahren Autos an dir vorbei, manchmal parken auch Autos illegalerweise auf dem Gehweg. Das ist ganz anders als im Ausland, in Ländern mit einem normalen Verkehr.“
Das öffentliche Bewusstsein wandelt sich
2023 begann YC dann mit anderen Verkehrsaktivisten und zivilgesellschaftlichen Gruppen, eine Großdemonstration vorzubereiten. Sie erzählt:
“In den drei Monaten in denen ich die Demonstration vorbereitet habe, gab es einige sehr schwere Verkehrsunfälle, die bei den Menschen einen starken Eindruck hinterlassen haben. Zum Beispiel gab es in Tainan ein kleines Mädchen, die bei der Überquerung eines Zebrastreifens mit ihrer Mutter angefahren wurde.”
Der Unfall ereignete sich Anfang Mai – das dreijährige Mädchen verstarb bei dem Vorfall, ihre Mutter wurde schwer verletzt. YC erzählt, dass es nach diesem Vorfall sehr viel Wut in der Bevölkerung gab. Der Vater des Kindes sollte später auf der Demonstration eine Rede halten. Für YC Wu fühlte es sich so an, als gab es in dieser Zeit jeden Tag Nachrichten über einen Verkehrsunfall. In dieser Zeit habe sich auch ein Bewusstsein für Fußgänger entwickelt.
Und auch von der Regierungsseite gab es Aufmerksamkeit. Vor der Demo trafen sich die Organisatoren mit Regierungsvertretern, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln: “Es war eine besondere Gelegenheit, wirklich sich hinzusetzen und zu besprechen, wie man die Politik ändern kann.”
Die Regierung sei durch die öffentliche Meinung gestärkt gewesen, sagt YC: “Ich hatte das Gefühl, die Regierung will etwas machen. In der Vergangenheit hatten sie nicht bemerkt, dass die öffentliche Meinung das will, aber jetzt wo es eine Gruppe Menschen gab, die gesagt haben “Wir wollen Gehwege, wir wollen Rechte für Fußgänger”, da haben sie sich getraut so etwas zu machen.”
Fünf Forderungen für mehr Verkehrssicherheit
Die Organisatoren formulierten anlässlich der Demonstration fünf Forderungen, die auch heute noch gelten:
“Wir hoffen, dass es eine bessere Infrastruktur für Fußgänger gibt. Wir wollen physische Fußgängerwege, das ist wie gesagt das elementarste. Wir wollen Verkehrsinseln! Es gibt Zebrastreifen mit einer Länge von 100 Metern, ohne Verkehrsinseln. Dadurch können viele Unfälle passieren.” erzählt YC. Durch den Bau von Gehsteigvorziehungen wären Fußgänger beim Überqueren der Straße besser sichtbar und würden nicht etwa von parkenden Autos verdeckt.
Die zweite Forderung ist eine Änderung des Verkehrsausbildungssystems: “Wir wollen das Fahrschulsystem verändern.”, sagt YC. “Jeder weiß, dass es in Taiwan sehr einfach ist, einen Führerschein zu bekommen. Man lernt in der Regel erst zu fahren, nachdem man den Führerschein bekommen hat.”
Als drittes wird eine besserer Vollzug von Fußgängerrechten gefordert: dazu gehört das Vorgehen gegen Falschparker und Vorfahrtnehmen. Als viertes sollen Verkehrssicherheitsgesetze modernisiert werden, einschließlich einer landesweiten Standardisierung der Planungsvorschriften. Im Moment scheinen sich Lokalregierungen ihre eigenen Verkehrszeichen auszudenken - so gibt es in Taipei nun Straßenschilder für eine “verkehrsfreundliche Zone” mit Tempo 20. Gleichzeitig eingeführt wurden “Fußgängervorrangzonen” ebenfalls mit Tempo 20. Hier dürfen Fußgänger sogar auf der Fahrbahn laufen. Das dafür eingeführte Verkehrsschild weicht allerdings stark vom internationalen Standard ab.
Die fünfte Forderung ist wohl die wichtigste: “Wir hoffen auch, “Vision Zero” zu verwirklichen.", sagt YC. "Wir sind zwanzig, dreißig Jahre später dran als Schweden, die haben dort 1997 angefangen. Aber es ist nie zu spät anzufangen.”
Vision Zero kommt, wie YC sagt, ursprünglich aus Schweden. In den Worten von Claes Tingvall, der während seiner Zeit als Verkehrssicherheitsdirektor der Schwedischen Verkehrsbehörde einer der Initiatoren von Vision Zero war:
„Bei Vision Zero ging es wirklich darum zu sagen, dass es nicht darum geht, zwischen Mobilität oder Leben oder Gesundheit oder Umwelt oder Lärm oder was auch immer zu wählen. Es geht wirklich darum, dass wir alles haben wollen. Wir wollen keine Menschen umbringen, bloss weil wir Mobilität wollen. Andererseits wollen wir natürlich trotzdem Mobilität für alle. Wir wollen eine sichere Mobilität, für ältere Menschen, für Kinder, für jeden in der Gemeinschaft.
Aber wir wollen auch eine lebenswerte Stadt in Bezug auf Umweltverschmutzung, Lärm und so weiter. Und ich glaube, dass wir als Menschen heute nicht mehr bereit sind, eine Sache für einen anderen Nutzen zu opfern.”
Einfach auf Deutsch zusammengefasst wird die Vision auch als: “Niemand kommt um, alle kommen an”. Vision Zero sieht die Verantwortung für Unfälle nicht alleine bei den Verkehrsteilnehmern, sondern auch bei den Verkehrsplanern.
Neue Aktionsformen
Seit 2023 haben YC Wu und Vision Zero Taiwan keine Großdemonstration mehr organisiert, sondern fokussiert sich auf andere Aktionsformen.
“Mit einer Demonstration erregt man die Aufmerksamkeit der Menschen. Im Internet haben viele Menschen gesagt, die Demonstration 2023 war der Anfangspunkt der Fußgängerrechte in Taiwan. In dem Jahr wurde auch das Verkehrssicherheitsgesetz verabschiedet, und in den Medien wurde es auch als das erste Jahr der Fußgängersicherheit bezeichnet, das macht mich sehr stolz. Aber ja, ich denke, es ist wichtiger, weiterzumachen und sich langfristig zu engagieren. Man kann sich nicht nur auf eine einzige Demo verlassen, und jedes Jahr eine Demo organisieren.“
Stattdessen organisiert Vision Zero kleinere “Fußgänger Festivals” in unterschiedlichen Städten Taiwans, um auf die Interessen von Fußgängern aufmerksam zu machen. Auf Social Media nehmen sie regelmäßig Stellung zu verkehrspolitischen Diskussionen.
Außerdem haben sie die Übersetzung eines japanischen Buches über die Verkehrswende in Auftrag gegeben und über Crowdfunding finanziert. “Die Hegemony des Autos” (車輛霸權) erschien im vergangenen Oktober.
Seit der Demonstration hat es einige Änderungen gegeben. Noch im selben Jahr, am 1. Dezember 2023 wurde ein Verkehrssicherheitsgesetz verabschiedet, welches die Vision Zero offiziell gesetzlich festschrieb. “Das hat mich sehr bewegt. Sie haben das Ziel von null Verkehrstoten in den ersten Paragrafen gepackt.”, sagt YC.
Gleichzeitig garantiert die Festschreibung als Ziel noch nicht die erfolgreiche Umsetzung. YC findet es noch zu früh, um den Erfolg der Politik zu bewerten: “Erst wird jetzt erst seit ein, zwei Jahren vorangetrieben. Wir können noch nicht genau sehen, ob die Verbesserungen gut sein werden.”
Sie selbst ist jedoch zuversichtlich: “Ich bin sehr hoffnungsvoll, weil ich glaube, dass diese Idee in Taiwan bereits Wurzeln geschlagen hat”
Benedict Kroll: Roller-Führerscheinprüfung in Taiwan
Ist Taiwan eine Hölle für Fußgänger?