Ein Standpunkt von Roland Rottenfußer.
In einem Vortrag erklärt der Künstler und Buchautor Raymond Unger, wie eingebildete Handlungsoptionen in der Klimafrage zu Hypermoralismus führen.
Sich schuldig fühlen — das ist eigentlich eine unangenehme Sache. Man sollte annehmen, dass Menschen versuchen, dieses Gefühl möglichst zu vermeiden. Manchmal hat man jedoch den Eindruck, dass viele Zeitgenossen sich geradezu darum reißen, Schuld zu übernehmen. Ob es die mit Corona-Patienten überfüllte Intensivstation ist, der hilflos auf einer Eisscholle treibende Eisbär, ob es das Leid der ukrainischen Bevölkerung ist oder das der Opfer lange zurückliegender Taten der Nazis — immer bin „ich“ es, der sich dafür verantwortlich zu fühlen hat. Wo ich nicht selbst der Täter war, habe ich die Tat vielleicht zugelassen — oder ich gehöre einem Täterkollektiv an. Speziell innerhalb des Lagers, das sich grün, links oder woke nennt, ist geradezu eine Art Schuldhabsucht festzustellen. Zu tun hat dies auch mit der speziellen seelischen Prägung der Babyboomer-Generation. In unserer Kindheit lernen wir leider eine Menge nutzloser und schädlicher Dinge: sich minderwertig fühlen, übermäßige Identifikation mit Autoritäten oder angemaßte Handlungsoptionen, die wir in Wahrheit gar nicht haben. Mit der jetzt dominierenden Generation wurde ein kollektives psychisches Störungsmuster nun auch politisch zum Problem. Denn natürlich wollen Nachkriegskinder jene Schuldgefühle, die sie ohne wirkliche Notwendigkeit auf sich genommen haben, irgendwann auch wieder loswerden. So werden sie zu Hypermoralisten, zu Chefanklägern ihrer Mitmenschen. In einem öffentlichen Vortrag legte Raymond Unger diese destruktive Psychodynamik bloß. Wer sie versteht, wird künftig nicht mehr so leicht zu manipulieren sein.
„Ganz ehrlich, so’n richtiger Mutmacher bin ich eigentlich nicht“, sagte Raymond Unger aus Anlass seiner Einladung zu einer Vortragsreihe unter dem Titel „Narrative der Mutmacher in Kloster Zinn“ am 1. Oktober 2023. Allerdings ist Unger einer, der die dunklen Flecken der kollektiven Psyche so einleuchtend darstellt, dass allein diese Erkenntnishelle uns Zuhörern das Gefühl gibt, dass die Menschheit noch nicht verloren ist. Unger gehört wahrscheinlich zu den besten Sachbuchautoren der letzten, der dunklen Jahre, und er lief infolge der sich überlagernden Krisen — Flüchtlinge, Corona, Klima … — erst zu seiner vollen Form auf. Immer verstand er es glänzend, Persönlich-Biografisches mit Sachinformationen, Politik mit Psychologie sowie Elementen der Philosophie, der Kulturgeschichte sowie der Wissenschaft zu vermischen. „Nebenbei“ ist Raymond Unger ein erfolgreicher Maler, der in der Berliner Kulturszene auch durch vermischte Events — Ausstellungen mit musikalischen Darbietungen anderer Künstler — von sich reden machte. Damit aktivierte Unger natürlich auch die Diffamierungsmaschinerie politischer Glaubenskrieger gegen sich.
Auch bei seinem Auftritt in Kloster Zinn beginnt Raymond Unger mit einem persönlichen Statement. Er sei ein „klassischer Babyboomer“ und hätte daher mit transgenerationalen Kriegstraumata zu kämpfen gehabt. Bald aber kommt der Autor der Sachbücher „Der Verlust der Freiheit“ und „Die Heldenreise des Künstlers“ auf die politische Situation zu sprechen: „Diese Gesellschaft wird aktiv manipuliert und vorsätzlich angegriffen im Sinne des Freiheitsabbaus.“ Dieser Angriff erfolge vorsätzlich. Wichtig sei es dabei aber, den Fokus auf jene zu lenken, die diesen Freiheitsabbau mit sich geschehen lassen, also auf fast alle von uns. Zu fragen sei also: „Wer wird angegriffen? Wie reif ist diese Gesellschaft? Warum funktionieren bestimmte Angstnarrative im Westen so gut und speziell in Deutschland?“ Hierzu zitiert Unter eine Studie der Universität Oxford. Demnach habe Deutschland die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemiebekämpfung von allen Staaten, die untersucht wurden, am mustergültigsten erfüllt.