<p><em>Maria gebar ihren Sohn in einem Stall
zwischen Ochs und Esel.</em></p>
Ja, so haben wir es immer wieder in Krippenspielen und auf Bildern gesehen, in Liedern gehört, gerne auch zur kitschigen Idylle verklärt. So muss es ja wohl gewesen sein, oder?
Vielleicht ist manchen schon aufgefallen, dass die Weihnachtsgeschichte gar keinen Ochsen erwähnt, aber wer merkt schon, dass nicht einmal von einem Stall die Rede ist?
Maria gebar ihren Sohn in einem Stall
zwischen Ochs und Esel.
Sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Lukas 2,7
Ja, von einer Krippe ist die Rede, doch Historiker und Archäologen zeigen auf, dass damals die meisten Menschen nur wenige Tiere oder auch nur ein einziges besaßen, die sie dann nicht in einem Stall, sondern in einem Anbau des Hauses hielten. Viele Häuser hatten die Krippe in einem Durchbruch zu diesem Anbau, so dass sie vom Haus aus gefüllt werden konnte (und die Körperwärme der Tiere das Haus wärmte). Und das griechische Wort, das Luther hier mit Herberge übersetzt, beschreibt an anderer Stelle keinen Beherbergungsbetrieb, sondern den Raum, in dem das Abendmahl gefeiert wurde.
Es könnte also durchaus sein, dass das Heilige Paar gar nicht nach vergeblicher Herbergssuche in einem Stall gelandet ist, sondern vielleicht seine Unterkunft in einem Raum bei Verwandten von Josef hatte, wo die Krippe eben der beste Platz für das Neugeborene war. Zugegeben, auch das ist Spekulation, aber nicht unbedingt unwahrscheinlicher als die Stall-Geschichte.
Glücklicherweise spielt es keine große Rolle, ob es ein Stall war, in dem Jesus geboren worden ist. Drei der vier Evangelisten kennen die Geburtsgeschichte gar nicht oder fanden sie nicht wichtig genug, um sie aufzuschreiben. Und ich möchte auch niemandem diese liebgewordene Vorstellung verderben.
Doch dieser Fall führt vor Augen, dass es selbst bei einem der bekanntesten Texte der Bibel passieren kann, dass wir eine so feste Vorstellung haben, dass wir die Stelle immer wieder hören oder lesen können ohne zu merken, dass es dort gar nicht so steht. Während das in diesem Fall recht egal ist, könnten wir an anderen Stellen etwas wichtiges verpassen, wenn wir beim Lesen die Bibel an unsere Vorstellung anpassen anstatt umgekehrt.
Ich möchte in vielen Beispielen hinterfragen, wie Bibeltexte manchmal verstanden werden, möchte festgefahrene Denkmuster aufbrechen, falsche Erwartungen entlarven und Missverständnisse aufdecken.
Nicht, weil ich es besser wüsste oder die einzig wahre Deutung kenne. Ich möchte nur zum genauen Lesen ermutigen, zum Ernstnehmen der Texte, zum Mitdenken und zum Weiterdenken. Das kann im ersten Moment verunsichern, aber später neue Erkenntnisse und tiefere Sicherheiten schenken.
Wenn jemand sich über manches empört, nehme ich das in Kauf. Wenn jemand ab und zu schmunzelt, ist es mir recht. Wenn jemand stutzt und Bibelstellen nachschlägt, freue ich mich. Wenn Neugierde und Liebe zur Bibel geweckt werden oder sich die Freude am Bibellesen erneuert, habe ich mein Ziel erreicht.
Nur bitte ich, dass niemand die Stellen mit anderen Bibelstellen leichtfertig beiseite wischt oder umdeutet. Das wird wohl meistens gelingen, doch ihre Kraft entfaltet die Bibel dort, wo sie nicht das bestätigt, was wir ohnehin schon dachten, sondern wo sie uns herausfordert und verändert.
Ich lade ein, sich darauf einzulassen.