Ein Kommentar von Anselm Lenz.
Nach traumloser Nacht erwache ich noch vor dem Morgengrauen. Das Blumenviertel liegt ganz still, fast totenstill, als wäre aus Berlin die Lebensfreude ganz entwichen.
Anders am Abend zuvor! Ich war beim Montagsspaziergang gewesen, der an unserer Berliner Gethsemanekirche beginnt, durch unseren Bezirk zieht und wieder an der Gethsemanekirche endet. (1) Die Gesichter des Abends scheinen mir nochmal auf, die vielen Gespräche, der Trompeter, Christian, an den ich mich hängte, um im Windschatten seines geschobenen Fahrrades Zeitungen zu verteilen (2), am Rande des Demonstrationszuges an die Passanten. Vor meinem inneren Auge ziehen die Rednerinnen nochmal vorbei, wie in einem langsam fahrenden Karussel. Das kenne ich schon. So erwache ich fast immer am Morgen nach Demonstrationen.
Auch diesmal bleibt ein Gesicht auf dem Karussell vor dem inneren Auge stehen. Es ist der Mann mit der blauen Kappe. In meiner Vorstellung, noch im Halbzustand zwischen dem Schlaf und dem Wachsein, spricht der Kopf wieder seinen Text vom Abend. Er stellt mir seine Fragen, die eher Antworten sind, fast Anweisungen. Im Wesentlichen zu Parteien und deren Entwicklung. Zu meinen Prognosen, und wie ich mir die Revolution so vorstelle, fragt er dann. Ich sage: »Die Revolution findet bereits statt, fragen Sie Joseph Beuys, und sie wird nicht mehr aufzuhalten sein!« Für ihn ist die Revolution der Wahlsieg anderer Parteien, als jene, die gerade die Mehrheit der Abgeordneten stellen.
Seit 28. März 2020 habe ich an rund 450 Demonstrationen und Spaziergängen teilgenommen, seit dem Sommer 2020 meist nach vorheriger Einladung. Teils mit über 1,3 Millionen Teilnehmern wie am 1. August 2020, manchmal nur mit einigen Dutzend. Am Montag, 14. November 2022, war ich einfach so hinzugekommen, spontan. Ein sehr angenehmer Vorgang.
Ich musste den Mann mit der blauen Kappe leider enttäuschen. So geht das leider nicht. Der Apparat ist derart vermachtet und fremdbestimmt, dass ein Wechsel der Regierungsmehrheit keine Veränderung der vermeintlich alternativlosen Politik bedeutet. Es bedeutete doch nur einen Wechsel des Reigens an den mafiösen Futtertrögen des Apparates. Die Arbeitsteilung geht seit drei Jahrzehnten so, dass »Progressive«, also »Linke«, in den Krieg ziehen müssen, um »Progress«, um »Expansion«, um Fortschritt mit Stiefeln auf dem Grund zu erlangen und Beute zu machen; und »Konservative«, also »Rechte«, die Hartz-Sätze um ein paar Groschen erhöhen dürfen, um den Apparat bis zum nächsten Beutezug vor inneren Unruhen zu bewahren.
Ja, Revolution, aber
Ja, Revolution, aber ob ich denn mit einem Kompromiss zufrieden sein könne? Dem Ende des massenmörderischen Spritzenregimes zum Beispiel, um mich mit dem Apparat wieder anzufreunden. Als ich ihm sage, dass dies das absolute innenpolitische Minimalziel wäre, um unsere ungespritzten Kinder und Mitmenschen zu retten, um das Menschengeschlecht insgesamt zu bewahren, ist er schon zufrieden. Er verlässt den Demonstrationszug und zieht von dannen.
Ich rauche eine West Light (3) auf dem kleinen Balkon, die Kinder werden bald aufwachen. Dann scheint mir der Mann nochmal auf. Die Lichtstimmung über Berlin hat sich verändert. Die Stadt schläft, aber aus Osten blickt schon ein schwaches Licht. Diese Figur, etwa Anfang Fünfzig, heller Mantel, blaue Kappe. Wir, Millionen von Menschen in unserem Land, die wir seit zweieinhalb Jahren im Kampfe sind, wir haben mittlerweile eine besondere Verbindung, einen eigenen Stallgeruch; ganz gleich, wie wir aussehen, wie wir uns kleiden, wo wir herkommen.
Wir sind ganz unterschiedliche Körper, wir sehen ganz anders aus, aber wir haben alle Hunderte von Kilometern von Spaziergängen in den Knochen, die Millionendemonstrationen in Berlin, die »20.000«, die totalitäre Polizeigewalt der Jahre 2020 und 2021. Die furchtbare Justiz, den täglichen Ärger mit dem Terrorregime. Den täglichen Kampf gegen die Lüge,