Ein Standpunkt von Wolfgang Effenberger.
Am 22. Juni 2022 im Bundestag(1) und sechs Tage später in seiner Abschlussrede auf dem Ende des G7-Gipfels in Elmau forderte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz fast gebetsmühlenartig einen Marshallplan für die die Ukraine.(2) Gemeinsam mit der EU solle eine entsprechende internationale Konferenz mit Experten und Wissenschaftlerinnen organisiert und ein umfassendes Konzept zum Wiederaufbau entwickelt werden. Damit erweckt Scholz den Eindruck, dass der vormalige Marshallplan ein karitatives Unternehmen gewesen sei. Olaf Scholz ist Jahrgang 1958 und könnte sich noch an ähnliche Bilder aus seiner Kindheit erinnern.
Zumindest aber an entsprechende werbewirksame Darstellungen in den Schulbüchern.
Dieses von den USA nach 1945 geförderte Narrativ ist nicht unbedingt hilfreich für die Bewältigung der gegenwärtigen Probleme. Um eine zukunftsweisende, den Frieden fördernde Initiative anzustoßen, ist es notwendig, alle Motive zu kennen.
Was wollten die USA 1947 mit dem European-Rescue-Program (ERP) bezwecken?
Am 5. Juni 1947 hielt der ehemalige Generalstabschef der USA (seit 1. September 1939 (!) und nunmehrige Außenminister George Marshall an der Harvard Universität vor Veteranen(3) des 2. Weltkriegs eine weltweit Aufsehen erregende Abschlussrede, die die Welt verändern sollte. In dieser 12-minütigen Rede betonte Marshall, der in seiner militärischen Laufbahn überwiegend mit Kriegsplanungen beschäftigt war, dass der Krieg angesichts der sowjetischen Aggression nicht wirklich vorbei sei und dass das bedrohte Europa "erhebliche zusätzliche Hilfe erhalten muss, sonst droht ihm der wirtschaftliche, soziale und politische Verfall".(4)
Der Handschlag von Torgau an der Elbe war schnell vergessen, und die gerade noch verbündete Sowjetunion wurde zum Reich des Bösen erklärt – der sich anbahnende Kalte Krieg warf die ersten Schatten voraus.(5)
Dass die Sowjetunion die Masse ihrer 12 Millionen Soldaten weiter unter Waffen hielt, während die USA das Gros ihrer 11,5 Millionen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg sofort in die Heimat zurückschickten, war für die US-Falken ein willkommener Anlass, ihr böse Absichten zu unterstellen. Allerdings war in den USA die Industrie nicht zerstört, vielmehr boomte sie auf hohem Niveau, und man brauchte die Arbeitskräfte. Ganz anders in der Sowjetunion: Dort hatte der Krieg große Landstriche verheert und die Industrie bis zum Ural schwer in Mitleidenschaft gezogen. Daher fehlten flächendeckend Unterbringungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze, sowohl für die Soldaten als auch für die Bevölkerung.
Marshall, der Präsident Delano Roosevelt während des zweiten Weltkriegs in demutsvoller Ergebenheit gedient hatte, handelte nicht eigenständig und schon gar nicht als Altruist. Er war zeitlebens Soldat, der nur eine Aufgabe sah: Amerika zu dienen.
So steht Marshalls Rede in direktem Zusammenhang mit der Erklärung von Präsident Harry S. Truman, der am 12. März 1947 vor beiden Häusern des Kongresses verkündet hatte: „Wir können keine Veränderungen des Status quo erlauben, die durch Zwangsmethoden oder Tricks wie die politische Infiltration unter Verletzung der Charta der Vereinten Nationen erfolgen. Wenn sie freien und unabhängigen Nationen helfen, ihre Freiheit zu bewahren, verwirklichen die Vereinigten Staaten die Prinzipien der Vereinten Nationen. Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden in der Welt und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation.“(6)
Bereits im Oktober 1945 hatte Truman General Eisenhower beauftragt, einen hypothetischen Plan für einen umfassenden Krieg gegen die Sowjetunion auszuarbeiten. Mit der "Operation Totality" sollten mit einem Schlag 20 wichtige Städte (Moskau, Leningrad, Swerdlowsk, Tiflis, ...) ausradiert werden.(7)