Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.
Auf dem World Economic Forum Ende Mai 2022 verwendete der schweizerische Bundespräsident Ignazio Cassis erstmals den Begriff der "kooperativen Neutralität".1) Was versteckt sich hinter dieser zunächst doch wohlklingenden Begriffsschöpfung? Nach den Empfehlungen für ein "Update der Schweizer Neutralität" des Autorenteams um Carl Jauslin wird darunter eine auf Partnerschaft basierende werteorientierte Neutralität verstanden. So sollte sich die Schweiz gemeinsam mit ihren europäischen Partnern für Frieden, Demokratie und Menschenrechte einsetzen und Völkerrechtsverletzungen öffentlich und proaktiv aufs Schärfste verurteilen, die internationale Strafjustiz und Ermittlung- und Untersuchungskommissionen im Kampf gegen die Straflosigkeit fördern, Wirtschaftssanktionen der UNO, der OSZE und der wichtigsten Handelspartner (EU) übernehmen und wo angezeigt und effektiv, selbstständig Sanktionen ergreifen.2)
Im September 2017 wurde der Schweizer Ignazio Daniele Giovanni Cassis von der Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat gewählt. Als Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zeichnete ihn verständnisvolle Nähe zur USA/NATO/EU aus. Unter ihm mutierte die aktive Neutralitätspolitik zur "kooperativen" Neutralitätspolitik.
Am 8. Dezember 2021 wurde er zum Schweizer Bundespräsidenten gewählt. In seiner Antrittsrede als Bundepräsident betonte Cassis, dass er als Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) stets die Verbindung zwischen Innenpolitik und Außenpolitik betont habe und nun diese Verknüpfung noch deutlicher machen werde.3) Der endgültige Paradigmenwechsel erfolgte mit der kritiklosen Übernahme der EU-Wirtschaftsboykotte gegen Russland. Am 9. Juni 2022 wählte die Generalversammlung der UNO mit 187 von 190 Stimmen die Schweiz in den Sicherheitsrat. Auf den ersten Blick ein starkes Zeichen für das von der Weltgemeinschaft entgegengebrachte Vertrauen welches die Weltgemeinschaft der Schweiz entgegenbringt.
So definierte auch der Bundesrat die Mitgliedschaft im UNO-Sicherheitsrat als zentrales Element des Schwerpunkts "Frieden und Sicherheit" seiner Außenpolitischen Strategie 2020-2023. Die Mitgliedschaft stehe im Einklang mit „dem friedenspolitischen Engagement und den Guten Diensten der Schweiz“. Auch könne so die Schweiz ihr „langjähriges Fachwissen und ihre Glaubwürdigkeit in der friedlichen Streitbeilegung zugunsten der Weltgemeinschaft einbringen“.4)
Wo hat es in den letzten 30 Jahren eine friedliche Streitbeilegung gegeben? Die wichtigste Veto-Macht im Sicherheitsrat sind die USA. Kein Land der Welt hat im 21. Jahrhundert mehr gegen den Geist der Charta der Vereinten Nationen verstoßen: Völkerrechtswidrige Kriege (Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen 2011, Syrien 2012)5) und ebenfalls vom Völkerrecht nicht gedeckte orchestrierte Umstürze (Jugoslawien 2000, Georgien 2003, Ukraine 2004 uvm.) mit Millionen Toten und Vertriebenen.
Zweifelsfrei hat die russische Führung mit dem Einmarsch in die Ukraine das völkerrechtliche Gewaltverbot missachtet und mit dieser Operation Linke und Rechte, Liberale und Konservative, Nationalisten und Globalisten in einer Front vereinigt. Nicht vergessen aber werden darf, dass die USA m März 1999 bei Beginn des Kriegs gegen Jugoslawien/Kosovo mit der neuen NATO-Strategie MC 400/2 die Kriseninterventionsrolle der NATO dauerhaft verankert haben. Seitdem behält sich das Bündnis das Recht vor, auch ohne explizites Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen militärisch zu intervenieren. So wurde dann Serbien 78 Tage und Nächte lang bei entsprechender Feindpropaganda bombardiert. 2001 folgte die Bombardierung und der Einmarsch in Afghanistan. Das einzige Vergehen: Die Taliban hatten nicht schnell genug den Asylanten Osama bin Laden ausgeliefert.6) Es folgten 20 Jahre Krieg und die Zerstörung des Landes.