Du kennst dieses Gefühl: Du sitzt vor einem weißen Blatt, einem leeren Dokument, einem Rohentwurf, der vielleicht dein nächstes großes Projekt werden soll. In deinem Kopf tanzen Ideen wie Glühwürmchen in der Nacht, doch sobald du beginnen willst, lähmt dich eine unsichtbare Hand. Sie flüstert: „Mach es richtig. Mach es perfekt. Mach keine Fehler.“ Und du hörst auf sie. Vielleicht ohne es zu merken. Vielleicht in dem Glauben, das sei die Stimme deines inneren Anspruchs, deiner Disziplin, deiner Professionalität. Doch was wirklich spricht, ist die Angst – fein gekleidet, gepflegt, selbstsicher. Angst in hübschen Schuhen.
Diese Angst gibt sich nicht als das zu erkennen, was sie ist. Sie tarnt sich als „hohe Standards“, als „Qualitätsbewusstsein“, als „Streben nach Exzellenz“. Doch in Wahrheit hält sie dich zurück. Sie will nicht, dass du dich blamierst, dass du scheiterst, dass du verwundbar wirst. Und um dich davon abzuhalten, stellt sie dir das schönste Hindernis in den Weg, das sie kennt: die Perfektion.
Vielleicht wartest du – auf den richtigen Zeitpunkt, das perfekte Setting, das ideale Know-how. Du glaubst, irgendwann wirst du bereit sein. Doch dieser Moment kommt nicht. Und während du wartest, verstreicht Zeit. Du wächst nicht. Du probierst nicht. Du lernst nicht. Denn Fortschritt lebt von Bewegung, von Versuch und Irrtum. Perfektion dagegen lebt von Stillstand.
Schau dich um: Unsere Welt verändert sich schneller als je zuvor. Technologien wie Künstliche Intelligenz, Blockchain oder Neurointerfaces entwickeln sich in Monaten statt Jahren. Die Arbeitswelt ist in einem ständigen Wandel. Klimakrise, soziale Ungleichheit, geopolitische Verschiebungen – alles verlangt nach neuen Antworten, kreativen Ideen, schnellem Handeln. In dieser Welt ist der Wunsch nach Perfektion nicht nur naiv – er ist gefährlich. Wer zu lange plant, verliert den Anschluss. Wer zu lange zögert, wird überholt.
Wenn du wartest, bis deine Idee perfekt ist, hat sie vielleicht längst jemand umgesetzt. Vielleicht schlechter als du es gekonnt hättest – aber eben mit dem Mut zum Unvollkommenen. Fortschritt braucht Mut, nicht Perfektion.
Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass Perfektion das Gleiche ist wie Qualität. Dabei liegt zwischen beidem ein fundamentaler Unterschied. Qualität entsteht durch ständiges Verbessern, durch Feedback, durch Scheitern und Korrigieren. Qualität ist lebendig. Perfektion ist starr.
Denk an Softwareentwicklung: Die besten Produkte starten als Beta-Version. Fehler sind erlaubt, manchmal sogar erwünscht, um daraus zu lernen. Denk an Start-ups: Sie bauen Prototypen, testen, schrauben, scheitern – und wachsen dabei. Denk an Künstler:innen: Ihre Werke entstehen im Prozess, oft mit Skizzen, übermalten Stellen, Bruchlinien.
Auch dein eigenes Leben ist kein fertiges Kunstwerk, sondern ein Entwurf. Und dieser Entwurf wird nie abgeschlossen sein. Das ist keine Schwäche, das ist Freiheit.
Heute leben wir in einer Welt, die den Schein perfekter Ergebnisse glorifiziert. Auf Social Media siehst du erfolgreiche Karrieren, strahlende Gesichter, glatte Biografien. Was du nicht siehst: die Zweifel, das Chaos, die Fehlversuche, die Angst. Und genau das bringt dich dazu zu denken: „Wenn ich so gut sein will wie sie, darf ich mir keine Fehler erlauben.“
Doch das ist ein Trugschluss. Die „Hochglanzwelt“ ist eine Fassade. Dahinter sind Menschen wie du – mit Schwächen, Unsicherheiten, Ecken und Kanten. Wenn du dich diesem Schein beugst, richtest du dich nach einer Illusion. Und Illusionen kann man nicht übertreffen. Nur an ihnen zerbrechen.
Die Gegenbewegung ist spürbar: Authentizität, Transparenz, das Zulassen von Fehlern und Brüchen wird nicht nur toleriert, sondern geschätzt. Führungskräfte, die über eigene Fehlentscheidungen sprechen, gewinnen Vertrauen.
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