Vor dem "Systemrelevanten" kommt das Lebensnotwendige. Über Corona, die Landwirtschaft und neue Wortschöpfungen.
Ein Standpunkt von Jakob Weiss.
Winzling COVID-19 hat der Krone der Schöpfung kurz den Meister gezeigt. Rasch wurde dabei klar, dass menschliche Gesellschaft – im Kleinen wie im Grossen – auch anders funktioniert, wenn sie genug besorgt ist und im Gewohnten nicht mehr weitermachen kann. Wir wurden weniger mobil, aber in den meisten mir bekannten Fällen nicht weniger lebendig. Manchmal mit paradoxen Folgen: Freiheitseinschränkungen entpuppten sich da und dort als Gewinn an Freiheit. Finanziell hat es etliche hart getroffen. Prekäre Familienkonstellationen brachen auseinander. Vielleicht aber bewirkt das Virus, dass in Zukunft einige "systemrelevante" Berufe aus ihrer Geringschätzung, ausgedrückt durch verhältnismäßig schlechten Lohn, heraustreten können.
Wie das Virus die Sprache befiel
Im Sog von Corona haben sich nicht nur Verhaltensweisen, sondern auch etliche Wörter in "Vireneile" ausgebreitet. Zum einen englische wie Shutdown oder Lockdown. Gibt es dafür tatsächlich kein deutsches Wort? Oder wird man ganz und gar verschüchtert angesichts der Deutlichkeit deutscher Ausdrücke – Ausgangssperre, (vorübergehende) Betriebsschließung, Stillstand? Wirkt die Fremdheit eines angeblichen Fachausdrucks kompetenter? Informiert uns das englische Wort besser?
Eine vertraute Bezeichnung wie Heimarbeit erinnert womöglich zu sehr an kleinbäuerliche Verhältnisse und Armut. Aber dass auch Arbeit zu Hause oder Hausunterricht keine Chance hatten gegen die sofort eingeführten Wörter Homeoffice und Homeschooling bleibt mysteriös. Warum Abstandhalten, zumindest anfänglich, hinter das auch im Englischen wenig elegante Social Distancing treten musste (womit überdies keine "soziale" Distanzierung gemeint war), ist schwierig zu verstehen.
Die Selbstverständlichkeit in der Handhabung des neuen Vokabulars wirkte vorgetäuscht. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass in Zeiten des außer Kraft gesetzten Föderalismus immer die Dollarsprache übernimmt, um die unterschiedlich starken Landessprachen sozusagen gleichberechtigt zu brüskieren.
Nicht nur Worteinwanderungen brachten Neues, auch der deutsche aktive Wortschatz selber hat sich verändert. Jedenfalls war mir "Vorerkrankung" bis zum März 2020 kein geläufiger Ausdruck, während mich jetzt der Verdacht beschleicht, alles auf der Welt sei womöglich schon ein bisschen vorerkrankt.
Unerfreulich war es zudem, als alter Mensch plötzlich in den Topf "Risikogruppe" geworfen zu werden, obwohl man sich munter fühlte und der Krankenkasse gegenüber in einem Geberverhältnis steht. Das innere Ohr hörte da ein Klicken wie von Handschellen. Durch diese selektionierende Risikobehaftung tauchte auch die unerwartete Frage auf, ob ich lieber als Sterblicher oder Übersterblicher von dieser Welt gehen möchte. Und da kam, mit Blick zurück auf das eigene Berufsleben, unwillkürlich ein bisschen Neid auf gegenüber der psychologischen Meisterleistung, nicht geleistete Arbeit als "Kurzarbeit" zu bezeichnen.
"Systemrelevant" von Fall zu Fall
Doch zum wahren Kampfbegriff über die Deutungshoheit der epidemisch verursachten Lage hat sich das Wort "systemrelevant" entwickelt. Und da nähern wir uns jetzt dem Thema Landwirtschaft. Von ihr war nämlich kaum die Rede in der schwierigsten Phase der Corona-Zeit, die doch einige KommentatorInnen zu Vergleichen mit der Situation im letzten Weltkrieg anregte. Die Dimension Hunger blieb stets eine ferne Erzählung. Sie führte zu dummen Hamsterkäufen, aber nicht zu Not und Unterernährung.
Kurz zur systemischen Erinnerung: In der Finanzkrise 2008/09 hat man Banken als "too big to fail" bezeichnet, um sie mit mehr Milliarden an Steuergeldern zu retten, als die Landwirtschaft über Jahre hinweg angeblich kostet. Im Vergleich zum großsprecherischen Besorgtheitsattest "too big to fail" bedeutet das Adjektiv "syst...