Share Podcasts – Werner Eberwein
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Das ist ein Vortrag, den ich im Rahmen des Kongresses „Fühlen und Erleben in schwierigen Zeiten – Emotionsfokussierung und Erlebnisorientierung in der Humanistischen Psychotherapie“ in Berlin im September 2017 gehalten habe:
Werner Eberwein
Im November 2016 habe ich einen 45-minütigen Vortrag im artop-Institut in Berlin gehalten zum Thema
Heraus aus dem Hamsterrad
Sie können ihn >>>hier online nachhören.
Hier der Vortrag als Text:
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
habt ihr eigentlich genug Zeit?
Habt ihr im Laufe eines Tages, im Laufe einer Woche oder eines Monats genug Zeit für Muße? Habt ihr Zeit auch einmal nichts zu tun? Habt ihr Zeit genug, um bei etwas oder mit jemandem zu verweilen? Habt ihr Zeit genug um euch wirklich entspannen zu können? Zeit zur Regeneration? Mit eurer Familie, euren Partnern, euren Kindern? Zeit genug für eure und mit euren Freunden?
Oder steht ihr unter Zeitdruck? Würdet ihr sagen, dass der Zeitdruck in den letzten Jahren eher zugenommen oder eher abgenommen hat? Fühlt ihr euch unter Leistungsdruck? Erlebt ihr Termindruck? Kennt Ihr Konkurrenzdruck? Leidet Ihr unter Bürokratiestress?
Ausgehend von zeitkritischen Autoren wie Rahel Jaeggi, Byung-Chul Han, Alex Honneth und Hartmut Rosa möchte ich euch folgende Thesen vorstellen:
Nachdem ich diese Thesen formuliert hatte, habe ich mich gefragt: Ist das nicht eventuell banal? Werdet ihr nicht sagen: Das ist doch klar, was glaubst du denn, was wir tagtäglich sowieso machen?
Ich denke, dass das stimmt, aber auch nicht stimmt.
Eine intersubjektive, dialogische, personzentrierte Haltung einzunehmen beziehungsweise sich immer wieder darum zu bemühen ist so etwas wie die Wertschätzung des Friedens, der Demokratie, der Menschenwürde, der Gleichberechtigung, der Inklusion oder der sozialen Gerechtigkeit. Jeder vernünftig (also nicht rechtspopulistisch) denkende Mensch würde all das für selbstverständlich halten. Es scheint gar nicht der Rede wert zu sein, sich damit zu beschäftigen. Dennoch ist die konkrete Umsetzung humanistischer Werte im täglichen Leben und besonders in der Arbeit mit Menschen gerade in Zeiten des weltweiten Wiedererstarkens antipluralistischer und aggressiv-autoritärer Orientierungen notwendiger denn je, aber in der Praxis manchmal eine recht diffizile Angelegenheit.
Die Grundfrage, um die es hier geht, ist: Wie sehe ich den Menschen, hier speziell den Klienten, mich selbst mit ihm und das was zwischen uns geschieht?
In den letzten Jahren hat sich vor allem an den Hochschulen ein Verständnis von Psychologie als Naturwissenschaft etabliert. Naturwissenschaftlich betrachtet ist der Mensch ein Objekt wissenschaftlicher Forschung wie jedes andere. Daraus resultieren in der Anwendung bestimmte generalisierbare und rezeptartig anwendbare Transformationstechniken.
Der Mensch erscheint dann entweder als Blackbox, die auf einen Input mit einem statistisch vorhersagbaren Output reagiert, oder als biologischer Computer im Schädel, der durch seine Schaltkreise determiniert ist, als Ergebnis unbewusster Triebschicksale und Abwehrprozesse oder unentrinnbar eingesponnen in ein Netz systemischer Wechselwirkungen.
In einer solchen Sichtweise wird der Psychotherapeut oder Coach zu einem Transformationsexperten mit der Aufgabe, vor dem Hintergrund umfassenden Fachwissens mithilfe empirisch validierten Interventionen dem Klienten aus seinem Leiden heraus und in ein zufriedenes Leben hinein zu verhelfen, und das bedeutet auch, ihn leistungsfähiger zu machen.
Zweifellos ist der Mensch auch ein materielles Wesen mit beschreibbaren Hirnprozessen, biologischen Trieben, auf vielfältige Weise Konditionierungen unterworfen und in dynamische Beziehungssystem eingebunden.
Die Frage, die sich aus einer humanistisch-existenziellen Perspektive stellt ist:
Ist der Mensch als Mensch vielleicht mehr als all das? Ist der Mensch nicht mehr als ein Tier? Was genau unterscheidet uns eigentlich von den Tieren, und welche Folgen hat das in Psychotherapie und Beratung?
Der Mensch kann und muss naturwissenschaftlich untersucht werden. Ohne diese Perspektive gäbe es kein Insulin, kein MRT und keine Kontaktlinsen. Wenn ich aber als Psychotherapeut oder Coach den Menschen ausschließlich als Objekt, zugespitzt ausgedrückt als Ding unter Dingen entgegentrete, aus der Perspektive eines unabhängigen Beobachters und Technikers, beraubte ich ihn dann nicht seiner Würde als Person, und damit auch mich selbst?
Und was genau wäre dazu – praktisch gesehen – die Alternative?
Wir können zwei Grundformen menschlicher Beziehungen unterscheiden: geschäftliche Beziehungen und persönliche Beziehungen. Wie wir alle wissen, wird es immer schwierig, wenn diese beiden Ebenen vermischt werden, aber genau das geschieht in der Psychotherapie und in etwas anderer Form und Umfang wohl auch beim Coaching, in der Supervision, in der Personal- und Organisationsentwicklung.
Eine geschäftliche Beziehung habe ich zum Beispiel zu einer Verkäuferin beim Bäcker, wenn ich dort Brötchen kaufen will. Ich bin vielleicht höflich und freundlich, aber als Person, als Mensch bleibt mir die Verkäuferin ebenso fremd wie ich ihr. Wir haben das, was der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber als eine Ich-Es-Beziehung bezeichnet hat. Wir begegnen uns nicht persönlich, sondern funktional – in diesem Fall als Verkäuferin und Kunde. In manchen Kontexten ist das unvermeidlich und oft auch angemessen.
Eine persönliche Beziehung habe ich dagegen zum Beispiel zu einem Freund. Er ist mir wichtig, er liegt mir am Herzen und ich ihm. Wir begegnen uns und beziehen uns aufeinander als Menschen, als Personen. Wir vertrauen uns einander an. Wir tauschen uns persönlich aus und setzen uns miteinander auseinander über uns und über das, was uns beschäftigt und bewegt. Buber hat das eine Ich-Du-Beziehung genannt.
In der Psychotherapie, so wie ich sie verstehe und praktiziere, und möglicherweise auch im Coaching, handelt es sich um eine Mischform zwischen beiden, ich bezeichne das als „professionelle Intersubjektivität“.
Psychotherapeut oder Coach und Patient oder Klient haben miteinander zweifellos eine professionelle Auftragsbeziehung und ein juristisches Vertragsverhältnis über eine bezahlte Dienstleistung. Wenn dieser Aspekt jedoch verabsolutieren wird, wenn beide sich ausschließlich oder überwiegend als bloße Geschäftspartner sehen und behandeln, und das was zwischen ihnen passiert als rein sachliche, zweckorientierte Unternehmung betrachten, dann wird Psychotherapie und Coaching zur bloßen Psychotechnik und des Menschlichen entkleidet zu einer dinglichen, entfremdeten Angelegenheit, zu einem bloßen Geschäft.
Wenn dagegen die Beteiligten vergessen oder vergessen wollen, dass sie sich zur Erfüllung eines professionellen Auftrags treffen, für den der eine den anderen beauftragt hat und für dessen Bezahlung er sorgt, dann verwandelt sich Psychotherapie und vielleicht manchmal auch Coaching in einen Beziehungsersatz oder in eine privaten Beziehung mit den bekannten, oft tragischen Folgen.
Ich bin nun schon seit tatsächlich 33 Jahren als Psychotherapeut tätig und erkenne in dieser und ähnlichen Berufsgruppen in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Trend in Richtung Professionalisierung. Das ist gut, weil vieles von dem, was in den wilden 1960er bis `80er Jahren im Bereich der Seelenarbeit ausprobiert wurde, wohl mehr geschadet als genutzt hat. Professionalisierung war und ist notwendig und außerdem unvermeidbar.
Aber – meiner Meinung nach kommt heute bei Seelenarbeitern der Mensch als Subjekt und die Beziehung als Intersubjektivität, also das humanistische Element oft zu kurz. Ich beobachte das insbesondere bei den nachwachsenden, jungen Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die die Universität nach dem Bologna-Prozess durchlaufen haben, der jede kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten und mit sich selbst in einer Flut von Prüfungen erstickt, und die als Psychotherapeuten nur die Alternative zwischen zwei Richtlinienverfahren kennen. Sie lernen, Menschen in Diagnosen oder Typologien einzusortieren und sich an Handbuchwissen und Behandlungsleitlinien zu orientieren, was wie zu verstehen ist und wann welche Interventionen erforderlich sind.
Auf diese Weise wird die Beziehung zum Klienten etwas ganz oder überwiegend Zielorientiertes. Dass der Therapeut oder Coach vom Klienten unweigerlich auf einer persönlichen, emotionalen Ebene berührt, ja manchmal tief bewegt oder gar erschüttert wird, kommt dann zu kurz. Und dass auch der Therapeut oder Coach nicht nur eine Art käuflicher Heilungs- oder Orientierungswerkzeugkasten ist, sondern auch und gerade durch die Art, wer und wie er als Mensch ist, wie er sich zeigt und wie er als Person wirkt, sich nachhaltig in die Seele des Klienten einprägt, kommt oft zu kurz.
Ich möchte daher diesen Aspekt hier betonen, was die Erfordernisse, Errungenschaften und Qualitäten einer professionellen, angemessen abgegrenzten und methodisch fundierten Arbeit überhaupt nicht in Frage stellen soll.
Als Psychotherapeut habe ich täglich Anteil an Schicksalen, Erfahrungen, Erlebensebenen, biografischen Umbrüchen und kreativen Intuitionen, die mich immer wieder komplett überraschen, und mit denen ich niemals gerechnet hätte. In der Zen-Tradition spricht man vom Anfängergeist, also einer Haltung, in der man versucht, sich jeder Situation so zu nähern, als ob man sie zum allerersten Mal erlebt.
In mir hat sich im Laufe der Jahre eine recht umfangreiche Bibliothek aus konzeptuellem und technischem Wissen und professioneller Erfahrung angesammelt. Dennoch verblüffen mich jeden Tag Patienten mit Wendungen und Wandlungen, die in keinem Lehrbuch stehen, und die unmöglich geplant oder vorhergesehen werden können. Und ich selbst überrasche mich mit Einfällen und Interventionen, die ich nie zuvor gehabt habe. Genau das ist es, was diese Arbeit für mich immer wieder lebendig und befriedigend macht.
Wenn wir Psychotherapie im Sinne von Irvin Yalom und Coaching im Sinne von Alfried Längle als existenziellen Dialog verstehen, dann sprechen wir nicht von einer Technik neben anderen Techniken. Es ist vielmehr eine Art der Bezugnahme auf den Anderen als Person, als Subjekt, wodurch professionelle Seelenarbeit zugleich menschliche Begegnung sein kann.
Meiner Meinung nach ist das nicht nur eine ethische Frage im Sinne eines menschlichen Umgangs miteinander, sondern von größter Bedeutung auch für die Wirksamkeit dessen was wir tun, insbesondere, wenn wir es mit Fragen, Problemen oder Störungen zu tun haben, die durch Entfremdung, Verdinglichung, Funktionalisierung, Ausnutzung oder gar Benutzung von Menschen als Objekt entstanden sind oder zu tun haben.
Mit einem Begriff von Heidegger gesprochen ist Verdinglichung grundsätzlich betrachtet ein Existenzial, also ein unvermeidlicher Aspekt menschlichen Lebens. Wir sind umgeben von Verdinglichungen des Seelischen und des Sozialen. Gefühle und Einstellungen, ökonomische und organisatorische Strukturen müssen zum Beispiel objektiv erforscht und begrifflich auf den Punkt gebracht werden.
Wenn aber Gefühle von Wirtschaftspsychologen renditeorientiert „gemanagt“ werden, wenn Menschen in ihrer Selbstliebe nur noch von ihren Leistungen abhängig sind, wenn körperliche Attraktivität im Vergleich zu Bildschirmschönheiten als geschrumpft erlebt wird und durch Botox und Implantate aufgepäppelt werden muss, wenn Arbeitskräfte nur noch als Humankapital betrachtet werden und Sozialkontakte als bloß nützliche Connections, dann wird etwas Menschliches zu einem Ding mit einem Wert und einem Preis, also zum Objekt, zum Gegenstand, zur Ware.
Zum Problem wird Entfremdung und Verdinglichung also immer dann, wenn sich in etwas zutiefst Persönliches, wie eine intime Partnerschaft, ein soziales Engagement oder ein empathisches Sich-Einstimmen mit einem Menschen eine Intention einschleicht, in der die andere Person und damit im Grunde auch man selbst als bloßes Objekt betrachtet und behandelt wird.
In der existenziellen Sichtweise ist dagegen alles, was in der Psychotherapie oder beim Coaching geschieht, intersubjektiv. Das bedeutet, dass wir alles, was wir vom Patienten zu wissen glauben und alles wovon wir glauben, dass es in einem mechanischen Sinn funktioniert, zunächst zurückstellen (Edmund Husserl spricht hier vom Einklammern, von der „Epoché“) und uns fragen: Wer ist dieser ganz besondere Mensch? Was erlebt er genau in diesem Moment? Was sind seine ganz persönlichen Ängste und Wünsche? Was scheut er wie der Teufel das Weihwasser? Wie wirkt diese einzigartige Person anders auf mich und in mir anders als jeder andere Mensch? Was bewirkt er in meiner eigenen Seele? Wie wirke ich als Person auf ihn und in ihm? Was stellen wir zwischen uns her, und was erschaffen wir hier und jetzt miteinander?
Auf diese Fragen gibt es keine abschließenden Antworten, aber aus ihnen kann eine kooperative Auseinandersetzung mit den Themen des Klienten entstehen, eine dialektische Bewegung, ein kreativer Dialog, in dem dann auch wieder theoretische Konzepte und erprobte Techniken eingesetzt werden können.
Das dynamische Gleichgewicht zwischen unmittelbarem und gegenseitigen emotionalen Berühren und Bewegtwerden als Personen einerseits und der reflektierenden Distanz vor dem Hintergrund fundierten Fachwissens macht die Kunst jeder professionellen Arbeit mit dem Seelischen von Menschen aus.
Wenn Menschen miteinander in Kontakt kommen, kommen sie unweigerlich dabei auch mit sich selbst in Kontakt und d.h. insbesondere mit ihren Gefühlen. Intersubjektive Beziehungen bestehen darin, dass jeder sich selbst mit dem anderen und den anderen in sich selbst spürt und erspürt.
In der Psychotherapie sprechen wir heute von Emotionsfokussierung. Wir erleben den Kontakt mit Anderen im Kontakt mit uns selbst als emotionale Verbundenheit, als Resonanz, als Einschwingen und Mitschwingen mit vielerlei Ober- und Untertönen, die miteinander interagieren und pausenlos in Bewegung sind. Wir fühlen uns, wir fühlen mit dem anderen, wir fühlen uns ein, wir fühlen uns an, wir erfühlen und werden erfühlt – oder aber emotional verfehlt und als Mensch verkannt.
Gefühle verbinden uns mit dem Körper, seinen Bedürfnissen und Grenzen. Unsere kreativen Intuitionen, aber auch unsere angst- und schamvollen Befürchtungen aufgrund von alten, zum Teil unbewussten Mustern werden uns gewahr als Gefühle. In der Arbeit mit dem Seelischen und dem Zwischenmenschlichen geht es immer um Gefühle.
Was aber geschieht, wenn ein Mensch, Kind oder erwachsenen, unter dem Druck steht, seine Lebendigkeit, sein authentisches Erleben verleugnen, verdrehen oder unterdrücken zu müssen, um liebevolle Zuwendung oder Anerkennung zu erhalten? Mit einem Begriff des englischen Kinderpsychoanalytikers Donald Winnicott entsteht auf diese Weise durch Überanpassung ein falsches, also entfremdetes Selbst, eine Identifikation mit Normen und Vorstellungen, die dem eigenen Wesen nicht entsprechen.
Eine in unserer Kultur verbreitete Form des falschen Selbst ist die narzisstische Persönlichkeit, die am differenziertesten von dem Psychoanalytiker Heinz Kohut untersucht wurde. Die Art, wie Narzissten nach außen auftreten, ihre Ichsucht, ihre Selbstverliebtheit und Image-Besessenheit kann als faszinierend oder als abstoßend empfunden werden und manchmal als beides zugleich. Ebenso empfindet man narzisstische Anteile in der eigenen Seele, die wohl niemandem, der sich ein wenig mit sich beschäftigt hat, fremd sind. Sie lösen bei anderen oft Neid und Verachtung zugleich aus. Daher wird der Begriff Narzissmus häufig als Schimpfwort, also im Grunde selbst aus einer narzisstischen Perspektive heraus gebraucht.
Die zunehmende Förderung anpreisender Selbstausstellung und Eigenwerbung in Online-Profilen, WhatsApp-Selfies, in Casting-Shows und Bewerbungsgesprächen, in der Wahlwerbung und in sich wissenschaftlich nennenden Debatten führt dazu, dass derjenige, der besser blufft, sich mehr aufbrezelt, sich aufbläht oder den Gegner effektiver verbal niederwalzt, sozial nach oben steigt, während der Bedächtige, Reflektierte, der auch bereit ist, Einwände ernst zu nehmen, und sich eigenen Unsicherheiten zu stellen, oft im Getöse untergeht.
Menschen mit aktivierter narzisstischer Dynamik sind süchtig nach Applaus, Bewunderung und Beifall. Sie scheuen partnerschaftliche emotionale Bindungen, leiden unter innerer Leere und diffusen Ängsten vor Kontrollverlust. Ihr Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl ist abhängig von aufwertenden Rückmeldungen anderer. Bleiben diese aus, kollabiert ihr Selbstwertgefühl, und sie fühlen sich in ihrer schieren Berechtigung zur Existenz infrage gestellt.
Ihre Abhängigkeit von endlosem Anhimmeln macht narzisstische Menschen zu Spiegel-Sklaven. Ihr Problem ist aber nicht eigentlich ihre Gier nach Aufwertung und ihre Angst vor Abwertung, sondern die Bewertung an sich: die Bewertung als Mensch, ihrer Erscheinung, ihrer Seele, ihres Körpers, ihrer Eigenschaften und Eigenheiten. Wenn persönliche Wirkung, Anziehungskraft, Ausstrahlung, Kommunikationsfähigkeit, Intelligenz oder Eloquenz „geratet“, also in ein skalierendes Mehr oder Weniger einsortiert werden, dann wird der Mensch zum bewerteten Ding, also verdinglicht, zur Ware, und er erlebt sich selbst als solche. Das kann einen Narzissten stark oder schwach machen, je nachdem, wie er ankommt. Daher ist seine emotionale Stabilität von seiner äußeren Performance abhängig, und durch Mangel an Erfolg jederzeit irritierbar.
Die Tragik der narzisstischen Dynamik besteht in einer inneren Verdopplung zwischen Aufgeblasenenheit und Geschrumpftheit, mit Kohuts Begriffen zwischen Größenselbst und entwertetem Selbst. In dieser Verdopplung, die in der Psychoanalyse als Spaltung bezeichnet wird, erlebt ein narzisstischer Mensch auch seine Umwelt, die für ihn bevölkert ist mit überlegenen Gurus und Mäzenen, denen gegenüber er sich verkrötet, also minderwertig und unansehnlich fühlt und unterlegenem Fußvolk, auf das er hinabschaut, und das für ihn nur insofern interessant ist, als es ihn hofiert und bewundert.
Narzisstische Menschen hat es schon immer gegeben. Aber durch den schleichend immer weiter um sich greifenden Druck in Richtung Bewertung und Selbstbewertung an Universitäten, Schulen und Kinderstuben sind narzisstische Muster heute derart verbreitet, dass wir sie meistens gar nicht mehr wahrnehmen, weshalb Christopher Lasch bereits 1979 von einem Zeitalter des Narzissmus sprach. Und für bestimmte Funktionsrollen in unserer Gesellschaft wie Popstar, Talkshowteilnehmer oder Wahlkämpfer sind narzisstische Selbstdarsteller sogar optimal angepasst.
Ein gesunder Narzissmus im positiven Sinn, also ein liebevolles Verhältnis zu sich selbst und zu anderen, ein stabiles Selbstwertgefühl, intrinsische, also an Werten orientierte Motivationen, eine gute soziale Verwurzelung und ein respektvolles Verhältnis zu den eigenen Bedürfnissen und Grenzen sind zentrale Voraussetzungen psychischer Gesundheit und sozialer Kompetenz, auch und ganz besonders für Leitungskräfte sowie für Psychotherapeuten und Berater. Eine gewisse Power, Durchsetzungsfähigkeit, persönliche Präsenz und Standfestigkeit ist unabdingbar für Menschen in leitenden Positionen und auch für diejenigen, die sie und ihre Betriebe und Organisationen beraten.
Die neoliberale Ökonomie und Sozialstruktur bringt jedoch Menschen hervor, deren Selbstwert ihnen alles bedeutet. Bei ihnen wird psychische Stabilität zu Pseudostabilität, Power zu Aufgedrehtheit, Präsenz zu Exhibitionismus und Verantwortungsübernahme zu Machtbesessenheit. Je mehr die Selbstwertregulation ins Pathologische abdriftet, umso mehr sehen wir Menschen, die mächtig und zerbrechlich zugleich und daher sehr krisenanfällig sind.
Als Paradebeispiel einer – man kann es nicht anders sagen – pathologisch narzisstischen Dynamik sehen wir den rassistischen Horrorclown Donald Trump, der sich öffentlich an seiner vermeintlichen Großartigkeit berauscht und alles zu entwerten, ja zu vernichten bereit ist, was ihm fremd ist oder ihm im Wege steht. Daneben seine bloß papageienhaft mitagierende Model-Frau Melania, der Inbegriff einer Co-Narzisstin, deren einzige Funktion es ist, ihn, den blinden Autokraten, wie eine hübsche Krawattennadel zu schmücken und seine Dominanz hervorzuheben.
Gefährlich wird der Narzisst dann, wenn sein Selbstwertgefühl nach endloser Aufblähung vielleicht schon durch einen Nadelstich platzt und er bereits nach einer nur gefühlten Kränkung seines Selbstwertgefühls zu gnadenloser Zerstörung übergeht. Diese Dynamik wird als maligner, d.h. bösartiger Narzissmus bezeichnet. Das ist die sozialpsychologische Definition einer globalen Gefahr, die gerade dabei ist, das noch-liberale Kern-Europa regelrecht zu umzingeln.
Ein Mensch, der sich im positiven Sinn selbst liebt, respektiert auch seine Mitmenschen, seine Mitarbeiter, Untergebenen und Vorgesetzten, die Menschen die ihm nahestehen, seine Familie, seine Freunde und Nachbarn. Die Stabilität seines Selbstbewusstseins und die Sicherheit seines Auftretens gründet sich auf innere Ausgeglichenheit. Er hat es nicht nötig, „aufzutrumpen“, sondern er wirkt warmherzig. Er muss seine menschlichen Grenzen und Schwächen nicht verschleiern, selbst dann, wenn er manchmal deutliche Worte sagen oder klare Entscheidungen treffen muss.
Die neoliberale Ökonomie und Politik hat für breite Schichten in den kapitalstarken Nationen, (teilweise entgegen ihrer eigenen Selbstwahrnehmung) jahrzehntelangen Frieden, ökonomische Sicherheit, soziale Freiheit und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung geschaffen, die es in dieser relativen Breite in der Geschichte wohl noch nie gegeben hat. Allerdings basiert diese Stabilität auf einer weltweiten Blasenökonomie, die zwar nicht psychologisierend als Folge, aber durchaus als globalökonomische Entsprechung der narzisstischen Aufblähung ihrer Funktionsträger verstanden werden kann.
Ob wir das sehen, wollen und gutheißen oder nicht, auch wir Psychotherapeuten, Berater, Coaches und Personal- und Organisationsentwickler sind unweigerlich auch Erfüllungsgehilfen der Schaffung und Verwertung von Humankapital, zugleich aber mögliche, und manchmal einzig erreichbare Rettungsinseln, Orte der Reflexion und möglicher Positionsfindung in den Strudeln der entfesselten Leistungsgesellschaft.
Psychotherapie kann nicht nur störende Symptome wegräumen, um die Patienten wieder arbeitsfähig zu machen, sondern auch zur existenziellen Reflexion einladen: Wofür lebe ich eigentlich? Wo stehe ich in dieser Welt, und wofür stehe ich ein? Coaches und Personalentwickler können zur Humanisierung der Arbeitswelt beitragen und ein Stück mehr Menschlichkeit in die Betriebe bringen. Das können Beiträge zur Gestaltung einer menschenwürdigen Welt sein, auf die wir einmal mit begründetem Stolz zurückblicken können, wenn wir spüren, dass unsere Lebenszeit langsam abläuft.
Die ungeahnten Möglichkeiten der Globalisierung, die in vergangenen Jahrhunderten noch nicht einmal den Reichsten und Mächtigsten zur Verfügung gestanden hätten, bringen als ihre Kehrseite ein Gefühl der Heimatlosigkeit mit sich. Wenn alles möglich ist – wer bin ich dann? Wo gehöre ich hin? Was ist richtig und sinnvoll für mich und was nicht? Das betrifft den Beruf, die sexuelle Orientierung, den Umgang mit persönlicher Nähe und Grenzen, den Ort an dem man lebt und die eigene Weltanschauung, die mehr und mehr zu einem beliebig auswechselbaren Konstrukt oder – als Gegenregulation –zu einem rigide abgeschotteten Gedankengefängnis wird.
Als Produkt der Deregulierung, die Vermarktungsgesetze ungehindert in die Köpfe schon der Kinder träufelt, wird die Ausübung von äußerem Zwang um grenzenlose Leistungsbereitschaft zu bewirken mehr und mehr überflüssig, weil der dringende Wunsch verinnerlicht wird, mehr, besser und schneller zu sein als alle anderen (und damit zugleich mehr, besser und schneller als man selbst überhaupt sein kann). Den als Eigenmotivation verinnerlichten Leistungswahn als Schattenseite postmoderner Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, der vermutlich in der Arbeit mit Führungskräften besonders häufig anzutreffen ist, hat Byung-Chul Han eindrücklich unter dem Begriff Selbstoptimierungszwang analysiert.
Der Mangel an Muße, an Zeit zum Verweilen, zur Regeneration von Körper und Seele, im Grunde der Mangel an Zeit zu leben führt zu der drastischen Zunahme an Burnout-Symptomen und Erschöpfungsdepressionen, auf die die Statistiken der Krankenkassen hinweisen. Wie in der „Zeit“ vom letzten Mittwoch nachzulesen ist, sind laut einer repräsentativen Umfrage bereits ein Drittel aller Führungskräfte abhängig von schwer suchterzeugenden Schlafmitteln um überhaupt noch zur Ruhe kommen zu können.
Tragischerweise trifft die Burnout-Erschöpfung, die Ermüdung aus Selbstüberforderung am ehesten die Leidenschaftlichen, die mit dem Herzen bei der Sache sind, die brennen für ihre Tätigkeit und daher die ersten sind, die aus Mangel an sozialem Rückhalt und an alltagspraktischer Regeneration ausbrennen und manchmal für immer verlöschen.
Burnout und Erschöpfung kann nicht als rein individuelles Phänomen verstanden werden. Zunehmende Sparmaßnahmen, vor allem im Bildungs- und Sozialbereich, eine überbordende, immer sinnfreier werdende Bürokratie, die entgrenzte Datensammelwut und die papierenen Folterinstrumente der sogenannten Qualitätssicherung nehmen gerade den Begeisterten die Freude an ihrer Arbeit. Wer immer weniger einzusehen vermag, warum er einen Großteil seiner Arbeitszeit zur Selbstverwaltung und Selbstüberwachung verwenden muss, für den droht der Sinnverlust und damit ein Austrocknen seiner Motivation.
Wenn die ersten Spuren von Zynismus gepaart mit Kraft- und Lustlosigkeit schon spürbar waren und dann eine Gratifikationskrise dazukommt, also das Gefühl: Wo bleibe ich hier eigentlich? Wer ist eigentlich mal für mich da? … dann schlägt der Burnout manchmal über Nacht zu, und die Frühverrentung aus psychischen Gründen ist nicht mehr weit.
Was ein Mensch mit einer instabilen oder pseudo-rigiden Selbststruktur professionell braucht, ist einen Psychotherapeuten oder Berater, der sich in der Dialektik zwischen Empathie und Selbstempathie auf der einen Seite, kritischer und selbstkritischer Auseinandersetzung auf der anderen Seite konstruktiv zu bewegen vermag.
Ein reines empathisches Bekräftigen einer teilweise deformierten Identität kann leicht dazu führen, gleichsam dem Affen Zucker zu geben, also selbstschädigende oder sozial destruktive Tendenzen zu stabilisieren oder gar zu verstärken. Eine zu früh oder zu penetrant angesetzte Auseinandersetzung oder Herausforderung einer leidvoll instabilen Selbststruktur dagegen kann zu einer Überforderung oder gar zu einem Kollaps der Selbstregulationsfähigkeiten des Klienten führen.
Die produktive Handhabung der Dialektik zwischen Einfühlung und Auseinandersetzung macht den Kern eines konstruktiven psychotherapeutischen oder Coaching-Prozesses aus.
In einem hermeneutischen, also verstehenden Prozess der Psychotherapie oder Beratung bemüht sich der Berater, sich auch in diejenigen Anteile und Ebenen des Erlebens oder Noch-Nicht-Erlebens des Klienten einzufühlen und hineinzudenken, die diesem selbst nur vage, indirekt, verzerrt oder in Form von Vermeidungen oder psychischen schwarzen Löchern bewusst sind. Er bietet ihm Begriffe und Metaphern an, die den Klienten anregen, Worte oder Symbole für Anteile und Motive zu finden, die zunächst noch sprachlos sind und daher manchmal blind agiert oder auch somatisiert werden.
Der Therapeut oder Berater kann das nur leisten, indem er sich seiner eigenen Gefühlsreaktionen, Fantasien und Intuitionen in Resonanz mit dem Klienten gewahr ist, sie unablässig beachtet, auslotet, reflektiert, einordnet und nutzt. Dafür ist differenziertes Fachwissen unabdingbar. Letztlich aber kann nur ein einfühlendes und mitfühlendes Subjekt ein anderes Subjekt und die Beziehungen zwischen Subjekten verstehen. Alle Begriffe, alle Formulierungen und benannten Zusammenhänge sind immer nur vorläufig, in Bewegung und in sozialer und biografischer Veränderung.
Der dialektische Gegenpol zum Verstehen ist die Auseinandersetzung mit dem Klienten, das kritische Sich-Reiben mit seinen Mustern und Themen, das oft mühsame gemeinsame Aufbereiten und Durchkauen seiner Fragen und das manchmal auch konfrontative und selbstkonfrontative Infragestellen von Anschauungen oder Werthaltungen, die zu Entwicklungsblockaden oder zur Aufrechterhaltung von psychischem Leid beitragen.
Dieses Sich-Miteinander-Auseinandersetzen ist nicht leicht und nicht immer angenehm. Es wird daher gerne vermieden, durch nur-bestätigende Empathie oder bloßen Zuspruch ersetzt oder durch nur-technische Interventionen zu hantieren versucht. Dennoch bietet die intensive, von Mitgefühl und Unterstützungswillen getragene Bereitschaft zur Auseinandersetzung einzigartige Möglichkeiten zum Miteinander-Wachsen, sowohl im Therapie- und Beratungskontext als auch in persönlichen Beziehungen.
In der Seelenarbeit dient Auseinandersetzung einzig und allein der Linderung des psychischen Leids des Klienten durch psychosoziales Wachstum. Zu diesem Zweck müssen sich Klient und Berater auch mit Überzeugungen und Einstellungen auseinandersetzen, die der Klient als Teil seines eigenen Wesens empfindet und die er daher zunächst instinktiv verteidigt. Diese Muster müssen wahrgenommen, gefühlt und verstanden, akzeptiert, verbalisiert und in ihrer Funktion anerkannt werden, um es dem Klienten überhaupt erst zu ermöglichen, sich von Ihnen bei Bedarf auch innerlich abzugrenzen, so dass er alten Verstrickungen nicht weiter blind folgen muss, sondern eine Wahlfreiheit gewinnt, indem er selbst definiert, wer er ist und wofür er steht und lebt.
Das innere wie das äußere Andere, das Fremde, das Nicht-Wie-Ich erscheint uns in unser eigenen Seele, in persönlichen Beziehungen, am Arbeitsplatz und in der sozialen Welt als Grenze, als Angst, als Erstaunen und Herausforderung, als Sehnsucht und Begehren, als Freude und Überraschung.
In der Auseinandersetzung mit innerem oder äußerem Zunächst-Fremden erkennen wir, dass wir manches verstehen und integrieren können, anderes anzuerkennen bereit sind oder akzeptieren müssen, manches trotz allem Bemühen nicht verstehen und einiges als inakzeptabel empfinden und uns daher davon distanzieren müssen.
Eine humanistische, dialogische Grundhaltung ist leicht zu behaupten oder zu propagieren, sie aber in der alltäglichen Praxis tatsächlich zu praktizieren, ist eine spannende Herausforderung, an der man immer wieder auch kreativ scheitert, die daher unablässig reflektiert und weiterentwickelt werden kann und muss.
Empathie, Selbstempathie und Auseinandersetzung können im Rahmen praktisch jeder psychotherapeutischen oder Coaching-Arbeitsweise realisiert – oder auch verfehlt werden und sind de facto immer mehr oder weniger präsent. Sie äußern sich in Themen, Inhalten und Interaktionen, aber auch nonverbal und subtil, in Form psychovegetativer Resonanzprozesse durch affektives Einschwingen oder emotionale Irritation und in der Fortentwicklung miteinander erzeugter dialogischer Narrative.
Zusammenfassung:
Vor dem Hintergrund eines zeitkritischen Verständnisses der psychischen Folgen des digitalisierten Neoliberalismus kann Psychotherapie und Coaching als eine Form der Mikropolitik verstanden werden, die unweigerlich mit Phänomenen der Entfremdung, Beschleunigung, Verdinglichung und des Selbstoptimierungszwangs konfrontiert ist, und durch die Förderung von Resonanz, Empathie, Selbstbestimmung und Anerkennung zur produktiven Auseinandersetzung mit den psychosozialen Verwerfungen der postmodernen Welt beitragen kann.
Es muss Gefühl und Subjekt in die Arbeit, dann ist das Leben voller Überraschungen!
Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit.
In einem 100minütigen Vortrag erkläre ich Grundbegriffe und Methoden der klassischen und modernen Hypnose und Hypnotherapie und beschreibe praktische Erfahrungen in der therapeutischen Anwendung.
Sie erfahren unter anderem:
Unten der Vortrag im MP3-Format. Sie können ihn online hören oder auf ihr/en Computer, Tablet, iPad, iPod, iPhone Smartphone oder MP3-Player herunterladen (Rechtsklick auf den Link > „Ziel speichern unter …“).
Bei iPads, iPhones und iPods müssen MP3-Dateien in der Regel zunächst auf einen Desktop-Computer heruntergeladen und dort der iTunes-Mediathek hinzugefügt werden, die dann mit dem Abspielgerät synchronisiert wird.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Anhören des Vortrages.
Werner Eberwein
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Einen geeigneten Psychotherapeuten zu finden ist nicht einfach. Vor allem Psychotherapeuten mit Kassenzulassung sind in aller Regel sehr überlaufen. Viele von ihnen führen Wartelisten, so dass Patienten mit längeren Wartezeiten (in der Größenordnung von einigen Monaten) rechnen müssen.
Diesen Beitrag als 15minütigen
Oft ist es eine gute Idee, unter Bekannten nach Empfehlungen von Psychotherapeuten herumzufragen. Meistens kennt man jemanden, der wieder jemanden kennt, der gute Erfahrungen mit einem Psychotherapeuten gemacht hat. Selbst wenn dieser dann vielleicht keine Zeit hat, kann er dann manchmal an einen Kollegen verweisen. Allerdings: wenn dem einen Patienten ein Therapeut gefällt oder gut getan hat, muss das überhaupt nicht für den anderen Patienten zutreffen.
Es gibt einige Kriterien, auf die man bei der Suche nach einem Therapeuten achten kann:
All diese Kriterien sind aber letztlich weniger ausschlaggebend als der unmittelbare persönliche Eindruck und das intuitive Gefühl des Zusammen-Passens, d.h. die “Chemie” muss stimmen, und zwar von beiden Seiten. In aller Regel kann man sich bei der Suche nach einem Psychotherapeuten auf sein Gefühl verlassen, und letzten Endes fällt die Entscheidung für einen bestimmten Therapeuten sowieso gefühlsmäßig.
Konkrete Fragen die zu Beginn mit dem Therapeuten geklärt werden sollten sind unter anderem:
Es gibt im Internet eine ganze Reihe von Portalen, auf denen Psychotherapeuten nach bestimmten Suchkriterien und manchmal auch mit Bewertungen zu finden sind. Außerdem gibt es diverse Beratungsstellen, manche von ihnen sind unabhängig, andere sind verfahrensgebunden, manche sind nur für bestimmt Personengruppen bestimmt, z.B. für Frauen, für Kinder, für Homosexuelle, für Opfer von sexuellem Missbrauch, für Süchtige, für Psychotiker usw.). Dann gibt es Ambulanzen, die meistens nur an einen begrenzten Therapeutenkreis ihres eigenen Verfahrens überweisen und die Vermittlungsstellen der lokalen Kassenärztlichen Vereinigungen, die wissen, wer von den Kassentherapeuten in der Umgebung gerade freie Plätze hat, ohne aber viel darüber zu wissen, wie die Therapeuten sind und arbeiten. Ein weiterer Weg geht über die Verbände und Ausbildungsinstitute der jeweiligen Verfahren, die oft im Internet Therapeutenlisten führen, in denen sich meistens auch Details zu den jeweiligen Spezialgebieten des Therapeuten finden.
Das Ganze ist oft kein leichter Weg, unter Umständen muss man mit mehreren Therapeuten Vorgespräche führen, bis es dann bei einem “klick” macht.
Man ruft zuerst bei dem Psychotherapeuten an und bittet um einen Termin für ein Vorgespräch. Da Psychotherapeuten in ihren Praxen meistens in Sitzungen sind, wird man in aller Regel zuerst einmal nur einen Anrufbeantworter erreichen. Wenn man will, kann man am Telefon auch schon ein kurzes Stichwort dazu sagen, worum es ungefähr gehen soll. Es folgen dann ein oder mehrere Vorgespräche, in denen sowohl der Patient als auch der Therapeut versucht, einzuschätzen, ob man miteinander arbeiten kann, und ob das dem Patienten etwas bringen könnte. Manche Therapeuten beginnen mit einer längeren Anamnese, bei der der Patient detailliert zu seinen Problemen und seiner Lebensgeschichte befragt wird.
Wenn es zu einer Therapievereinbarung kommt und der Therapeut kann über die Krankenkassen abrechnen, kann ein Kostenübernahmeantrag an die Krankenkasse gestellt werden. Wenn der Patient in den letzten zwei Jahren keine Psychotherapie auf Kosten der Krankenkasse in Anspruch genommen hat, ist das in der Regel nur eine Formalität. Der Antrag wird in aller Regel von der Krankenkasse in ungefähr zehn Tagen bewilligt, dann hat man erst einmal 25 Stunden einer so genannten „Kurzzeittherapie“ zur Verfügung. Danach kann die Kostenübernahme verlängert werden, was ziemlich aufwändig ist. Der Therapeut muss dafür einen ausführlichen Bericht schreiben, der anonym an einen Gutachter der Krankenkasse geht, der über die Verlängerung der Kostenübernahme nach bestimmten Kriterien entscheidet, die ihm die Krankenkasse vorgibt. Die erste Verlängerung ist in der Regel unproblematisch, dann wird es immer schwieriger.
Die Therapieverfahren unterscheiden sich in der maximal von den gesetzlichen Kassen übernommenen Stundenzahlen:
Gelegentlich kommt es vor, dass sich eine Psychotherapie „festfährt“, d.h., dass Patient und Therapeut sich zwar Mühe geben, aber einfach nicht weiterkommen. Die Gründe dafür können vielfältig sein, manche davon liegen beim Therapeuten, andere liegen beim Patienten, wieder andere in der mangelnden Passung zwischen beiden. Falls ein Patient das bemerkt, sollte er es unbedingt in der Therapie zum Thema machen. Falls das nicht hilft, kann der Patient durchaus den Therapeuten wechseln. Ein Therapeutenwechsel sollte allerdings nicht leichtfertig aufgrund prinzipiell lösbarer Probleme geschehen, denn diese sind unweigerlich Teil jedes psychotherapeutischen Prozesses.
Werner Eberwein
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Körperpsychotherapie ist eine Richtung der Psychotherapie, die auf den Arbeiten von Wilhelm Reich aufbaut. Reich war Psychoanalytiker und Schüler von Sigmund Freud in Wien; daher sind viele Konzepte der Körperpsychotherapie ursprünglich aus psychodynamischen Ansätzen heraus entwickelt worden. In der Körperpsychotherapie wird mit aktivierten Gefühlen gearbeitet. Durch Körperarbeit können die Gefühle des Patienten mobilisiert, aber auch beruhigt werden.
Diesen Beitrag als 18minütigen
In der Körperpsychotherapie werden ausgefeilte Methoden der Körperdiagnostik angewandt. Anhand von Körperhaltungen, Bewegungen, Mimik, Atemmuster und Kontaktverhaltens des Patienten werden Hypothesen über den psycho-energetischen Zustand und über lebensgeschichtliche Prägungen entwickelt (das nennt man “Body-Reading”).
Die Körperpsychotherapie ist Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts vor allem aus zwei Quellen entstanden:
In den 1960er und -70er Jahren wurde die Körperpsychotherapie dann durch die Human Potential Bewegung und die daraus hervorgegangene Humanistische Psychotherapie geprägt – heute versteht sich die Körperpsychotherapie als Teil des Verfahrens Humanistische Psychotherapie
Die Psychoanalytiker Georg Groddek und Sandor Ferenczi begannen, ebenso wie Wilhelm Reich ab etwa 1925 mit körperorientierten Interventionen innerhalb psychoanalytischer Behandlungen zu experimentieren.
Groddek, der 1901 ein Privatsanatorium in Baden-Baden eröffnete, wandte vor allem bei Patienten mit psychosomatischen Problemen eine tiefe, mobilisierende Form von Massage an (die schon dem dann später in den 1950er Jahren von Ida Rolf entwickelten „Rolfing“ ähnelte).
Ferenczi plädierte für offene Selbstäußerungen und warmherzige Präsenz des Analytikers (wodurch er Elemente der therapeutischen Haltung vorwegnahm, die dann in den 1960 er Jahren von Carl Rogers detailliert ausgearbeitet wurden). In seiner “aktiven Technik” betrachtete Ferenczi die Mimik, Haltung, Gestik und Bewegungen seiner Patienten als Sprache des Unbewussten und ermutigte sie, auf ihr Körpererleben zu achten. Er bot Patienten körperlichen Halt und Zuwendung an und arbeitete mit spielerischen Elementen und mit Ansätzen eines körperlichen Dialogs, in dem er sich seinen Patienten als korrektive Beziehungserfahrung (also quasi als “gute Mutter” oder „guter Vater“) zur Verfügung stellte.
Diese Ansätze wurden von Ferenczis Schüler Michael Balint fortgeführt, der ebenfalls im Rahmen psychoanalytischer Behandlungen gelegentlich mit körperlichem Kontakt, wie z.B. dem Halten der Hand der Patienten arbeitete.
Wilhelm Reich gilt als der eigentliche Begründer der Körperpsychotherapie. Er nannte seine Methode zunächst „Vegetotherapie“. Reich arbeitete viel mit Patienten, die in der heutigen Terminologie als persönlichkeitsgestört bzw. Borderline verstanden würden, die aufgrund frühkindlicher Traumatisierungen und Mangelerfahrungen keine ausreichend stabile Ich-Struktur hatten aufbauen können. Er arbeitete mit dem unmittelbaren Erleben der Patienten und dem (auch körperlichen) unmittelbaren Kontakt im Hier-und-Jetzt (was sein Patient Fritz Perls später als Grundprinzip in die Gestalttherapie übernahm).
Reich ermutigte seine Patienten zu emotionalen Ausdrucksbewegungen, also z.B. zum Ausdruck von Wut oder von Trauer, er drückte und massierte verspannte Muskulatur und forderte seine Patienten auf, frei und voll durchzuatmen. Bei Reich spielte (ebenso wie bei Freud) die Sexualität die entscheidende Rolle bei der Entstehung und Überwindung von Neurosen; im Gegensatz zu Freud ging er aber davon aus, dass einer Neurose die energetische Quelle entzogen werden konnte, wenn der Patient zur vollen und unwillkürlichen Hingabe im sexuellen Akt (Reich nannte das “orgastische Potenz”) fähig würde.
Als moderne Körperpsychotherapeuten würden wir heute als Therapieziele allerdings unter anderem ergänzen: die Fähigkeit, sich einer sinngebenden Tätigkeit hinzugeben, sowie sich im Kontakt angemessen abzugrenzen, vom Zerfallen bedrohte Psychische Strukturen haltgebend zu stabilisieren u.v.a.
Ab 1930 entwickelte Reich unter der Bezeichnung „Charakteranalyse“ eine Theorie und Technik in der er davon ausging, dass es Interaktions- und Beziehungsmuster (sogenannte „Charaktermuster“) gibt, die Widerstandscharakter haben, und die systematisch durchgearbeitet werden müssten. Diese Charakterstrukturen gehen, so Reich, mit bestimmten Körperhaltungen einher, die sich wiederum in der Körpersprache der Patienten (also in Bewegung, Mimik, Tonus, dem Blickverhalten, dem stimmlichen Ausdruck usw.) auswirken.
Auch die Verdrängung sei, so Reich, ein körperlicher Vorgang, der v.a. durch chronische Anspannungen der Muskulatur und Hemmung des Atems “verkörpert” sei. Durch sein Verständnis einer „funktionellen Identität“ von körperlichen und psychischen Prozessen war es Reich möglich, quasi in der Materie des Körpers die immateriellen – psychischen – Prozesse zu erreichen, also „über den Körper die Seele zu heilen“, was u.a. zu einer Intensivierung des unmittelbaren emotionalen Erlebens der Patienten in der Therapie führte.
Aus dieser Idee entstand später das Prinzip der Erlebnisaktivierung der Humanistischen Psychotherapie. Durch Erleben und Bewusstwerdung unterdrückter Affekte und Gefühle werden traumatischer Erinnerungen bewusst, die dann verstehend verarbeitet werden können.
Wir würden heute – nach jahrzehntelangen Erfahrungen in der Körperpsychotherapie mit traumatisierten und strukturschwachen Patienten – u.a. auch dissoziative und strukturstabilisierende Arbeitsweisen auf der Körperebene ergänzen.
Um 1900 schuf die Tänzerin Isadora Duncan den Ausdruckstanz, der nicht aus formalisierten Tanzschritten sondern aus spontanen, expressiven Bewegungen bestand. Einen solchen Tanz führte die Tänzerin Mary Wigman 1914 erstmals in der Öffentlichkeit auf. Aus der Anwendung des Ausdruckstanzes in der Psychiatrie entstand in den 1940er Jahren dann die Tanztherapie.
Nachhaltige Impulse auf die Körperpsychotherapie gingen von der Gymnastiklehrerin Elsa Gindler aus (obwohl sie selbst nicht den Anspruch hatte, psychotherapeutisch zu arbeiten). Bei ihr wurde, wie sie gern sagte, “geübt ohne Übungen”: jeder Teilnehmer sollte über das Gewahrwerden des eigenen Körpers seine eigenen Übungen finden.
Gindlers Arbeit beeinflusste unter anderem
Auch Reichs Frau Annie Reich und später Elsa Lindenberg sowie Lore Perls, die Frau von Fritz Perls, Claire Fenichel, die Frau des Psychoanalytikers Otto Fenichel, und Frieda Fromm-Reichmann, die Frau von Erich Fromm, nahmen an tanz- und bewegungspädagogischen Kursen von und nach Elsa Gindler teil.
Trudi Schoop, Lilian Espenak und Mary Whitehouse gelten als weitere Begründerinnen der Tanztherapie, die heute ebenfalls v.a. in Kliniken eingesetzt wird. Der Modern Dance beeinflusste den früheren Tänzer Albert Pesso, der die „Psychomotorische Therapie“ entwickelte. Aus der Atem-und Leibpädagogik ging nach dem Zweiten Weltkrieg außerdem die „Funktionelle Entspannung“ nach Marianne Fuchs hervor.
In der Humanistischen Psychotherapie, die sich aus der humanistischen Psychologie von Abraham Maslow und Carl Rogers sowie der Human-Potential-Bewegung hervorentwickelt hatte, arbeitete der Reich-Schüler und Hauptbegründer der Gestalttherapie Fritz Perls mit körperorientierten Rollenspielen, deren Technik er von Jakob Moreno, dem Begründer des Psychodrama übernommen hatte. Diese Methodik wird auch in der Körperpsychotherapie angewandt.
Arthur Janov entwickelte die „Primärtherapie“, eine konfrontative Methode um sich mit dem Kern des Abgewehrten (dem von Janov sogenannten “Urschmerz”) zu konfrontieren und ihn zu durchleben, damit, so Janov, die pathogene Abwehr desselben überflüssig würde.
Daniel Casriel entwickelte die „Bonding“-Technik, die heute ebenfalls vor allem in psychosomatischen Kliniken angewandt wird, bei der durch intensiven, anhaltendem körperlichen Kontakt in Gruppen pathogene frühe Bindungserfahrungen kathartisch durchlebt und verarbeitet werden können.
Der Rogers-Schüler Eugene Gendlin entwickelte mit dem „Focusing“ eine körperorientierte Variante der Personzentrierten Psychotherapie, in der man sich auf das ganzheitliche Körpergewahrsein (den sogenannten „felt sense“) einstimmt, um auf diese Weise mit der Intuition des „verkörperten Unbewussten“ in Dialog zu treten.
In der Nachfolge von Wilhelm Reich und geprägt vor allem durch seinen norwegischen Schüler, den Psychiater Ola Raknes, entstand seit den 1970er Jahren eine Vielzahl von körperpsychotherapeutischen Schulen, die sich auf vielfältige Weise auseinander hervorentwickelten, einander beeinflussten, sich voneinander abgrenzen und spezifische Techniken und Konzepte entwickelten, vor allem:
und viele andere
Von Ferenczi ausgehend wurden von manchen Analytikern in gewissem Umfang körperorientierte Methoden in die Psychoanalyse integriert. Der bekannteste von ihnen, Tilman Moser, betont vor allem das haltgebende Stützen und das behutsame Erkunden von Wünschen und Ängsten im körpersprachlichen Dialog sowie die analytische Aufarbeitung körperlicher Übertragungen und Gegenübertragungen.
Peter Geißler entwickelte eine Variante der körperorientierten Psychoanalyse vor allem zur Intensivierung der Regression. Hans-Joachim Maaz verband schon in der DDR analytische Psychotherapie mit körperorientierten Techniken. George Downing entwickelte aus der Verbindung von psychoanalytischer Objektbeziehungstheorie, Säuglingsforschung und Körperpsychotherapie eine Theorie der affektmotorischen Schemata, also von verfestigten Gefühls-und Bewegungsmustern, die in der Körperpsychotherapie diagnostisch genutzt und therapeutisch umgewandelt werden können.
In der Körperpsychotherapie wird parallel auf mehreren Ebenen zugleich kommuniziert. In der Regel (nicht immer) sprechen Therapeut und Patient auch während der körperpsychotherapeutischen Arbeit miteinander. Der Therapeut spricht den Patienten verbal an, und der Patient teilt dem Therapeuten sein Erleben (vor allem sein Probleme und Wünsche) verbal mit. Daneben gibt es aber auch nonverbale Ebenen der Kommunikation, die in der Körperpsychotherapie gezielt reflektiert und genutzt werden.
Auf diese Weise entsteht in der Körperpsychotherapie ein verbaler und nonverbaler Dialog zwischen Therapeut und Patient, der unterschiedlichen Ebenen zugleich berührt, besonders die Ebene
Auf all diesen Ebenen kommunizieren Therapeut und Patient miteinander, wobei in der gegenwärtigen Interaktion sowohl Beziehungsmuster aus der Vergangenheit als auch Lebenspläne für die Zukunft eingehen. Dies kann entweder unbewusst geschehen (wir sprechen dann von Übertragungen bzw. Lebensskripten) oder bewusst (in Form von biografischer Reflexion oder Auseinandersetzung mit Lebenszielen).
Der Therapeut nimmt die Handlungen und Reaktionen des Patienten im psychotherapeutischen Prozess mit seinen Sinnen unmittelbar wahr (d.h. er hört und sieht, was der Patient sagt und tut). Auf der unterschwelligen Ebene der psychosomatischen Resonanz erspürt der Körperpsychotherapeut darüber hinaus gleichzeitig durch seine eigene Person und durch seinen eigenen Körper hindurch Aspekte des Erlebens des Patienten, die dieser unterschwellig (als subliminal) ausdrückt. All dieses Wahrgenommene und Erspürte bringt der Körperpsychotherapeut dann in seine verbalen und nonverbalen Interventionen im körperpsychotherapeutischen Prozess ein.
Informationen über meine Fortbildungen, Gruppenangebote und Workshops:
Werner Eberwein
In einem 9-minütigen Kurzvortrag habe ich (Werner Eberwein) auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie (DGK) 10.-13.9.2015 ausgeführt, warum die Körperpsychotherapie trotz ihrer historischen und konzeptuellen Bezüge zu psychodynamischen Richtungen ein humanistischer Ansatz ist:
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Das Problem, aus dem heraus wir 2010 die Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie gegründet haben, war die Frage: Wie können wir verhindern, dass die humanistischen Ansätze – darunter auch die Körperpsychotherapie – in den nächsten 20 Jahren in Deutschland praktisch aussterben? Die alten Häsinnen und Hasen der Körperpsychotherapie gehen langsam auf die Rente zu. Die von den Unis nachwachsenden Master-Psychologinnen und Psychologen lernen als Standardverfahren von der Pieke auf Verhaltenstherapie. Bereits die Tiefenpsychologie gilt mancherorts als eine Art Protest-Variante. Die humanistischen und körperorientierten Richtungen werden an vielen Hochschulen entweder ignoriert oder pauschal – und völlig unberechtigt – als „unwissenschaftlich“ verunglimpft. Humanistische Ansätze wie die Gesprächspsychotherapie wurden trotz wissenschaftlicher Anerkennung mit perfiden Manövern ins Abseits gedrängt. Die Approbationsausbildungen sind rammelvoll, obwohl sie von der Praxis-Orientiertheit, der Selbsterfahrungs-Intensität und der klinischen Wirksamkeit her körperpsychotherapeutischen Ausbildungen -vorsichtig ausgedrückt – nicht unbedingt überlegen sind. Viele junge approbierte Psychotherapeuten kennen Wilhelm Reich bestenfalls dem Namen nach und können sich unter Körperpsychotherapie höchstens vage etwas vorstellen. Gleichzeitig werden besonders die körperpsychotherapeutischen Ansätze wie Steinbrüche benutzt, um die kassenanerkannten Richtlinienverfahren mit hochwirksamen körperorientierten Techniken aufzupeppen. Wenn aber ein Analytiker, Tiefenpsychologe oder Verhaltenstherapeut mit Kassenzulassung in einen Bericht an den Gutachter schreiben würde: „Ich wende biodynamische Massage, Berührungsarbeit und bioenergetischen Ausdrucksübungen an“, muss er mit einer Ablehnung seines Antrages rechnen.
Trotz einiger erfreulicher Integrationsversuche wie am IfP Potsdam, an der Köln-Bonner Akademie und bei ZIST kann von einer umfassenden Ausbildung zum Körper-Psychotherapeuten im Rahmen einer Approbationsausbildung bisher noch keine Rede sein, und es ist nicht absehbar, dass sich das demnächst grundlegend ändert. Ganz anders im Rahmen der Humanistischen Psychotherapie. Hier ist die DGK Gründungsmitglied und die Körperpsychotherapie ist ganz selbstverständlich als eigenständiger humanistischer Ansatz akzeptiert. Wenn der Wissenschaftliche Beirat die Humanistische Psychotherapie als ein Verfahren anerkennt, könnten alle derzeitigen körperpsychotherapeutischen Ausbildungsinstitute schon nächstes Jahr Approbationsausbildungen anbieten, und wir könnten beim Gemeinsamen Bundesausschuss einen Antrag auf Kassenfinanzierung stellen.
Die Unterscheidung zwischen „Verfahren“ nach der Terminologie des Beirats sowie die Notwendigkeit, sich solchen Verfahren zuordnen zu müssen, entspricht weder den aktuellen internationalen Gepflogenheiten noch den Diskussionen der Scientific Community oder den historischen Entwicklungen der Psychotherapie. Diese Zuordnungen werden uns auf bürokratische Weise aufgezwungen, wenn wir in die Möglichkeiten der Approbationsausbildung und letztlich der Kassenfinanzierung kommen wollen. Wir kommen nicht darum herum, uns diesen gesellschaftlichen Machtverhältnissen gegenüber so oder so zu positionieren. Wenn wir sie ignorieren, können wir für lange Zeit nur mit solchen Patienten rechtlich abgesichert und offen körperpsychotherapeutisch arbeiten, die sich das – wenn erforderlich auch über mehrere Jahre hinweg – finanziell leisten können.
Das Verfahren „Humanistische Psychotherapie“, wie wir es in unseren Antrag an den Beirat definiert haben, ist der aktuelle Stand entwickelter psychotherapeutischer Ansätze, die sich inzwischen weit über ihre gemeinsame Wurzel in der humanistischen Psychologie der 1960er Jahre hinaus entwickelt haben. Im Humanistischen Psychotherapieverfahren wird schwerpunktmäßig betont, was am Menschen spezifisch menschlich ist, was also über das bloß-animalische bzw. biologisch-homöostatische hinausgeht. Natürlich erkennt die Humanistische Psychotherapie an, dass der Mensch auch ein Tier ist, „. aber er ist unendlich mehr als ein Tier, und zwar um nichts weniger als eine ganze Dimension, nämlich die Dimension der Freiheit“ schreibt Viktor Frankl.
In ihrem Menschenbild betonen die Humanistischen Richtungen bestimmte Schwerpunkte:
Selbstverständlich sind all das keine moralischen Kategorien, all das kann so oder so genutzt werden, aber jedenfalls sind all das Grund-Voraussetzungen für und zentrale Inhalte einer humanistisch orientierte Psychotherapie.
Was unsere Motivationen betrifft streben nur wir Menschen nach Selbstverwirklichung, nach psychosozialem Wachstum. Wir haben ein Bedürfnis nach personaler Begegnung, nach Seelenspiegelung, nach Austausch und Intimität und nach einem sinnerfüllten Leben.
Auch was die klinische Praxis betrifft haben die Humanistischen Richtungen bestimmte Schwerpunkte entwickelt:
Obwohl all das ursprünglich Essentials der Humanistischen Psychotherapie und in anderen Richtungen zunächst völlig unbekannt waren, wurden mehr und mehr Versatzstücke dieser Arbeitsweisen von den Richtlinienverfahren in ihre eigenen Paradigmen eingebaut und – in der Regel ohne Bezug auf ihre humanistischen Quellen – zu Eigenentwicklungen erklärt.
Zum Abschluss drei Thesen:
Werner Eberwein
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Mentalisierung oder Mentalisieren ist ein in den letzten Jahren besonders unter Psychiatern und Psychoanalytikern häufig verwendeter abstrakter Begriff für eine Reihe psychischer Tätigkeiten bzw. Fähigkeiten. Er entspricht weitgehend dem, was der 2015 verstorbene Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, Marshall Rosenberg, als „Empathie und Selbstempathie“ bezeichnete, sofern man den Begriff „Empathie“ weit fasst und darunter nicht nur das Einfühlen in Emotionen, sondern auch das Reflektieren bzw. das Sich-Hineinversetzen beispielsweise in Einstellungen, Überzeugungssysteme und subjektive Bedeutungen versteht.
Mentalisieren bedeutet, sich der eigenen psychischen (also geistigen, „mentalen“) Prozesse und der anderer Menschen in Interaktion miteinander und in ihren Wechselwirkungen mit dem Verhalten gewahr zu sein. Das bedeutet, die eigenen Gefühle, Bedürfnisse, Einstellungen, Bewertungen usw. angemessen und zutreffend reflektieren zu können und gleichzeitig die psychischen Prozesse anderer Personen, sowie beide in ihrer Wechselwirkung miteinander und in ihrem Zusammenhang zum Verhalten beider in der sozialen Interaktion angemessen zu repräsentieren. Mentalisieren bedeutet, auf achtsame Weise die eigene, innere, psychische Verfassung wahrzunehmen, sowie sich die Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu vergegenwärtigen sowie die Fähigkeit, über beide reflektierend nachzudenken.
Mentalisieren ist die Fähigkeit, psychische Zustände in sich selbst und den anderen Menschen als solche bewusst wahrnehmen zu können, sie also als etwas Subjektives zu erfassen, was nicht unmittelbar identisch mit der äußeren Realität ist. Dieses Gewahrsein ist eine zentrale Voraussetzung für angemessene emotionale, Beziehungs- und Energieregulation sowie für die Stabilität interpersonalen Beziehungen. Mentalisieren heißt, sich eigenes und fremdes Verhalten zu erklären, indem man es mit inneren Zuständen wie Gefühlen, Bedürfnisse und Überzeugungen in Beziehung setzt.
Die Fähigkeit zum Mentalisieren ist etwas, was soweit wir wissen einzig dem Menschen zukommt und bei Tieren nicht oder nur sehr rudimentär vorhanden ist.
Der kognitive Aspekt des Mentalisieren besteht aus der Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände interpretieren, also quasi am Verhalten der anderen ablesen zu können was vermutlich in ihren Köpfen vorgeht und das eigene Erleben reflektierend-nachdenkend erfassen zu können. Das bedeutet, eine Vorstellung davon zu besitzen, welche mentalen (also geistigen, psychischen) Gründe für das Verhalten eines Menschen vorliegen könnten. Sich selbst zu Mentalisieren bedeutet unter anderem, reflektierend zu erfassen, welche biografischen Erfahrungen zu den jetzigen Gefühlen, Bedürfnissen und Überzeugungen geführt haben, und wie diese wiederum mit dem aktuellen Verhalten zusammenhängen.
Somit sind die Mentalisierungsfähigkeiten eine Grundvoraussetzung dafür, andere Menschen verstehen, ihr Verhalten deuten und sich auf die jeweilige soziale Umgebung einstellen zu können. Mentalisieren dient zur Orientierung in jeder sozialen Interaktionen und Beziehung sowie zur Regulation der eigenen Emotionen und Bedürfnisse.
In der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung wurde ein starker wechselseitiger Zusammenhang zwischen Mentalisierungsfähigkeit und Bindungssicherheit festgestellt. Sicher gebundene Kinder (im Sinne von John Bowlby) entwickeln stärkere Mentalisierungfähigkeiten. Kinder von Eltern, deren Fähigkeit zu Mentalisieren gut ausgeprägt ist, entwickeln einen sicheren Bindungsstil.
Ein weitgehendes Fehlen von Mentalisierungsfähigkeiten liegt bei autistischen Menschen vor, die, je nach Schwere ihrer Störung, geistige und insbesondere emotionale Prozesse in sich selbst und in anderen Menschen nicht angemessen oder überhaupt nicht erfassen können. Auch Borderline-Patienten können nur begrenzt (und unter Stress überhaupt nicht mehr) Mentalisieren. Sie nehmen ihre eigenen psychischen Zustände (vor allem ihre Gefühle) nicht als etwas Subjektives wahr, sondern als zweifelsfrei notwendige Reaktion auf die äußere Situation. Sie sind nicht in der Lage, zu erkennen, dass in derselben Situation auch andere Interpretationen oder Gefühlsreaktionen möglich und eventuell auch angemessener sein könnten. Wenn Mentalisierung scheitert, nimmt ein Mensch die Personen seiner sozialen Umgebung nicht mehr als fühlende Subjekte, also als Personen wahr, sondern als Dinge, also als Gegenstände und geht entsprechend mit ihnen um.
Die Mentalisierungstheorie geht zurück auf die englischen Psychoanalytiker Peter Fonagy und Mary Target, die sie zum besseren Verständnis und zur Behandlung besonders von Menschen mit strukturellen Störungen aus der Bindungsforschung in der Nachfolge von John Bowlby heraus entwickelten. Die Mentalisierungtheoretiker (Fonagy, Gergely, Jurist, Allen u.a.) haben auf dieser Basis ein Konzept mentalitätsbasierter Psychotherapie insbesondere für die Arbeit mit Borderline-Patienten sowie mit traumatisierten, paranoiden oder schizophrenen Patienten und für die Kindertherapie entwickelt. Sie zielt im Wesentlichen darauf ab, die Fähigkeit der Patienten zu angemessener und zutreffender Mentalisierung zu fördern bzw. überhaupt erst zu entwickeln.
Menschen mit strukturellen Störungen tendieren dazu, aufgrund unreflektierter Überzeugungen ihre Emotionen unmittelbar auszuagieren und damit ihr eigenes emotionales Schicksal zu re-inszenieren. Die Alternative dazu ist das Mentalisieren im Sinne einer psychischen Reflexion der aktuellen mentalen Interaktion und das mentalisierende Verstehen der eigenen Lebensgeschichte.
Kernelement einer mentalisierungsgestützten Behandlung ist es, den Patienten allmählich zu befähigen, sein eigenes Erleben als etwas Subjektives zu erfahren und die psychische Wirklichkeit anderer Menschen als eigenständig zu erkennen und anzuerkennen. Der Patient wird ermutigt (und gelegentlich konfrontativ aufgefordert), zu erkunden, wie er in Bezug auf sich selbst und auf andere fühlt und denkt, wie dies sein Handeln bestimmt und welche (zum Teil unreflektierten) aber von ihm zunächst als absolut sicher angenommenen Interpretationen er seinem sozialen Handeln zugrunde legt. Auf diese Weise kann der Patient u.a. lernen, dass das Verhalten anderer Menschen auch anders interpretiert werden bzw. etwas anderes bedeuten kann, als das, wovon der Patient bisher mit Sicherheit ausging.
Besonders unter dem Einfluss starker Emotionen oder verwirrende Gefühle können Menschen schnell ihre Mentalisierungsfähigkeiten verlieren. Borderline-Patienten reagieren in solchen Situationen oft mit massiver Wut oder mit Selbstverletzungen. Hier kann der Therapeut sie auffordern, innezuhalten, sich auf den Augenblick der Unterbrechung (und des Ausbruchs des oft massiven Konflikts) zu fokussieren, ihre eigenen mentalen (emotionalen und kognitiven) Prozesse in diesem Moment reflektierend zu untersuchen sowie alternative Hypothesen über die mentalen Prozesse der anderen Person/en zu entwickeln.
Mentalisiert werden vor allem Gefühle, aber auch Wünsche, Bedürfnisse, Gedanken, Überzeugungen, Beweggründe, Vorstellungen und Fantasien. Die Tätigkeit des Mentalisierens umfasst u.a. Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Erkennen, Beschreiben, Interpretieren, Schlussfolgern, Vorstellen, Erinnern, Reflektieren und Antizipieren. Aus alldem ist unsere Fähigkeit, uns selbst und anderen Menschen zu verstehen und uns in sozialen Interaktionen angemessen zu verhalten, zusammengesetzt.
Das Fördern der Mentalisierungsfähigkeiten ist ein Kernaspekt jeder reflektierenden Psychotherapie. Der Psychotherapeut richtet seine intensive Aufmerksamkeit, und somit auch die Aufmerksamkeit des Patienten auf dessen „Innenleben“ in Interaktion mit dem Innenleben der Menschen, die ihm nahe stehen, so auch mit dem Innenleben des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung und Übertragung.
Die Fähigkeit zu Mentalisieren entsteht bereits im Säuglingsalter durch Prozesse der emotionalen Spiegelung zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen. Säuglinge erhalten von ihren Elternpersonen ein beständiges, unmittelbares emotionales Feedback, zum Beispiel durch Mimik, Geste, Augenausdruck, Stimmlage, Berührungen usw. für ihre eigenen mentalen Zustände. Dieses Feedback kann je nach Mentalisierungs-(d.h. Empathie- und gleichzeitiger Distanzierungs-)Fähigkeit der Eltern mehr oder weniger zutreffend und angemessen sein.
Die Mentalisierungsfähigkeiten entstehen durch frühe, präverbale Prozesse der Affektspiegelung im Säuglingsalter. Säuglinge können ihre Emotionen zunächst nur undifferenziert wahrnehmen. Sie werden sich ihrer eigenen Gefühle und ihrer emotionalen Zustände erst durch die spiegelnden Reaktionen der primären Bezugspersonen auf ihren emotionalen Ausdruck bewusst. Die „Affektspiegelung“ durch die primären Bezugspersonen geschieht in der Regel auf eine übertriebene, emotional überbetonte Weise („Babysprache“) und auf eine Weise, die den emotionalen Zustand des Säuglings nicht „eins zu eins“ wiedergibt, also nicht exakt spiegelt, sondern auf eine modulierende („markierte“) Weise. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Säugling verzweifelt weint und seine Mutter auf eine beruhigende und tröstende Weise zu ihm spricht. So macht der Säugling die Erfahrung, dass die Bezugspersonen zwar abgestimmt auf seine Gefühlsäußerungen reagieren, diese aber nicht identisch wiederspiegeln. Dieser Prozess ist die Basis für das Erfassen der Gefühlszustände anderer, auf den eigenen Zustand eingestimmte Personen. Dies wiederum ermöglicht es dem Säugling, allmählich eine geistige Repräsentation („Metakognition“) seines emotionalen und psychischen Zustandes (ein „Selbstbild“) zu entwickeln.
Eine Bezugsperson, die sich zum Beispiel aufgrund von aktuellen Stress oder starker psychischer Belastung von den Äußerungen und Bedürfnissen des Säuglings überfordert oder überflutet fühlt, kann nicht angemessen darauf reagieren. Stattdessen reagiert sie mit ihren eigenen Gefühlen, etwa von Gestresstheit, Genervtheit, Wut, Hilflosigkeit oder Verzweiflung. Dem Säugling wird dann nicht sein eigenes Befinden, sondern das (emotional dysregulierte und unabgestimmte) Befinden der Bezugspersonen gespiegelt. Der Säugling entwickelt in Reaktion darauf verzerrte Repräsentationen seines eigenen Zustandes, aus denen im Laufe der Zeit ein „falsches Selbst“ (Winnicott) entstehen kann.
Unter explizitem Mentalisieren versteht man das bewusste Repräsentieren eigener und/oder fremder psychischer Zustände im Nachdenken oder Sprechen über diese – Psychotherapie kann somit verstanden werden als eine Form des expliziten Mentalisierens. Dies bezieht sich nicht nur auf den aktuellen mentalen Zustand des Patienten und der Menschen seiner aktuellen Umgebung, sondern auch auf Versuche, nachträglich Ereignisse und Prozesse (beispielsweise aus der Kindheit des Patienten) auf mentalisierende, also die psychische Interaktion reflektierende Weise zu erfassen oder sich auf künftige soziale Situationen mentalisierend einzustellen.
Das implizite Mentalisieren geschieht nicht bewusst, sondern beiläufig. Es besteht aus unserem untergründigen Gefühl für uns selbst und einem beiläufigen Erfassen der mentalen Zustände des Gegenüber im sozialen Kontakt, auch wenn dies nicht explizit bewusst oder im Gespräch zum Thema wird.
Patienten mit Entgrenzungsproblematiken handeln dagegen oft „unreflektiert“, also ohne ihre eigenen Gefühlszustände und Überzeugungen als solche, und das heißt als etwas Subjektives wahrzunehmen. Ebenso neigen diese Patienten dazu, anderen Menschen ungeprüfte Interpretationen von deren Motivationen zu unterstellen und auf diese unverrückbar zu beharren, auch wenn es sich dabei um fragwürdige Hypothesen handelt (z.B. „Der will mich doch nur ausnutzen!“).
Gestörtes oder scheiterndes Mentalisieren kann die Form konkretistischer oder projektiver psychischer Verarbeitung annehmen, in der zwischen Interpretation und Wirklichkeit, Fantasie und Realität, Gefühl und Welt nicht mehr unterschieden wird („psychischer Äquivalenzmodus“).
Ein Misslingen der interaktiven Mentalisierung tritt auch bei nicht strukturell gestörten Personen in Situationen von massivem Stress oder akuter Verwirrung auf. Auch hier kann die Förderung der Mentalisierungsfähigkeiten dazu dienen, Neigungen zu panischen Stressreaktionen (z.B. übertreibene Eifersucht) zu entschärfen und auch in verwirrenden Konstellationen den Boden unter den Füßen zu behalten.
Mentalisieren geht mit einem angemessenen Maß an psychologischer Sensibilität einher, also einer intuitiven Feinfühligkeit für das, was im eigenen Inneren und in dem des Gegenüber vor sich geht, um sich selbst, den anderen und die Beziehung miteinander besser zu verstehen. Die Fähigkeit zur Mentalisierung ist eine grundlegende Voraussetzung psychischer Gesundheit und stabiler, befriedigender sozialer Beziehungen.
Möglichst präzises und zugleich für Veränderbarkeit offenes Mentalisieren setzt eine mitfühlende, akzeptierende, wohlwollende und wertschätzender Haltung sich selbst und dem anderen gegenüber voraus und fördert die Fähigkeit zu Gebundenheit, Verbundenheit und Intimität in Beziehungen.
Literatur
Werner Eberwein
Was ist Existenzialismus – Teil 3 von 3 (ca. 30 Min.):
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