historycast -  Was war, was wird?

Saison-, Fremd- und Gastarbeiter. Arbeitsmigration nach Deutschland


Listen Later

4,12: Heiner Wember im Gespräch mit Ulrich Herbert

Der Begriff "Gastarbeiter" entstand bereits in der NS-Zeit, berichtet der Historiker Ulrich Herbert im historycast. Allein im Zweiten Weltkrieg seien bis zu 13,5 Millionen Menschen als sogenannte "Zwangsarbeiter" nach Deutschland verschleppt worden. In den 1950er Jahren sorgten Vertriebene und Flüchtlinge für ausreichend Arbeitskräfte in der Bundesrepublik. Anwerbeabkommen seinen erst nach dem Mauerbau 1961 relevant geworden, als keine geflohenen Fachkräfte aus der DDR mehr zur Verfügung standen. Herbert bezweifelt allerdings, dass die sogenannten Gastarbeiter für den Wohlstand der Bundesrepublik unerlässlich waren. Sehr lange habe die Politik, vor allem die Union, nicht akzeptieren wollen, dass Deutschland zum Einwanderungsland geworden sei. Rechtsradikale hätten in ganz Europa das Thema Migration für sich entdeckt und politisiert. Die Situation für Migranten, so Ulrich Herbert im Gespräch mit Heiner Wember, sehe in Deutschland besser aus als in den meisten anderen europäischen Ländern "nach den Maßstäben Heiratsverhalten, Aufstieg, sozialer Aufstieg, Kinder." Herbert kommt zu dem Ergebnis: "Insgesamt ist die Migrationsgeschichte der letzten 40, 50 Jahre in Deutschland eine Erfolgsgeschichte."

Professor Ulrich Herbert ist Historiker und hat 25 Jahre lang Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg gelehrt. Er gehört zu den führenden deutschen Historikern zur Migrationsgeschichte und zu den Themen Nationalsozialismus und Geschichte der Bundesrepublik.

Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.

Staffel 4, Folge 12 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V.

[http://geschichtslehrerverband.de]

Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.

**Saison-, Fremd- und Gastarbeiter. Migration nach Deutschland **

Die Geschichte der Migration nach Deutschland ist geprägt von wechselnden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Debatten. Sie reicht von den Saisonarbeitern der Kaiserzeit über die Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus bis hin zu den sogenannten Gastarbeitern der Nachkriegszeit und den Herausforderungen des modernen Einwanderungslandes.

Von der Saisonarbeit zur Arbeitsmigration

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts setzte mit der Industrialisierung eine starke Wanderungsbewegung innerhalb des Deutschen Reiches ein – viele Arbeitskräfte aus den östlichen Teilen des Reiches sowie aus Polen, Holland und Italien zogen in die boomenden Industriegebiete. Der Begriff „Saisonarbeiter“ bezeichnete damals vorwiegend ausländische Landarbeiter, die nur für die Erntezeit ins Land kamen. Die Angst vor „Polonisierung“ und „Überfremdung“ führte zu ersten rechtspopulistischen Zusammenschlüssen wie dem Alldeutschen Verband – ein früher Ursprung des Rechtsradikalismus in Deutschland.

Zwangsarbeit im Nationalsozialismus

Während des Zweiten Weltkriegs setzte sich der Begriff „Fremdarbeiter“ für ausländische Zwangsarbeiter durch, die insbesondere in der Landwirtschaft und Rüstungsindustrie eingesetzt wurden. Insgesamt befanden sich bis zu 13 Millionen Arbeitskräfte aus dem Ausland zeitweise im deutschen Einflussbereich, darunter auch viele Kriegsgefangene. Die Todesrate unter sowjetischen Kriegsgefangenen direkt nach dem deutschen Angriff 1941 war besonders hoch. Etwa drei Millionen Menschen starben in Massenlagern hinter der Front. Ein Verbrechen, das bis heute wenig thematisiert wird.

Integration und Wandel nach 1945

Nach Kriegsende änderte sich das Bild: Die Bundesrepublik musste nicht nur die eigene Bevölkerung versorgen, sondern auch Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten integrieren. Die Arbeitslosigkeit war zunächst hoch, doch ab Mitte der 1950er-Jahre setzte wirtschaftlicher Aufschwung ein. Die Anwerbeabkommen mit Italien ab 1955 und später mit weiteren Ländern führten zur gezielten Arbeitsmigration ab 1961 – zunächst aus Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien und schließlich aus der Türkei. Der Begriff „Gastarbeiter“ bürgerte sich ein, wurde aber zunehmend kritisch hinterfragt.

Der Mythos „Gastarbeiter“ und die Realität

In Hochphasen der Arbeitsmigration lebten mehrere Millionen ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland – oft in schlecht bezahlten und gesundheitsschädlichen Jobs der Industrie und des Bergbaus. Die Vorstellung, dass sie nach einigen Jahren wieder zurückgehen würden, erfüllte sich nur zum Teil: Viele holten ihre Familien nach und blieben dauerhaft. Das führte zu wachsender gesellschaftlicher Debatte über Integration, Bildung und das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland. In den 1970er-Jahren kulminierte diese Entwicklung in wilden Streiks und wachsender Sichtbarkeit ausländischer Arbeitnehmer in Gewerkschaften.

Der Wandel der Asyldebatte seit 1980

Seit den 1980er-Jahren steht das Asylrecht verstärkt im Mittelpunkt der politischen Debatte. Neue Migrationsbewegungen aus Krisen- und Kriegsgebieten (Vietnam, Jugoslawien, Osteuropa) waren begleitet von politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Besonders nach der Wiedervereinigung kam es zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen und Pogromen, die zu weitreichenden gesetzlichen Änderungen führten. Bis heute gibt es eine direkte Korrelation zwischen der wirtschaftlichen Lage und der Zahl der Asylbewerber.

Migration als Erfolgsgeschichte

Heute haben rund 30 Prozent der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Betrachtet man die Nachkriegsflüchtlinge und Vertriebenen, hat über die Hälfte der Bevölkerung migrantische Wurzeln. Trotz zahlreicher Herausforderungen, wie Debatten über Integration, Gleichberechtigung und Bildung, kann die Migrationsgeschichte Deutschlands in den letzten 50 Jahren insgesamt als Erfolgsgeschichte gewertet werden – sie hat zur Modernisierung, gesellschaftlichen Vielfalt und wirtschaftlichen Dynamik beigetragen.

...more
View all episodesView all episodes
Download on the App Store

historycast -  Was war, was wird?By Dr. Almut Finck und Dr. Heiner Wember