4,9: Heiner Wember im Gespräch mit Simone Blaschka
"Auswandern war eine Befreiung und auch eine Abstimmung mit den Füßen". Sagt die Historikerin und Migrationsforscherin Simone Blaschka im historycast. Etwa sechs Millionen Deutsche schifften sich bis zum Ersten Weltkrieg, meist in Bremerhaven und Hamburg, ein und suchten ihr Glück in Übersee, vor allem in den USA. Zuvor war etwa eine dreiviertel Million Deutsche über die trockene Grenze ausgewandert - Richtung Osten, vor allem nach Russland. Sie alle hofften auf ein besseres Leben, aber auch mehr Freiheit. Die wirtschaftliche Not in Deutschland und Überbevölkerung waren die Hauptursachen der deutschen Migration. Die Auswanderer sorgten in ihrer neuen Heimat für Aufschwung und Wohlstand. Und etwa 20 Prozent kamen zurück. "Sie haben im Deutschen Kaiserreich viel angestoßen, was ohne sie gar nicht passiert wäre", so Historikerin Blaschka.
Dr. Simone Blaschka leitet das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven. Dieses Museum war das erste, das sich in Deutschland dem Thema Migration widmete.
Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.
Staffel 4, Folge 9 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V.
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Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
Deutsche Auswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert – Gründe, Routen und Schicksale
Zwischen 1816 und dem Ende der Weimarer Republik wanderten etwa sechs Millionen Deutsche nach Übersee aus, überwiegend in die USA. Die wichtigsten Motive waren wirtschaftliche Not, Überbevölkerung, fehlendes Land und strukturelle Arbeitslosigkeit in Handwerk und Landwirtschaft. Hinzu kamen politische Gründe, insbesondere nach der Revolution von 1848: die sogenannten 48ers prägten später die amerikanische Politik mit, etwa Carl Schurz als Innenminister.
Das 19. Jahrhundert war in Deutschland durch starkes Bevölkerungswachstum geprägt. In vielen Dörfern – etwa in Niedersachsen – herrschte verdeckte Arbeitslosigkeit bis zu 30 %. Mit der erst langsam einsetzenden Industrialisierung fanden viele Menschen keinen Platz mehr in den alten Berufen. Auch Kettenmigration spielte eine Rolle: Wer erfolgreich ausgewandert war, zog weitere Menschen aus der alten Heimat nach.
Neben wirtschaftlichen und politischen Ursachen gab es religiöse Motive (insbesondere im 17./18. Jahrhundert) sowie den pragmatischen Export von Strafgefangenen nach Amerika durch deutsche Staaten. Der oft kolportierte „Abenteurerdrang“ war dagegen ein Mythos – Auswanderung war eine wohlüberlegte, riskante Lebensentscheidung.
Vor der großen Übersee-Auswanderung zog es viele Deutsche Richtung Osten, etwa an die Wolga oder nach Bessarabien. Katharina II. warb gezielt Siedler an und versprach Unterstützung – Versprechen, die häufig nicht eingehalten wurden.
Ab 1830 entwickelte sich Bremerhaven neben Hamburg zum wichtigsten deutschen Auswandererhafen. Der Transport war teuer: Eine Überfahrt entsprach oft einem Jahreseinkommen eines Handwerkers. Entgegen gängiger Vorstellungen waren die Migranten meist nicht die Ärmsten, sondern Familien aus der unteren Mittelschicht, die Kapital für den Neuanfang besaßen.
Die Reise erfolgte zunächst auf Segelschiffen, oft unter katastrophalen Bedingungen im Zwischendeck. Hohe Sterblichkeit durch Krankheiten wie Ruhr, fehlende Hygiene und Enge prägten den Alltag. Erst durch gesetzliche Vorschriften – etwa in Bremen ab 1832 – verbesserten sich Verpflegung und Sicherheit.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts dominierten Dampfschiffe. Große Reedereien wie Norddeutscher Lloyd (Bremen) und Hapag (Hamburg) konkurrierten mit internationalen Linien. Später entstanden luxuriöse Oceanliner, die nicht nur Auswanderer, sondern auch wohlhabende Touristen beförderten. Besonders bekannt wurde die von Albert Ballin geschaffene „Ballinstadt“ in Hamburg als Auswandererzentrum.
Die meisten Deutschen reisten über New York ein, oft über Ellis Island, wo strenge Einreisekontrollen bestanden. Bis zu 3 % wurden zurückgeschickt, vor allem Arme oder Kranke. Wer es schaffte, zog häufig in den Mittleren Westen, nach Pennsylvania oder Texas, wo Land und Arbeit lockten. Deutsche gründeten Siedlungen, Farmen und Unternehmen.
Bekannte Biografien sind Johann August Röbling (Erbauer der Brooklyn Bridge), Levi Strauss (Erfinder der Jeans) und Friedrich Trump, Großvater von Donald Trump. Aber auch unzählige „namenlose“ Migranten, wie die Bäckersfrau Martha Hüner, schrieben Geschichten von Integration und Scheitern.
Rund 20 % der Auswanderer kehrten zurück nach Deutschland, viele brachten Ideen, Kapital und Innovationen mit. Migration war damit auch Motor von wirtschaftlicher Modernisierung und kulturellem Austausch. Beispiele sind das Bandoneon nach Argentinien, das deutsche Bier nach Amerika oder Firmengründungen wie Heinz Ketchup.
Insgesamt emigrierten im „langen 19. Jahrhundert“ (1800–1914) rund 44 Millionen Europäer, davon sechs Millionen Deutsche. Deutschland ist deshalb nicht nur ein Einwanderungsland, sondern zugleich ein klassisches Auswanderungsland.