Almut Finck im Gespräch mit Ibrahim Cindark
Wie verändert Migration die deutsche Sprache – und wie viel Vielfalt steckt eigentlich im heutigen „Kiezdeutsch“? Im neuen historycast spricht Almut Finck mit dem Soziolinguisten Ibrahim Cindark über die sprachlichen Spuren von Einwanderung und Integration. Cindark erläutert, wie Gastarbeiterdeutsch, Kanak Sprak und Jugendsprache entstehen, warum Begriffe wie „Lan“ und „Yallah“ ihren festen Platz im deutschen Alltag gefunden haben und weshalb die Aufnahme von fremden Wörtern ein Zeichen für die Lebendigkeit einer Sprache, nicht ihren Niedergang ist. Der Podcast beleuchtet, wie Migration schon immer zum Wandel von Sprache beigetragen hat – von französischen Lehnwörtern zur Zeit der Einwanderung der Hugenotten bis zur Gegenwart. Es wird diskutiert, wie Code-Switching sowie neue urbane Sprechstile unser Verständnis vom Deutschen und auch das, was im Duden steht, nachhaltig verändert haben.
Ibrahim Cindark forscht am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim zu Mehrsprachigkeit und interkultureller Kommunikation. Im historycast ordnet er Migration und Sprachwandel in die aktuelle Bildungsdebatte ein und zeigt, warum Sprache stets von Begegnungen und Vielfalt lebt.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Staffel 4, Folge 11 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V.
[http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
In dieser historycast-Folge beleuchten Almut Finck und der Soziolinguist Ibrahim Cindark vom Mannheimer Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, wie Migration den deutschen Sprachwandel beeinflusst hat und weiterhin prägt. Die Episode setzt sich mit historischen und aktuellen Entwicklungen der deutschen Sprache auseinander, von französischen und türkischen Lehnwörtern bis hin zu urbanen Soziolekten wie Kiezdeutsch. Diskutiert werden die Rolle von Sprachvereinen, die Integration von Migrantensprachen, die Bedeutung von Jugendsprache und die gesellschaftliche Bewertung von Sprachvielfalt.
Migration und Sprachwandel in Deutschland
• Migration hat die deutsche Sprache seit Jahrhunderten immer wieder verändert.
• Französische Lehnwörter gelangten besonders durch die Hugenotten und den Adel ins Deutsche und beeinflussten Alltagssprache, Architektur und Literatur.
• Türkische und arabische Begriffe wie „Kaffee“, „Zucker“, „Kiosk“, „Döner“ oder „Hamam“ sind seit den 1960er Jahren Bestandteil des Deutschen, teils auch im Duden zu finden.
• Jugendwörter wie „Aura“, „Talahon“, „Sheesh“ oder „Yallah“ spiegeln aktuelle Sprachtrends wider; sie vermischen Einflüsse aus arabischen, türkischen und englischen Sprachen.
• Die Integration von Wörtern ins Deutsche ist ein fortlaufender Prozess, der nicht klar geregelt ist; Aufnahme in den Duden gilt häufig als „Ritterschlag“.
Sprachvereine und Widerstand gegen Fremdwörter
• Im 19. Jahrhundert entstand der Allgemeine Deutsche Sprachverein, der gezielt Neuschöpfungen wie „Landstraße“ oder „Bahnsteig“ erfand, um französische Begriffe zu ersetzen (Chaussee oder Perron).
• Viele Ersetzungen, etwa „Nahrohr“ für Mikroskop und „Kraftwagenschuppen“ für Garage, konnten sich jedoch nicht durchsetzen.
• Der heutige Verein Deutsche Sprache veröffentlicht seit 1997 einen Anglizismus-Index und schlägt alternative deutsche Begriffe vor, um den Einfluss englischer Wörter einzudämmen.
• Der Widerstand gegen Fremdsprachen im Deutschen wird kontrovers diskutiert; Erfolge sind heute seltener als im 19. Jahrhundert.
Kiezdeutsch, Gastarbeiterdeutsch und Kanak Sprak
• Die Gastarbeitergeneration prägte eine spezifische Lernersprache mit vereinfachten Strukturen, etwa dem Ausfall von Artikeln und Präpositionen.
• Kiezdeutsch, ein urbaner Multi-Ethnolekt, entstand in den 1990er Jahren in jugendlichen Migrantenmilieus und verbreitete sich.
• Jugendliche verfügen über ein vielfältiges sprachliches Repertoire und betreiben gezieltes Code-Switching zwischen Standarddeutsch, Soziolekt und Herkunftssprache.
• Begriffe wie „Kanak Sprak“ wurden als Bezeichnung für migrantisch geprägte Jugendsprache populär, sind aber wegen rassistischer Konnotation umstritten.
• Kiezdeutsch gilt nach Ansicht von Experten heute als eigenständiger Sprechstil, manche sprechen sogar von einem neuen Dialekt; der Begriff Soziolekt ist aber eher nacxh Ansicht Ibrahim Cindarks zutreffender.
Gesellschaftliche Bewertung und Klassismus
• Die Wertung von Migrantensprachen ist oft von Klassismus geprägt; Türkisch und Arabisch stehen im gesellschaftlichen Ansehen deutlich hinter Englisch und Französisch.
• Sprachliche Vielfalt durch migrantische Einflüsse wird von Teilen der Bevölkerung kritisch gesehen und als „falsches Deutsch“ bewertet; klassische Beschwerden über schlechte Jugendsprache sind seit Aristoteles belegt.
• Sprachverbote auf Schulhöfen werden als pädagogisch und sprachwissenschaftlich fragwürdig kritisiert.
• Das Konzept einer klar abgegrenzten deutschen Sprache wird als überholt betrachtet; in urbanen Räumen vermischen sich deutsche sowie migrantische Sprachformen zunehmend.
Schriftsprache und Bildungschancen
• Migration beeinflusst nicht nur die gesprochene, sondern auch die geschriebene Sprache; das Alphabet selbst entstand aus Wandarbeiter-Kontakten in der Antike.
• Unterschiede in der Schriftsprache zwischen Migranten und Nicht-Migranten lassen sich eher auf Bildungsnähe als auf Herkunft zurückführen.
• Das Repertoire der Jugendlichen umfasst Standarddeutsch, Herkunftssprache, verschiedene Dialekte und Formen des Mischens.