Das Wort zum Schabbat

Schabbat Re'eh || Jeden Tag neu entscheiden


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Amnon Seelig spricht zum Wochenabschnitt Re’eh (5. Mose 11,26–16,17) und setzt bei den Eingangsversen an: „Siehe, ich lege euch heute vor Segen und Fluch.“ Er wählt dafür die Luther-Übersetzung. Drei Leitfragen strukturieren seine Auslegung: Warum „heute“ und in der Gegenwartsform „ich gebe“? Warum der Wechsel von Singular („siehe“) zu Plural („euch“)? Und warum „sehen“ statt „hören“?

Bei ahavta - Begegnungen kannst du den Tora-Abschnitt der Woche in der Übersetzung durch Rabbiner Simon Bernfeld lesen oder sogar als Podcast anhören:

https://plus.ahavta.com/p/reeh

Erstens betont „heute“ die stets erneuerte Wahlfreiheit. Obwohl die Gebote bereits gegeben sind, formuliert die Tora im Präsens: Gott „gibt“ jeden Tag neu. Mit dem Vilnaer Gaon erläutert Seelig: Der Mensch ist nie an frühere Entscheidungen festgenagelt; er kann jederzeit den Weg ändern. „Heute“ heißt: tägliche Möglichkeit zur Umkehr und Verbesserung – bis zum Lebensende. Wer fragt, welches „Heilmittel“ es nach langem falschen Weg gibt, erhält die Antwort: die tägliche, konkrete Entscheidung.

Zweitens eröffnet der Wechsel von Singular zu Plural einen vielschichtigen Blick. Der Kotzker Rebbe liest „siehe“ (Singular) als Hinweis auf die je einzigartige Perspektive jedes Einzelnen: Alle empfangen denselben Text, doch jede Person hat ihre unverwechselbare Sicht auf die Tora. Der Chatam Sofer verbindet Singular und Plural mit Verantwortung: Segen und Fluch hängen am Verhalten der Gemeinschaft, dennoch darf sich der Einzelne nicht als „Tropfen auf dem heißen Stein“ entschuldigen. Die rabbinische Mahnung lautet: Man stelle sich die Welt halb schuldig und halb gerecht vor – die eigene Tat neigt die Waage. Daraus folgt praktische Verantwortung, etwa beim Wählen oder im ethischen Handeln. Der Vilnaer Gaon akzentuiert zusätzlich die Pflicht, nicht der Menge „wie einer Herde“ zu folgen: Der Einzelne prüft selbst, ob ein Weg wirklich der Tora entspricht. Schließlich führt Seelig eine kabbalistisch gefärbte Deutung an: Israel ist als Volk ein einziger Leib mit einer Wurzel der Seele; „siehe“ kann die Anrede an dieses eine Kollektivsubjekt sein. Als Musiker illustriert er das mit einem Bühnenbild: Man singt nicht vor 300 Menschen, sondern vor „einer Person in 300-facher Ausführung“ – individuelle Wahrnehmung innerhalb der Einheit.

Drittens steht „sehen“ und nicht „hören“. Zwar adressiert die Tora oft mit „Höre, Israel“, doch hier will sie die Augen öffnen: Segen und Fluch sind keine blinde Schicksalsmacht, sondern liegen in der menschlichen Wahl und Verantwortung. „Sehen“ meint: die Wirklichkeit erfassen, Einsicht gewinnen, Verknüpfungen erkennen – wie in Nizawim: „Ich lege dir heute vor Leben und Gutes, Tod und Böses.“ Es geht darum, dass Dinge nicht zufällig geschehen; Entscheidung und Verantwortung liegen in der Hand des Menschen.

Zum Schluss ergänze ich (Ricklef Münnich) zwei Gegenwartsbezüge: Erstens verlangt die Entscheidung für Gut und Böse, die Lage „heute“ zu sehen – die Situation Israels nach dem 7. Oktober 2023 ist nicht mit „davor“ vergleichbar. Zweitens gehört Streitkultur zum jüdischen Leben: Vielfalt der Auslegungen, harte Debatten auf Straße und im Parlament – und doch bleiben alle Teil von Am Jisrael.

Aus Seeligs Deutung folgt: persönliche Verpflichtung, gemeinschaftliche Verantwortung und das tägliche, sehende Entscheiden für den besseren Weg. Schabbat Schalom.

Viele weitere Informationen zum christlich-jüdischen Verhältnis, zu Israel und zum jüdischen Leben mit der Tora findest du auf meiner Website https://plus.ahavta.com



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Das Wort zum SchabbatBy Ricklef Münnich || ahavta - Begegnungen