Der Ausnahmezustand wird zur Bewährungsprobe für das Verhältnis zwischen staatlicher Autorität und bürgerlicher Selbstbehauptung.
Ein Standpunkt von Marco Siebert.
Der Staat umschließt mich gerade schützend mit seinen Armen. Es steht nicht in meiner Macht, die Enge dieser Umklammerung zu lockern noch mich daraus zu befreien. Das ist, was man Autorität nennt. Sie zeigt sich als Paradoxon, wenn sich die Regierung außerhalb der geltenden Rechtsordnung bewegt und zugleich jene Ordnung anwendet. Was Michel Foucault als „große Gefangenschaft“ umschreibt, legt sich auf mein Gemüt.
Es ist weniger Trotz als Sorge, wenn ein unglücklicherweise aus Verschluss entflohenes Dokument an die Bundesregierung eine marketing-psychologische Handlungs- und Gebrauchsanweisung für Politiker darstellt. Es ist betitelt mit „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ und ich vermisse das letzte Wort: „könnten“. Stellt das nicht die Urteilsfähigkeit meines Souveräns in Frage?
Souverän ist das Parlament, Autorität ist die Regierung und die Gewalten sind geteilt. Das ist das Rückgrat einer Demokratie. Der Ausnahmezustand fordert dagegen die Regierung an mehreren Fronten und seine Deklaration erhebt sie zum Souverän. Und immer steht die Glaubwürdigkeit des gesellschaftlichen Status quo auf dem Spiel. Jedes System braucht Stabilität, deren Garantie eine zentrale Forderung jeden Bürgers an das System Staat ist.
Ganz gleich, wo eine Bedrohung dieser Stabilität gesehen wird: Ob die progressive Linke ein Wirtschaftssystem als Quelle von Chaos verantwortlich sieht oder andere die Überfremdung zum Urgrund eines unfähigen Staates erheben; die Ursache liegt in tatsächlichen Lebensumständen und dem daraus erwachsenden Gefühl der Schutzlosigkeit. Das rüttelt an den Grundfesten einer Gesellschaft.
Naturkatastrophen und Pandemien sind allerdings Lebensumstände, deren imminente existentielle Gefahr tatsächliche Aktion benötigt. Das aus Politik zu Gesetz geronnene Recht kann hier keine Richtung vorgeben. Sein Rahmen wird für die Autorität unter Umständen zu beklemmend. Es wird zum Hindernis, sei es durch Prozess oder Materie. Es bleibt mir das Vertrauen auf die gerechten, die richtigen Entscheidungen derjenigen, die sich außerhalb der Rechtsordnung bewegen.
Gerechtigkeit ist keine hohle Phrase. Sie kann das Recht umschließen, jedoch nicht notwendig die Autorität, welche das Recht setzt. Der Ausnahmezustand teilt letzterer die fragile Möglichkeit von Autoritarismus zu. Seine Urteile müssen sich an dem Maßstab der Gerechtigkeit messen lassen.
Kann ich von Politikern Allwissen verlangen? Sie sind eben keine Philosophen-Könige, die den Ideen für eine gerechtere Gesellschaft zu Leben verhelfen könnten. Von der Regierung verlange ich zumindest Transparenz in ihren Überlegungen und Entscheidungen. Strategiepapiere sind offenbar Handlungsanweisungen, von einer Autorität an den Souverän des Ausnahmezustands; jemand flüstert ihm zu, wie zu handeln sei. Ein gewähltes Parlament disputiert offen, es streitet. Ohne die Verfassung als Ermächtiger des Souveräns und Korrektiv seiner Handlungen bin ich den Fesseln des positiven Rechts ausgeliefert, dessen Unrecht prinzipiell keine Grenzen gezogen sind.
Ich muss weder die Geschichte bemühen, noch auf Militärregierungen verweisen, um klar zu machen, wie Regierungen sich zur Fähigkeit ungerechten Urteilens legitimieren. In Europa beschreitet Ungarn offen den Weg in den Absolutismus, bei Staaten mit funktionierender Gewaltenteilung dagegen zeigen sich seit Langem Muster einer politischen Eindimensionalität, welche auf einem gewissen Fortschrittsglauben technokratischer Gesellschaften aufbaut. Demokratien sehen sich jederzeit einer ideologischen Einflussnahme ausgesetzt, die man nur mit Transparenz bekämpfen kann.
Doch selbst bei voller Transparenz scheint nichts das bürgerliche...