Ein Standpunkt von Christian Kreiß.
Der Absturz der türkischen Lira
Am 23. November 2021 betrug der Wechselkurs der türkischen Lira zum US-Dollar etwa 12,70 Lira pro Dollar.1 Mitte September lag der Kurs noch bei ungefähr 8,50. Heute bekommt man also etwa 50 Prozent mehr Lira pro Dollar als vor zwei Monaten. Vor fünf Jahren, im November 2016 stand die Lira bei ca. 3,5. Heute bekommt man also etwa dreieinhalb Mal so viele Lira pro Dollar wie vor fünf Jahren. Anders ausgedrückt: Die Lira hat sich in den letzten fünf Jahren im Wert beinahe geviertelt.
Hohe türkische Schulden in Fremdwährung
Die Türkei hatte im 2. Quartal 2021 laut Global Debt Monitor Schulden von insgesamt ca. 153 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt.2 Bei einem BIP von rund 720 Milliarden US-Dollar 2020 3 entspricht das etwa Schulden in Höhe von 1.100 Milliarden Dollar. Die Auslandsschulden betrugen im zweiten Quartal 2021 446 Milliarden Dollar.4 Das entspricht 62 Prozent des BIP. Nach Berechnungen des Institute of International Finance beliefen sich die Schulden der Türkei in ausländischer Währung zur Jahresmitte 2021 auf 80 Prozent vom BIP.5 Das entspricht ungefähr 576 Milliarden Dollar. Die Türkei hat also erhebliche Fremdwährungsverbindlichkeiten. Das heißt, wenn die Lira sich abschwächt, wird das Bedienen der Fremdwährungsschulden schwieriger.
Allein türkische Unternehmen haben derzeit 33,8 Prozent vom BIP bzw. über 240 Milliarden Dollar Fremdwährungsschulden. Wenn man die Verbindlichkeiten in Lira umrechnet heißt das, dass diese türkischen Unternehmen in türkischer Lira nun 50 Prozent mehr Schuldendienst leisten müssen als noch vor zwei Monaten. Das könnte manche Unternehmen in Liquiditätsschwierigkeiten bringen und zu Problemen beim Schuldendienst führen. Das Gleiche gilt für die türkische Regierung, die mit 23 Prozent vom BIP in ausländischer Währung verschuldet ist und türkische Banken, die ebenfalls Fremdwährungsschulden in Höhe von 23 Prozent vom BIP haben.
Türkei vor Finanzkrise?
Kurz: Der dramatische Absturz der Lira könnte und dürfte dazu führen, dass so manche türkische Schuldner in Rückzahlungsprobleme kommen. Das ist umso wahrscheinlicher, als das Vertrauen der türkischen Konsumenten im November 2021 den tiefsten Stand seit Beginn der Datenerhebung 2004 erreichte.6 Die Prognosen für den Inlandskonsum und damit für die wirtschaftliche Entwicklung sind also denkbar schlecht, trotz steigender Exporte. Auch die Inflationsrate von derzeit knapp 20 Prozent trägt nicht gerade zur Vertrauensbildung der Konsumenten und zu Optimismus bei der Währungsentwicklung bei.7
Auswirkungen türkischer Finanzprobleme auf die Weltfinanzmärkte
Angesichts des selbst im internationalen Vergleich relativ hohen Gesamtbetrages der Fremdwährungsschulden von über 570 Milliarden Dollar könnten sich Zahlungsprobleme türkischer Schuldner schnell auf die Weltanleihemärkte übertragen und dort zu Kursrückgängen führen. Es ist also gut möglich, dass türkische Finanzprobleme eine Erschütterung an den Bondmärkten nach sich ziehen und dort möglicherweise eine Kettenreaktion auslösen. Zur Erinnerung: Lehman hatte kurz vor seiner Pleite 2008 Schulden von 613 Milliarden Dollar.8 Dieser Betrag hat ausgereicht, um eine Weltfinanzkrise auszulösen. Die Schulden der Türkei haben eine ähnliche Größenordnung und daher möglicherweise ebenfalls das Zeug, eine globale Finanzkrise loszutreten.
Dazu kommt, dass die weltweiten Schulden im Verhältnis zum Weltsozialprodukt heute deutlich höher sind als 2008. Im Juni 2021 beliefen sie sich auf 296 Billionen Dollar oder 353 Prozent der Weltwirtschaftskraft. Sie lagen um 36 Billionen Dollar höher als vor den Lockdowns ab März 2020.9 Die Zahl von so genannten Zombie-Unternehmen, die die letzten Jahre eigentlich nur wegen der extrem niedrigen Zinsen überleben konnten, ist beachtlich.10 Das Volumen an high yield bonds und BBB-gerateten Unternehmensschulden in den USA ist in den letzten 10 Ja...