78. UN-Generalversammlung: unversöhnliche Fronten. Scholz offenbart verhängnisvolle Geschichtslücken
Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.
Am 19. September 2023 sprach Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich der 78. Generaldebatte der Generalversammlung der Vereinten Nationen(1) und erinnerte eingangs an ein besonderes Jubiläum:
Vor 50 Jahren traten im September 1973 die Bundesrepublik Deutschland und die DDR den Vereinten Nationen bei. Dieser Schritt, so Scholz, war für Deutschland als „Urheber furchtbarer Kriege und grausamer Verbrechen“(2) mit der Möglichkeit verbunden, zurückzukehren in die Familie friedliebender Völker.
War denn Deutschland auch Urheber des 1. Weltkriegs?
Diese Anfang der 60er Jahre vom ehemaligen NS-Historiker Fritz Fischer in die Welt gesetzte These von Deutschlands „Griff nach der Weltmacht“ ist schon lange nicht mehr haltbar. Fischer war von den Alliierten als gefährlicher Nationalsozialist auf die Liste jener Personen gesetzt worden, die automatisch zu arretieren seien. Mit seiner Entlassung 1947 erhielt er dann merkwürdigerweise seinen ehemaligen Lehrstuhl in Hamburg zurück. Das macht stutzig, denn einfache Dorfschullehrer durften allein schon wegen ihrer NSDAP-Mitgliedschaft nicht mehr unterrichten.
Am 28. Juni 1919 wurde Deutschland in Versailles ein „Friedensvertrag“ aufgezwungen, in dem seine Alleinschuld am Ersten Weltkrieg festgeschrieben war. Dabei hatte die deutsche Reichsregierung um Max von Baden US-Präsident Woodrow Wilson am 3. Oktober 1918 vertrauensvoll um einen Waffenstillstand auf der Grundlage seines friedensfähigen 14-Punkte-Plans(3) gebeten. Dieser sah einen für alle Parteien annehmbaren Friedensschluss vor (Räumung besetzter Gebiete und generelle Neuordnung Europas nach dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker).(4) Um den 14-Punkte-Plan scherte man sich bei den Friedensverhandlungen – von denen Deutschland 1919 ausgeschlossen worden war – aber dann überhaupt nicht mehr. Die Parallele zu Minsk II ist überdeutlich.
Das war nach dem 30jährigen Krieg (1618-1648) anders. Alle Kriegsparteien handelten in Münster und Osnabrück gemeinsam einen tragfähigen Frieden (den „Westfälischen Frieden“) aus. Nach den „Napoleonischen Kriegen" (1792 bis 1815) wurde in Wien Frieden geschlossen und der Kriegsgegner Frankreich sogar in die „Heilige Allianz“ mit aufgenommen.
Da die Verwerfungslinien, die 1914 in die Katastrophe des 20. Jahrhunderts geführt haben, heute weltweit wieder aufbrechen bzw. aufgebrochen sind, ist es notwendig, den Weg in den Ersten Weltkrieg so wahrhaftig wie möglich aufzuarbeiten.
Bis heute sind jedoch im Westen die Hintergründe der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz-Ferdinand in Sarajevo (28. Juni 1914), die zunächst zum Schlag gegen Serbien (5. Juli 1914, „Mission Hoyos“) und nachfolgend zur offiziellen Kriegserklärung führten, nicht aufgeklärt. Es wird nicht einmal darauf hingewiesen, dass die Attentäter aus der serbischen Hauptstadt Belgrad kamen.
Nachdem Serbien das österreichische Ultimatum zurückwies – Grund war die Forderung Österreichs, an den Ermittlungen gegen die Terroristen teilzunehmen – wurde 30 Tage nach dem Attentat am 28. Juli 1914 Serbien der Krieg erklärt.
Zum Vergleich: Nur 27 Tage nach dem Attentat vom 11. September 2001 begannen die USA ihren nicht erklärten Krieg gegen Afghanistan, ein Land, das nachweislich an dem Terroranschlag nicht beteiligt war.
Deutschland erklärte am 1. August 1914 Russland den Krieg, nachdem Russland seine Armee mobilisiert hatte. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte den Zaren Nikolaus II. vorher verzweifelt darum gebeten, die russische Mobilmachung zurückzunehmen. Am 1. August 1914 hatte Russland bereits an der Ostgrenze von Ostpreußen die Armee Rennenkampff und an der Südflanke Ostpreußens die Armee Samsonow in Stellung gebracht. Am 1. August 1914 nahmen beide Armeen ihre Aufklärungstätigkeit in Ostpreußen a...