Ein Standpunkt von Gerd Reuther.
Das Krankensystem ernennt das Genom zum entscheidenden Faktor der Gesundheit — so tut sich für die Pharmaindustrie eine Goldgrube auf.
Jahrzehntelang war es eine Streitfrage gewesen, ob der Mensch in seinen Fähigkeiten und Krankheiten stärker von der Umwelt oder seinem Erbgut geprägt wird. Pharmaindustrie und Genforscher haben diese Frage aber inzwischen ad acta gelegt. Das menschliche Genom soll Ursache aller Krankheiten und damit auch der Schlüssel für deren Therapie sein. Ein punktgenaues Herausschneiden und Einfügen von Basenpaaren in die Doppelhelix — bekannt als „Genomchirurgie“ beziehungsweise „Gen-Editing“ — oder die Injektion von Boten-RNA soll demnach eine individualisierte Heilung an der Wurzel jedes Problems ermöglichen. Ausgeblendet wird dabei, dass die genetische Information keine unveränderliche Größe ist, sondern von der Umwelt epigenetisch ständig moduliert wird. Die im Jahr 2001 ausgerufene „Entschlüsselung“ des menschlichen Genoms hat die Medizin jedenfalls ebenso wenig weitergebracht wie die Gentherapie.
Genforschung ist bisher viel Lärm um wenig, und das wird auch so bleiben. Nur sehr wenige und sehr seltene Krankheiten sind ausschließlich auf angeborene Defizite in der genetischen Information zurückzuführen. Für alle häufigen Krankheiten von Gefäßsystem, Stoffwechsel oder Krebs spielt eine „Erblast“ keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle; erkennbar daran, dass sich das Erkrankungsrisiko bei Migranten in die Industrieländer innerhalb ein bis zwei Generationen auf das Niveau der einheimischen Bevölkerung einpegelt (1).
Die große Mehrzahl unserer Krankheiten entsteht durch Umwelteinflüsse. Der französische Philosoph Voltaire (1694 bis 1778) hatte schon vor 250 Jahren lapidar formuliert: „In den meisten Fällen ist die Todesursache eines Menschen sein Leben.“ Die Genforschung verkennt dies, wenn jetzt eine nach allen Seiten offene Forschung von Genomsequenzierungen und Risikoberechnungen abgelöst wird. Aktuelles Opfer dieser intellektuellen Bankrotterklärung: Ludwig van Beethoven (1770 bis 1827).
Eine mit viel Geld und weltweiten Aktivitäten ins Leben gerufene internationale gentechnische Arbeitsgruppe zur Klärung von Beethovens Krankheiten und Tod präsentierte jüngst über alle Medienkanäle einen lärmenden Schlag ins Wasser (2). Weder die Ertaubung noch seine Leberzirrhose können die Genforscher erklären.
Um nicht mit leeren Händen dazustehen, schrecken die Wissenschaftler nicht einmal davor zurück, spekulative Mutmaßungen zu verbreiten, die im Widerspruch zu den biographischen Fakten stehen. Beethoven hätte wahrscheinlich zu viel Alkohol getrunken und sich vermutlich auch eine Hepatitis zugezogen. Bei einem genetisch angeblich erhöhten Risiko für eine Leberzirrhose ein unverzeihliches Fehlverhalten ...
Diese unwissenschaftlichen und unzutreffenden Behauptungen gingen weltweit über den Äther und fanden sich in vielen Tageszeitungen. Genetische Analysen gelten zu Unrecht als Stein der Weisen. Selbst die reichsten Menschen dieser Welt haben sich dies einreden lassen und dementsprechend ihre Milliarden in das tote Pferd der Genforschung investiert. Die willfährigen Journalistendarsteller in den Redaktionsstuben landauf und landab müssen nun jede Genanalyse mit einem Heiligenschein ausstatten.
Ludwig van Beethovens Fall ist das sprechende Beispiel dafür, dass Sequenzierungen des Genoms nichts aufklären. Die genetischen Kaffeesatzleser können nicht einmal mit letzter Sicherheit bestätigen, dass die ausgewerteten Haarabschnitte wirklich von Beethoven stammten. Sie stimmen genetisch lediglich untereinander überein und seien „mit ziemlicher Sicherheit authentisch“. Schließlich gab es keinen Goldstandard aus gesichertem Material des Meisters.