Ein Kommentar von Paul Schreyer.
Will Putin ein Imperium errichten – oder die Souveränität und Existenz Russlands sichern? Diese Frage, von deren Antwort die Bewertung des Krieges abhängt, wird in den großen Medien weiterhin kaum diskutiert. Wohl, weil jeder die Antwort schon zu kennen glaubt. Doch diese Gewissheit kann politisch verheerend sein. Eine Spurensuche.
Am 27. Februar 2022, drei Tage nach Kriegsbeginn, erklärte Bundeskanzler Scholz im Bundestag (Video), dass der russische Präsident den Angriff gegen die Ukraine „aus einem einzigen Grund“ führe: „Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage.“ Putin wolle daher „ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen“, „die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen“ und „ein russisches Imperium errichten“.
Auf dieser Argumentation des Bundeskanzlers fußt die deutsche Politik seither, die in dieser Woche schließlich in dem Beschluss kulminierte, nun doch schwere Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Deutsche Panzer rollen wieder gegen Russland, wie zuletzt in den Jahren 1941 bis 1945.
Die Scholzsche Argumentation steht im Einklang mit der Interpretation der USA, sie gleicht ihr bis aufs Wort. Sie ist jedoch schlecht bis gar nicht belegt. John Mearsheimer, Jahrgang 1947 und einer der international renommiertesten Politikwissenschaftler, hat darauf im Juni 2022 in einem ausführlichen Essay hingewiesen:
„[Putin] werden imperiale Ambitionen nachgesagt – er wolle die Ukraine und andere Länder erobern, um ein Großrussland zu schaffen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der ehemaligen Sowjetunion aufweist. Mit anderen Worten: Die Ukraine ist Putins erstes Ziel, aber nicht sein letztes. (…) Dieses Narrativ wird zwar immer wieder in den Mainstream-Medien und von praktisch allen westlichen Staatsoberhäuptern wiederholt, aber es gibt keine Beweise dafür. (…) Um zu belegen, dass Putin die gesamte Ukraine erobern und Russland einverleiben wollte, muss erstens nachgewiesen werden, dass er dies für ein erstrebenswertes Ziel hielt, zweitens, dass er es für ein realisierbares Ziel hielt, und drittens, dass er dieses Ziel zu verfolgen beabsichtigte. Es gibt keine Beweise dafür, dass Putin am 24. Februar, als er seine Truppen in die Ukraine schickte, in Erwägung zog, geschweige denn beabsichtigte, die Ukraine als unabhängigen Staat zu beenden und sie zu einem Teil von Großrussland zu machen. (…)
Man könnte argumentieren, dass Putin über seine Motive gelogen hat, dass er versucht hat, seine imperialen Ambitionen zu verschleiern. Ich habe ein Buch über Lügen in der internationalen Politik geschrieben und für mich ist klar, dass Putin nicht gelogen hat. Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse ist, dass Staatsoberhäupter sich nicht oft gegenseitig anlügen, sondern eher ihre eigene Bevölkerung. Was Putin anbelangt, so ist er, was auch immer man von ihm halten mag, nicht dafür bekannt, andere Staatsführer zu belügen. Obwohl einige behaupten, dass er häufig lügt und man ihm nicht trauen könne, gibt es kaum Beweise dafür, dass er ausländische Zuhörer belogen hat. (…) Er hat nicht ein einziges Mal angedeutet, dass er die Ukraine zu einem Teil Russlands machen will. Sollte dieses Verhalten Teil einer gigantischen Täuschungskamp...