HUMAN MINDED

Wesley Autrey - Der sich aufs Gleis wirft. Um Leben zu retten.


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HUMAN MINDED. Wesley Autrey. Der sich auf‘s Gleis wirft. Um ein Menschenleben zu retten. Eine wahre Geschichte.

Dienstagmittag, 2. Januar 2007. Im Norden Manhattans. Wesley Autrey geht mit seinen Töchtern Suqui und Syshe zur U-Bahnstation in der 137. Straße. Hier hält die Linie 1, die Broadway-Seventh Avenue Local. Wesley’s Mädchen sind sechs und vier Jahre alt. Er sieht sie nur selten, seit sich seine Freundin von ihm getrennt hat.

Suqui: „Daddy. Du hast versprochen, dass wir wieder in den Zoo gehen.“

Wesley: „Ja klar. Und das Versprechen halte ich auch. Nur ist es zurzeit vielleicht ein bisschen zu kalt dafür, oder? Sobald es wieder wärmer wird, gehen wir zusammen in den Zoo.“

Wesley Autrey. 50 Jahre. Bauarbeiter in New York. Den Großteil seiner Kindheit hat er auf einer kleinen Farm in Alabama verbracht. Später zieht seine Mutter mit den Kindern nach New York City. In Harlem geht Wesley zur Schule. Mit 17 meldet er sich bei der US-Marine. Nach dem Militärdienst arbeitet er beim United States Postal Service und schließlich sattelt er um, baut Hochhäuser als Bauarbeiter. Zudem engagiert er sich in der Arbeitergewerkschaft Local 79. Wesley ist Familienmensch. Liebevoll kümmert er sich um seine Mutter, um die Kinder seines erwachsenen Sohnes aus erster Ehe und auch um die Töchter seiner Schwester.

Suqui: „Ist den Elefanten auch kalt?“

Wesley: „Ja. Die haben zwar ‘ne dicke Haut. Aber denen ist auch kalt.“

Es ist viertel vor eins. Wesley und seine Töchter erreichen die U-Bahn-Station...

Wesley: „Vorsicht…“

… und nehmen den Eingang durch das Drehkreuz.

Wesley: „… nicht den Kopf stoßen.“

Plötzlich beobachtet Wesley, wie ein junger Mann auf dem Bahnsteig den Halt verliert und zu Boden fällt. Es ist Cameron Hollopeter, 20jähriger Filmstudent aus New York. Ein epileptischer Anfall hat ihn übermannt.

Wesley: „Kugelschreiber! Hat jemand einen Kugelschreiber? Wir müssen ihm was zwischen die Zähne schieben. Der beißt sich sonst die Zunge ab.“

Sehr schnell erholt sich Cameron von dem Anfall. So scheint es zumindest. Wesley und zwei umstehende Männer helfen ihm auf die Beine. Sie stützen ihn für ein paar Minuten.

Wesley: „Und? Geht’s wieder?“

Cameron: „Ja. Danke. Geht wieder.“

Wesley: „Kommst Du klar? Oder sollen wir Dich begleiten?“

Cameron: „Nein, nein. Nicht nötig. Vielen Dank.“

Gerade will sich Wesley wieder seinen Töchtern zuwenden, da sieht er, dass Cameron ganz und gar nicht klarkommt. Wieder fällt er zu Boden. Doch diesmal über die Bahnsteigkante mitten auf das Gleis. Wesley eilt Cameron hinterher und versucht, ihn zurück auf die Plattform zu ziehen. Cameron zittert am ganzen Leib. Seine Gliedmaßen rudern völlig unkontrolliert. Von der Bahnsteigkante aus versucht Wesley, eine Hand Cameron’s zu greifen, einen Arm, doch rutschen sie ihm immer wieder weg.

Wesley: „Verdammt. Mann! So krieg‘ ich Dich nie zu fassen.“

So sehr sich Wesley auch streckt, er muss einsehen, dass er keine Chance hat, Cameron vom Gleis zu ziehen. Niemand, der ihm in diesem Moment zu Hilfe eilt. Niemand, der sich wie er so nah an das Gleis traut. Jeden Moment fährt die U-Bahn ein. Wesley verzweifelt. Doch er hört seine innere Stimme.

Wesley’s innere Stimme: „Du Idiot. Du musst runterspringen und ihm das Leben retten. Los, mach schon!“

Wesley ruft zwei Frauen, die drei Meter hinter ihm stehen, etwas zu:

Wesley: „Ey! Passt auf meine Töchter auf!“

Dann springt er runter aufs Gleis. Er sieht Lichtreflexe im U-Bahnschacht, die sich in Scheinwerfer verwandeln. Scheinwerfer, die sich auf ihn zubewegen. Wesley legt sich auf Cameron’s Rücken. Direkt in der Mulde zwischen den beiden Schienen. Mit aller Kraft versucht er, Cameron’s Arme und Beine unter Kontrolle zu bekommen. Weg von den Schienen. Tief rein in die Mulde zwischen den Gleissträngen. Um sie dort mit seinen eigenen Armen und Beinen zu fixieren. Dann drückt Wesley seinen Kopf in Cameron’s Nacken.

Wesley: „Bleib unten, verdammt. Bleib unten. Und hör auf, dich zu wehren. Das ist die einzige Chance, die wir haben.“

Wesley hört Schreie. So gellend, wie er noch nie welche zuvor gehört hat. Sie bohren sich tief in sein Inneres. Die Gleisschwellen beginnen zu vibrieren. Als hätten sich Cameron’s Krämpfe auf sie übertragen. Großer Lärm kommt auf. Lärm, der die Schreie vom Bahnsteig überlagert. Unausweichlich und immer lauter steuert ein Rattern auf Wesley zu. Auf seine Ohren. Auf seinen Kopf. Wesley hält die Luft an und macht sich schwer. Jede Regung Cameron’s will er vereiteln. Die U-Bahn fährt ein. Fünf Waggons rollen über Wesley und Cameron hinweg. Es sind zwei Zentimeter. Zwei Zentimeter Abstand zwischen Wesley’s Kopf und der Bahn. Wesley hält still. Das einzige, was er jetzt noch tun kann. Die Geräuschkulisse wird immer unerträglicher. Das Quietschen der Bremsen sticht in Wesley’s Ohren. Schließlich kommt der Zug zum Stehen. Wesley und Cameron liegen fast regungslos darunter. Wieder sind panische Schreie vom Bahnsteig zu hören. Wesley fühlt sich beklommen. Was ist mit seinen Töchtern? Er muss sich kümmern. Er schreit gegen die Menge an. So laut er kann.

Wesley: „Ey! Ey! Es ist alles in Ordnung! Sagt den Mädchen, Daddy ist okay.“

Die Schreie auf dem Bahnsteig verstummen. Stattdessen beginnen die Menschen zu klatschen. Sie jubeln. Eine Träne läuft über Wesley’s Wange. Doch Erleichterung verspürt er nicht. Er weiß: Noch schweben er und Cameron in großer Gefahr. Cameron will sich lösen, leistet Widerstand. Wesley muss ihn beruhigen. Noch immer liegt sein Kopf in Cameron’s Nacken.

Wesley: „Ruhig. Okay. Ganz ruhig. Wir haben’s gleich geschafft. Die schalten noch den Strom ab. Und dann holen sie uns hier raus.“

Wesley weiß, dass zuerst der Gleisabschnitt vom Stromnetz genommen werden muss, bevor man ihn und Cameron sicher bergen kann. Und er weiß, dass die Einsatzkräfte jeden Moment kommen werden.

Wesley: „Ein paar Minuten noch, okay? Die halten wir noch aus. Komm, das schaffst Du.“

Sanitäter treffen ein. Vorsichtig ziehen sie Wesley vom Gleis. Dann Cameron. Wesley sieht seine Töchter. Ihre verstörten Mienen. Sie haben sich an die Beine der Frauen geklammert, die auf sie aufgepasst haben. Wesley nimmt Suqui und Syshe in den Arm.

Suqui: „Daddy! Daddy!“

Wesley: „Alles okay. Daddy ist okay.“

Wesley und Cameron sind äußerlich unverletzt. Ein paar Schrammen. Sonst nichts. Ein Fleck vom Schmierfett auf Wesley’s Mütze. Das ist alles. Man bringt sie ins Krankenhaus.

Wesley: „Ach nein. Das muss doch nicht sein. Mir ist nichts passiert.“

Sanitäter: „Wir müssen auf Nummer sicher gehen. Das ist reine Routine. Dauert auch nicht lange. Übrigens: Respekt. Das war ‘ne Heldentat. Wahnsinn.“

Wesley: „Ich weiß nicht. Ich habe nicht das Gefühl, etwas Spektakuläres getan zu haben. Ich habe nur jemanden gesehen, der Hilfe brauchte.“

Im Krankenhaus wartet Wesley auf den Routinecheck. Eine Krankenschwester befragt ihn.

Krankenschwester: „Keine Schmerzen, kein Schwindel, keine Erschöpfung – nichts?“

Wesley: „Nein, nichts. Mir geht es gut. Was ist mit dem Jungen? Kann ich kurz zu ihm?“

Krankenschwester: „Der ist noch sehr durcheinander. Ich glaube, der weiß noch gar nicht, wie viel Glück er hatte.“

In den darauffolgenden Tagen steht Wesley’s Telefon nicht still. Jede Menge Interviewanfragen. So viele, dass Wesley’s Schwester Linda wie eine Agentin Termine abstimmt. Mitten im Trubel geht Wesley noch einmal ins Krankenhaus, um Cameron zu besuchen. Reporter heften sich an seine Fersen.

Wesley: „Moment! Ich weiß, es ist Ihr Job – aber: Ich muss erst alleine mit ihm sprechen. Ich werde ihn fragen, ob er für Interviews bereitsteht. Ich denke, Sie werden auch die Ärzte um Erlaubnis bitten müssen.“

Im Krankenhaus trifft Wesley auf Larry Hollopeter, Cameron’s Vater. Sie entscheiden, gemeinsam vor die Presse zu treten.

Larry: „Was Wesley Autrey für meinen Sohn und damit für unsere ganze Familie getan hat, ist noch gar nicht greifbar. Wenn ich ihn richtig verstehe, tat er es instinktiv. Jedenfalls war es ungemein selbstlos. Ich finde keine Worte dafür, wie dankbar wir sind.“

Wesley: „Ich habe es schon einmal gesagt: Es war mir eine Ehre und ein Privileg, das Leben eines Menschen zu retten.“

In der Folge erhält Wesley zahlreiche Auszeichnungen, Medaillen und Geldzuwendungen. Er lässt sich beurlauben, um mit seiner Geschichte Geld zu verdienen. Geld, das er für die Ausbildung seiner Kinder zurücklegen will. Alte Bekannte und Liebschaften melden sich. Sogar sein Vater - nach 30 Jahren. Wesley gerät an falsche Berater und unterschreibt nachteilige Verträge. Enttäuscht stellt er fest, dass sie am Ende alle nur darauf aus sind, ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Bis auf einige Auftritte bei Wohltätigkeitsveranstaltungen geht er dem Trubel mehr und mehr aus dem Weg und zurück zu seiner Arbeit – als Bauarbeiter.

Wesley Autrey, der Hingabe als Privileg empfindet. HUMAN MINDED.

Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks.


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