HUMAN MINDED Cioma Schönhaus
Erzählerin: Solveig Jeschke
Cioma Schönhaus: Benjamin Stolz
Ordner in der Synagoge: Sokrates Evangelidis
Gestapo-Beamter: Frank Hofmann
Arbeitsbeamtin: Anna Jörgens
Boris Schönhaus: Tom Otto
Edith Wolff: Celina Fries
Det Kassriel: Jan Kröger
Ludwig Lichtwitz: Uwe Thoma
Dr. Franz Kaufmann: Stefan Naas
Human Minded. Cioma Schönhaus. Der als Passfälscher Leben rettet. Eine wahre Geschichte.
- Juni 1942. Berlin-Moabit. In der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße sitzen mehrere Hundert Juden auf querstehenden Holzbänken und warten. Seit Stunden. Sie warten darauf, dass ihr Name aufgerufen wird.
Ordner: „Hans Israel Rosenzweig!“
Viele von ihnen haben sich zurechtgemacht, sind festlich gekleidet – wie für eine Hochzeit. Vor ihren Füßen stehen prallgefüllte Rucksäcke. Darin die Dinge, die die Gestapo im Vorladungsschreiben aufgelistet hat: zwei Paar wasserdichte Schuhe, vier Paar Socken, sechs Unterhosen, zwei Pullover, zwei Decken, vier Hemden, eine Kopfbedeckung, zwei Paar Handschuhe, ein Mantel. Das Reisegepäck für die Umsiedlung in den Osten, wie die Nazis die Deportationen nennen. Cioma Schönhaus wartet gemeinsam mit seiner Mutter. Fanja Schönhaus. Cioma hält ihre Hand.
Cioma: „Rosenzweig. Mama, sie sind schon ziemlich weit beim Buchstaben R. Wir sind gleich dran. Kann nicht mehr lange dauern.“
Ordner: „Samson Cioma Israel Schönhaus und Fanja Sara Schönhaus!“
Beklommen nähern sich Cioma und seine Mutter dem Ordner, der ihre Namen gerufen hat. Neben ihm ein Gestapobeamter, an einen Stuhlrücken gelehnt. Er schaut teilnahmslos ins Nichts, während ihm die Akte Schönhaus vorgetragen wird:
Ordner: „Fanja Sara Schönhaus und Sohn Samson Cioma Israel Schönhaus sind morgen früh, 2. Juni 1942, für den Transport nach Osten bestimmt. Für den Sohn liegt ein Gesuch der Firma Gustav Genschow vor. Er ist als guter Arbeiter unentbehrlich. Man bittet, ihn erst zu einem späteren Zeitpunkt zu evakuieren.“
Die Firma Gustav Genschow zählt zu den kriegswichtigen Betrieben. Sie stellt Gewehre her. Um Cioma als Arbeiter zu behalten, hat man ihm ein sogenanntes Reklamationsschreiben mitgegeben.
Mit einer lebensentscheidenden Frage wendet sich der Ordner an den Gestapo-Beamten:
Ordner: „Soll der junge Mann mit auf den Transport oder soll er hierbleiben?“
Gestapo-Beamter: „Ist mir doch egal. Ach, soll er mitgehen!“
Ordner: „Soeben wurde entschieden, Sie gehen morgen mit auf den Transport.“
Cioma und seine Mutter erreichen einen breiten Korridor, in dem Tische aufgestellt sind. Tische mit verschiedenen Schildern, hinter denen Beamte sitzen. Am ersten Tisch müssen sie ihr Geld abgeben. Finanzamt ist auf dem Schild zu lesen. Am zweiten sitzt eine lächelnde Beamtin.
Beamtin: „Herr Schönhaus. Wo haben Sie gearbeitet?“
Cioma: „Bei Gustav Genschow. Eigentlich bin ich ja reklamiert.“
Beamtin: „Reklamiert? Einen Moment. Äh, Schönhaus. Ja, hier. Ich hab‘ Sie. Sie haben recht. Sie sind als Facharbeiter unentbehrlich, steht hier. Moment. Ich bin gleich wieder da.“
Mit entschlossenem Blick geht die Beamtin zu ihrem Vorgesetzten. Im selben Moment wird Ciomas Vater in den Korridor gebracht. Boris Schönhaus.
Boris: „Cioma. Was machst Du hier? Du bist doch reklamiert!“
Cioma: „Das klärt sich gerade. Die sind sich da wohl nicht ganz einig.“
Als die Beamtin an ihren Tisch zurückkehrt, hat sie ihr Lächeln wieder.
Beamtin: „Sie können gehen, Herr Schönhaus.“
Cioma: „Gehen? Wohin? Wohin kann ich gehen?“
Beamtin: „Nach Hause. Sie sind zurückgestellt.“
Cioma nimmt seine Mutter in den Arm. Dann den Vater.
Cioma: „Auf Wiedersehen.“
Er wird seine Eltern nicht wiedersehen. Ein letztes Lebenszeichen erreicht ihn einige Zeit später. Eine Postkarte aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek. Eine letzte Nachricht seines Vaters.
Boris: „Meine Lieben. Ich bin hier gut angekommen. Habt Ihr etwas von Fanja gehört? Ich suche Mama überall. Cioma hat in allem recht gehabt. Ich bin glücklich, dass er nicht bei uns ist. Lebt wohl. Euer Beba.“
Cioma hat in allem recht gehabt. Schon manches Mal hat er seinem Vater erzählt, dass die Nazis Juden in den Osten bringen, um sie dort zu ermorden.
Cioma, eigentlich Samson Cioma Israel Schönhaus. 19 Jahre. Sohn weißrussischer Emigranten aus Minsk. Groß, schlank, leuchtende Augen und ein gewinnendes Lächeln. Er hat als Jude die Schule wechseln müssen. Und er hat als Jude die Ausbildung zum Grafiker abbrechen müssen. Auch die Arbeitsstelle. Bis er bei Gustav Genschow unterkommt. Als Feinmechaniker in der Produktion von Gewehren.
Die Deportation seiner Eltern ist erst der Anfang. Kurz darauf holen sie auch Oma, Onkel und Tante. Cioma lebt plötzlich alleine in der großen Berliner Wohnung. Er sucht Edith Wolff in Berlin-Friedenau auf, nachdem man ihm sagte, dass sie einen Auftrag für einen Grafiker habe. Einen anspruchsvollen.
Edith: „Schauen Sie, Herr Schönhaus. Diesen Entlassungsschein der deutschen Wehrmacht, den müssten Sie – sagen wir – ein wenig anpassen.“
Cioma: „Was genau soll denn angepasst werden?“
Edith: „Es geht darum, das Passbild auszuwechseln und dann den Stempel über dem Foto wieder zu ergänzen. Den Hoheitsadler. So, dass er jeder Überprüfung standhält. Glauben Sie, dass Sie das können?“
Cioma: „Ich will es versuchen. Ich habe es zwar noch nie probiert, aber ich meine, das bekomme ich schon hin.“
Als Gegenleistung verspricht Edith Wolff Cioma einen sicheren Unterschlupf für alle Fälle. Eine Mädchenkammer. Noch am selben Abend macht sich Cioma an die Arbeit. Angetrieben von dem Gefühl, endlich etwas gegen das Naziregime tun zu können. Aktiv. Er tauscht das Passfoto aus und gibt dem Ausweis einen neuen Stempel. Eine perfekte Nachbildung. Cioma macht aus einem Juden einen deutschen Wehrmachtssoldaten.
Edith: „Herr Schönhaus. Ausgezeichnet. Das ist makellos. Sie bekommen das Zimmer, wann immer Sie es brauchen.“
Cioma: „Dankeschön, Frau Wolff.“
Edith: „Nein. Ich hab‘ zu danken. Ach, und da ist noch was. Hier. Dies ist eine Adresse in Halensee. Melden Sie sich dort. Bei Dr. Kaufmann. Er sucht einen Grafiker. Es gibt jede Menge zu tun.“
Eine zufällige Begegnung. Eine glückliche: Cioma trifft Det Kassriel. Seinen ehemaligen Arbeitskollegen, der untergetaucht ist.
Cioma: „Det. Was machst Du denn jetzt?“
Det: „Ich nähe. Ich lebe illegal.“
Cioma: „Und wo versteckst Du Dich?“
Det: „Bei mir zuhause. In meiner Wohnung.“
Cioma: „Na, das ist ja auch nicht gerade das beste Versteck.“
Det: „Ich habe nichts Besseres, Cioma.“
Cioma: „Aber ich. Ich hab‘ was Besseres. Zieh zu mir. Ich wohne mittlerweile ganz alleine in unserer Wohnung. All die anderen haben sie abgeholt. Wir haben genügend Platz, Det.“
Cioma schlägt vor, den Hausrat Stück für Stück zu verkaufen, um an Geld zu kommen. Zudem öffnet Ciomas Talent als Grafiker weitere Türen. Er lernt Ludwig Lichtwitz kennen. Lichtwitz ist ehemaliger Buchdrucker, aber seit kurzem auch ein U-Boot, wie untergetauchte Juden genannt werden. Er schlägt Cioma ein Geschäft vor:
Lichtwitz: „Hier zeige ich Ihnen etwas unglaublich Wertvolles. Das ist ein echter deutscher Wehrpass. Blanko. Ich habe zwei davon. Wenn Sie mir einen mit allen Stempeln ausfüllen, bekommen Sie den anderen. Können Sie das machen?“
Cioma: „Machen kann ich das wahrscheinlich schon. Aber ich brauche eine Vorlage. Erfinden kann ich die Stempel nicht.“
Lichtwitz: „Über jemanden, der uns seinen Wehrpass als Vorlage gibt, reden wir später. Ich schlage vor, wir treffen uns übermorgen. Um zwölf Uhr. In meiner Werkstatt.“
Straßenbahn fahren ist Juden untersagt. Cioma fährt trotzdem. Nach Halensee. Zur Villa von Dr. Franz Kaufmann. Kaufmann ist jüdischer Abstammung. Verheiratet mit einer deutschen Adligen. Er gehört zum Helferkreis evangelischer Christen aus der Dahlemer Bekennenden Kirche. Kaufmann hilft, Juden zu verstecken. Er zeigt Cioma eine Kennkarte, wie der offizielle deutsche Personalausweis genannt wird.
Kaufmann: „Wir sammeln die Ausweise in unserer Kirche. Als Spende. Im Opferstock. Das Risiko für die Spender ist gering. Der Verlust von Ausweispapieren ist nicht strafbar. Und hier haben wir die Passbilder von Juden, denen das Schicksal bevorsteht, in den Osten deportiert zu werden. Schönhaus, machen Sie mir ein Muster. Wenn es gut ist, bekommen Sie viel Arbeit.“
Cioma handelt Lebensmittelkarten als Honorar aus. Monatlich zwei Sätze. Einen Satz für sich, einen für Det.
Mitunter ist Cioma ein Schussel. Schon zum zweiten Mal verliert er seinen Ausweis. Einen neuen zu beantragen, birgt mittlerweile zu viele Risiken. Stattdessen fertigt er sich selbst neue Papiere an und tarnt sich als Soldat Peter Schönhausen. Gemeinsam mit Det verlässt Cioma die große Wohnung. Die beiden tauchen unter. Sie teilen sich die versprochene Mädchenkammer.
Dr. Kaufmann ist angetan von Ciomas Passfälschungen und beauftragt ihn jede Woche neu. Cioma hat sich einen Arbeitsplatz in Ludwig Lichtwitzs Werkstatt in Moabit eingerichtet. Siebenmal klopfen, bevor man eintritt. So haben er und Lichtwitz es vereinbart. Gleichzeitig bewegt sich Cioma unbehelligt in Berlin, trifft Frauen, hat Affären, trinkt mit Soldaten und singt ihre Lieder. Eines Abends stürzt Det in die Kammer.
Det: „Cioma. Mir ist etwas ganz Dummes passiert. Ich habe unseren Unterschlupf ausgeplaudert. Wir müssen uns etwas Neues suchen. Wir müssen uns eine neue Bleibe suchen. Tut mir leid.“
Cioma und Det machen sich auf die Suche nach neuen Verstecken. Jeder auf eigene Faust und immer nur für ein paar Nächte. Dabei erfinden sie skurrile Geschichten, die für Mitleid sorgen.
Inzwischen hat Cioma mehrere Dutzend Pässe gefälscht. Er kommt kaum hinterher, so viele Aufträge erteilt ihm Franz Kaufmann. Und auch für sich selbst hat Cioma wieder eine neue Identität gefunden. Auf dem Papier. In einem weißrussischen Ausweis für russische Staatsbürger heftet sein Passfoto. Ciomas neuer Name: Peter Petrov. Die Adresse: erfunden. Als er abermals seine Brieftasche verliert, wird es endgültig brenzlig. Man fahndet nach ihm. Nach dem russischen Spion mit Namen Peter Petrov. Sein Bild auf einem Steckbrief hängt in zig Polizeistationen. Die Schlinge um Ciomas Hals zieht sich zusammen. Er findet Zuflucht bei Helene Jacobs in Berlin-Wilmersdorf. Auch sie engagiert sich im Helferkreis der Dahlemer Bekenntnisgemeinde. Kurz darauf gerät sie in einen Hinterhalt und wird verhaftet. Für Cioma steht nun endgültig fest: Er muss Berlin verlassen. Ludwig Lichtwitz hält überhaupt nichts von Ciomas Fluchtplan.
Lichtwitz: „In die Schweiz? Mit dem Fahrrad? Dann können Sie sich besser gleich hier erschießen, Schönhaus.“
Cioma hat alles akribisch vorbereitet. Für viel Geld hat er sich ein Fahrrad mit einem bequemen Sattel gekauft, hat sich Landkarten besorgt, einen mit Fell bezogenen Militärtornister, wie ihn die Hitlerjugend trägt. Zur Tarnung verstaut er darin Naziliteratur. Wie Goebbels Buch „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“. Er hat sich beim Friseur einen kurzen Soldaten-Haarschnitt verpassen lassen. Einzig ein geeigneter Ausweis fehlt ihm noch.
Lichtwitz: „Nun, ich habe mittlerweile jemanden gefunden, dessen Wehrpass Ihnen als Vorlage dienen könnte. Er heißt Claus Schiff und wohnt am Adolf-Hitler-Platz.“
Cioma: „Gut. Ich gehe zu ihm. Sofort. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Claus Schiff will seinen Wehrpass nicht aus der Hand geben. Allerdings erlaubt er Cioma, bei ihm zu arbeiten. Innerhalb einer Woche fertigt Cioma zwei neue Wehrpässe an. Einen für Lichtwitz, den anderen für sich. Er zeichnet zwei Mal 18 Stempel nach.
Anfang September 1943. Berlin ist Ziel schwerer Luftangriffe. Die Menschen suchen Schutz. Cioma fährt auf seinem Fahrrad durch leere Straßen. Raus aus Berlin. Richtung Süden. Richtung Schweiz. Am 4. Oktober watet er durch den Nödbach bei Stutengarten-Öhningen. Am anderen Ufer ist er am Ziel. In der Schweiz. Cioma kniet sich hin und küsst den Boden. Er hat es geschafft.
Später wird er an der Kunstgewerbeschule in Basel eine Ausbildung zum Grafiker absolvieren. Er wird sich eine neue Existenz aufbauen und eine Familie gründen.
Am 22. September 2015 stirbt Cioma Schönhaus im Alter von 92 Jahren. Cioma Schönhaus. Der als Passfälscher Leben rettet.
Cioma Schönhaus. Human Minded. Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks.