Share HUMAN MINDED
Share to email
Share to Facebook
Share to X
By SR
The podcast currently has 28 episodes available.
Der Caiman Club ist zurück! Hagen von Grau nimmt Dich mit ins Berliner Regierungsviertel. Und was zeigt er? Skrupel sind nur was für Verlierer. In der vierten Staffel der Hörspiel-Serie „Caiman Club“ treffen sich nämlich Lobbyisten und Politiker, um die wirklich wichtigen politischen Entscheidungen zu diskutieren, oder eher zu diktieren. Ganz ungezwungen natürlich. Mit toller Besetzung: Barnaby Metschurat, Friedrich Mücke, Denis Moschitto, Olga von Luckwald, Eko Fresh, Caro Worbs etc. https://1.ard.de/caimanclub
HUMAN MINDED. Wesley Autrey. Der sich auf‘s Gleis wirft. Um ein Menschenleben zu retten. Eine wahre Geschichte.
Dienstagmittag, 2. Januar 2007. Im Norden Manhattans. Wesley Autrey geht mit seinen Töchtern Suqui und Syshe zur U-Bahnstation in der 137. Straße. Hier hält die Linie 1, die Broadway-Seventh Avenue Local. Wesley’s Mädchen sind sechs und vier Jahre alt. Er sieht sie nur selten, seit sich seine Freundin von ihm getrennt hat.
Suqui: „Daddy. Du hast versprochen, dass wir wieder in den Zoo gehen.“
Wesley: „Ja klar. Und das Versprechen halte ich auch. Nur ist es zurzeit vielleicht ein bisschen zu kalt dafür, oder? Sobald es wieder wärmer wird, gehen wir zusammen in den Zoo.“
Wesley Autrey. 50 Jahre. Bauarbeiter in New York. Den Großteil seiner Kindheit hat er auf einer kleinen Farm in Alabama verbracht. Später zieht seine Mutter mit den Kindern nach New York City. In Harlem geht Wesley zur Schule. Mit 17 meldet er sich bei der US-Marine. Nach dem Militärdienst arbeitet er beim United States Postal Service und schließlich sattelt er um, baut Hochhäuser als Bauarbeiter. Zudem engagiert er sich in der Arbeitergewerkschaft Local 79. Wesley ist Familienmensch. Liebevoll kümmert er sich um seine Mutter, um die Kinder seines erwachsenen Sohnes aus erster Ehe und auch um die Töchter seiner Schwester.
Suqui: „Ist den Elefanten auch kalt?“
Wesley: „Ja. Die haben zwar ‘ne dicke Haut. Aber denen ist auch kalt.“
Es ist viertel vor eins. Wesley und seine Töchter erreichen die U-Bahn-Station...
Wesley: „Vorsicht…“
… und nehmen den Eingang durch das Drehkreuz.
Wesley: „… nicht den Kopf stoßen.“
Plötzlich beobachtet Wesley, wie ein junger Mann auf dem Bahnsteig den Halt verliert und zu Boden fällt. Es ist Cameron Hollopeter, 20jähriger Filmstudent aus New York. Ein epileptischer Anfall hat ihn übermannt.
Wesley: „Kugelschreiber! Hat jemand einen Kugelschreiber? Wir müssen ihm was zwischen die Zähne schieben. Der beißt sich sonst die Zunge ab.“
Sehr schnell erholt sich Cameron von dem Anfall. So scheint es zumindest. Wesley und zwei umstehende Männer helfen ihm auf die Beine. Sie stützen ihn für ein paar Minuten.
Wesley: „Und? Geht’s wieder?“
Cameron: „Ja. Danke. Geht wieder.“
Wesley: „Kommst Du klar? Oder sollen wir Dich begleiten?“
Cameron: „Nein, nein. Nicht nötig. Vielen Dank.“
Gerade will sich Wesley wieder seinen Töchtern zuwenden, da sieht er, dass Cameron ganz und gar nicht klarkommt. Wieder fällt er zu Boden. Doch diesmal über die Bahnsteigkante mitten auf das Gleis. Wesley eilt Cameron hinterher und versucht, ihn zurück auf die Plattform zu ziehen. Cameron zittert am ganzen Leib. Seine Gliedmaßen rudern völlig unkontrolliert. Von der Bahnsteigkante aus versucht Wesley, eine Hand Cameron’s zu greifen, einen Arm, doch rutschen sie ihm immer wieder weg.
Wesley: „Verdammt. Mann! So krieg‘ ich Dich nie zu fassen.“
So sehr sich Wesley auch streckt, er muss einsehen, dass er keine Chance hat, Cameron vom Gleis zu ziehen. Niemand, der ihm in diesem Moment zu Hilfe eilt. Niemand, der sich wie er so nah an das Gleis traut. Jeden Moment fährt die U-Bahn ein. Wesley verzweifelt. Doch er hört seine innere Stimme.
Wesley’s innere Stimme: „Du Idiot. Du musst runterspringen und ihm das Leben retten. Los, mach schon!“
Wesley ruft zwei Frauen, die drei Meter hinter ihm stehen, etwas zu:
Wesley: „Ey! Passt auf meine Töchter auf!“
Dann springt er runter aufs Gleis. Er sieht Lichtreflexe im U-Bahnschacht, die sich in Scheinwerfer verwandeln. Scheinwerfer, die sich auf ihn zubewegen. Wesley legt sich auf Cameron’s Rücken. Direkt in der Mulde zwischen den beiden Schienen. Mit aller Kraft versucht er, Cameron’s Arme und Beine unter Kontrolle zu bekommen. Weg von den Schienen. Tief rein in die Mulde zwischen den Gleissträngen. Um sie dort mit seinen eigenen Armen und Beinen zu fixieren. Dann drückt Wesley seinen Kopf in Cameron’s Nacken.
Wesley: „Bleib unten, verdammt. Bleib unten. Und hör auf, dich zu wehren. Das ist die einzige Chance, die wir haben.“
Wesley hört Schreie. So gellend, wie er noch nie welche zuvor gehört hat. Sie bohren sich tief in sein Inneres. Die Gleisschwellen beginnen zu vibrieren. Als hätten sich Cameron’s Krämpfe auf sie übertragen. Großer Lärm kommt auf. Lärm, der die Schreie vom Bahnsteig überlagert. Unausweichlich und immer lauter steuert ein Rattern auf Wesley zu. Auf seine Ohren. Auf seinen Kopf. Wesley hält die Luft an und macht sich schwer. Jede Regung Cameron’s will er vereiteln. Die U-Bahn fährt ein. Fünf Waggons rollen über Wesley und Cameron hinweg. Es sind zwei Zentimeter. Zwei Zentimeter Abstand zwischen Wesley’s Kopf und der Bahn. Wesley hält still. Das einzige, was er jetzt noch tun kann. Die Geräuschkulisse wird immer unerträglicher. Das Quietschen der Bremsen sticht in Wesley’s Ohren. Schließlich kommt der Zug zum Stehen. Wesley und Cameron liegen fast regungslos darunter. Wieder sind panische Schreie vom Bahnsteig zu hören. Wesley fühlt sich beklommen. Was ist mit seinen Töchtern? Er muss sich kümmern. Er schreit gegen die Menge an. So laut er kann.
Wesley: „Ey! Ey! Es ist alles in Ordnung! Sagt den Mädchen, Daddy ist okay.“
Die Schreie auf dem Bahnsteig verstummen. Stattdessen beginnen die Menschen zu klatschen. Sie jubeln. Eine Träne läuft über Wesley’s Wange. Doch Erleichterung verspürt er nicht. Er weiß: Noch schweben er und Cameron in großer Gefahr. Cameron will sich lösen, leistet Widerstand. Wesley muss ihn beruhigen. Noch immer liegt sein Kopf in Cameron’s Nacken.
Wesley: „Ruhig. Okay. Ganz ruhig. Wir haben’s gleich geschafft. Die schalten noch den Strom ab. Und dann holen sie uns hier raus.“
Wesley weiß, dass zuerst der Gleisabschnitt vom Stromnetz genommen werden muss, bevor man ihn und Cameron sicher bergen kann. Und er weiß, dass die Einsatzkräfte jeden Moment kommen werden.
Wesley: „Ein paar Minuten noch, okay? Die halten wir noch aus. Komm, das schaffst Du.“
Sanitäter treffen ein. Vorsichtig ziehen sie Wesley vom Gleis. Dann Cameron. Wesley sieht seine Töchter. Ihre verstörten Mienen. Sie haben sich an die Beine der Frauen geklammert, die auf sie aufgepasst haben. Wesley nimmt Suqui und Syshe in den Arm.
Suqui: „Daddy! Daddy!“
Wesley: „Alles okay. Daddy ist okay.“
Wesley und Cameron sind äußerlich unverletzt. Ein paar Schrammen. Sonst nichts. Ein Fleck vom Schmierfett auf Wesley’s Mütze. Das ist alles. Man bringt sie ins Krankenhaus.
Wesley: „Ach nein. Das muss doch nicht sein. Mir ist nichts passiert.“
Sanitäter: „Wir müssen auf Nummer sicher gehen. Das ist reine Routine. Dauert auch nicht lange. Übrigens: Respekt. Das war ‘ne Heldentat. Wahnsinn.“
Wesley: „Ich weiß nicht. Ich habe nicht das Gefühl, etwas Spektakuläres getan zu haben. Ich habe nur jemanden gesehen, der Hilfe brauchte.“
Im Krankenhaus wartet Wesley auf den Routinecheck. Eine Krankenschwester befragt ihn.
Krankenschwester: „Keine Schmerzen, kein Schwindel, keine Erschöpfung – nichts?“
Wesley: „Nein, nichts. Mir geht es gut. Was ist mit dem Jungen? Kann ich kurz zu ihm?“
Krankenschwester: „Der ist noch sehr durcheinander. Ich glaube, der weiß noch gar nicht, wie viel Glück er hatte.“
In den darauffolgenden Tagen steht Wesley’s Telefon nicht still. Jede Menge Interviewanfragen. So viele, dass Wesley’s Schwester Linda wie eine Agentin Termine abstimmt. Mitten im Trubel geht Wesley noch einmal ins Krankenhaus, um Cameron zu besuchen. Reporter heften sich an seine Fersen.
Wesley: „Moment! Ich weiß, es ist Ihr Job – aber: Ich muss erst alleine mit ihm sprechen. Ich werde ihn fragen, ob er für Interviews bereitsteht. Ich denke, Sie werden auch die Ärzte um Erlaubnis bitten müssen.“
Im Krankenhaus trifft Wesley auf Larry Hollopeter, Cameron’s Vater. Sie entscheiden, gemeinsam vor die Presse zu treten.
Larry: „Was Wesley Autrey für meinen Sohn und damit für unsere ganze Familie getan hat, ist noch gar nicht greifbar. Wenn ich ihn richtig verstehe, tat er es instinktiv. Jedenfalls war es ungemein selbstlos. Ich finde keine Worte dafür, wie dankbar wir sind.“
Wesley: „Ich habe es schon einmal gesagt: Es war mir eine Ehre und ein Privileg, das Leben eines Menschen zu retten.“
In der Folge erhält Wesley zahlreiche Auszeichnungen, Medaillen und Geldzuwendungen. Er lässt sich beurlauben, um mit seiner Geschichte Geld zu verdienen. Geld, das er für die Ausbildung seiner Kinder zurücklegen will. Alte Bekannte und Liebschaften melden sich. Sogar sein Vater - nach 30 Jahren. Wesley gerät an falsche Berater und unterschreibt nachteilige Verträge. Enttäuscht stellt er fest, dass sie am Ende alle nur darauf aus sind, ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Bis auf einige Auftritte bei Wohltätigkeitsveranstaltungen geht er dem Trubel mehr und mehr aus dem Weg und zurück zu seiner Arbeit – als Bauarbeiter.
Wesley Autrey, der Hingabe als Privileg empfindet. HUMAN MINDED.
Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks.
Human Minded. Lucie Aubrac. Die wagemutig in den Widerstand geht. Eine wahre Geschichte.
Mâcon. Eine Kleinstadt 60 Kilometer nördlich von Lyon. Hier wächst Lucie Bernard auf. Ihre Mutter ist Putzfrau und Gemüseverkäuferin. Der Vater Winzer. Lucie ist noch ein kleines Kind, als ihr Vater in den Krieg zieht. In den ersten Weltkrieg. Gegen das Deutsche Reich. Lucies Vater kommt nicht zurück. Lange Zeit gilt er als verschollen. Aber die Mutter sucht und findet ihn. Jahre später.
Lucies Mutter: „Lucie. Weißt Du, Papa spricht nicht mehr so viel und, ja, das Denken fällt ihm schwer. Er erinnert sich nicht mehr an alles. So genau jedenfalls. Ja? Nur, dass Du das verstehst.“
Lucies Mutter hat ihren Mann in einer Heilanstalt ausfindig gemacht. Nach einem heftigen Bombardement hat er das Gedächtnis verloren. Für Lucie eine einschneidende Erfahrung. Sie beschließt, Lehrerin zu werden. Geschichtslehrerin. Das Studium an der Pariser Sorbonne finanziert sie als Tellerwäscherin in einem kleinen Bistro.
Die 30er Jahre. Lucie unterrichtet Geschichte an einem Straßburger Mädchengymnasium. Zudem ist sie politisch engagiert, ist Mitglied der PCF, der kommunistischen Partei Frankreichs. Ihre Bewerbung auf ein Stipendium in den USA ist erfolgreich. Sie sitzt schon auf gepackten Koffern, als sie plötzlich Raymond kennenlernt.
Lucie: „Und Du warst wirklich gerade in Amerika? Erzähl mal. Wie reich und schön sind denn jetzt die Amerikaner?“
Raymond: „Das ist schwer zu sagen. Viele sind schön. Ja. Aber nur einige wenige reich. Sozialer Sprengstoff, wenn Du mich fragst.“
Lucie: „Ach, Raymond. Ich mag gar nicht mehr rüber. Ich würd‘ viel lieber hier bleiben. Hier. Bei dir.“
Raymond: „Blödsinn. Die Chance solltest Du nicht sausen lassen. Keine Angst. Ich warte auf Dich. Versprochen.“
Am Ende ist es der Krieg, der Lucies Reisepläne durchkreuzt. Lucie und Raymond bleiben zusammen und heiraten 1939. Sie erleben den Einmarsch der deutschen Nazitruppen in Nordfrankreich. Raymond ist Bauingenieur. Wie Lucie ist er in der kommunistischen Partei aktiv. Und er ist Jude. Das Paar setzt sich ab in Richtung Süden, in den von den Nazis noch unbesetzten Teil Frankreichs. Sie gehen in die sogenannte freie Zone. Nach Lyon. Dort schließen sie sich der Résistance an. Sie gründen die Widerstandsgruppe Libération-Sud. Verteilen Flugblätter, drucken die Untergrundzeitung Libération und schreiben Parolen an Hauswände.
Lucie: „Nazis raus! Nazis raus!“
Raymond: „Es lebe die Freiheit!“
Lucie: „Hau ab, Pétain. Hau ab!“
Der Protest der Libération-Sud richtet sich nicht allein gegen die Kriegstreiber aus Deutschland. Er richtet sich auch gegen Philippe Pétain. Pétain ist Staatschef des État Francais, dem unbesetzten Teil Frankreichs im Süden. Und Pétain hat einen Waffenstillstand mit den Deutschen unterzeichnet. Er kollaboriert. Lässt Juden jagen, um sie an die Gestapo auszuliefern. Lucie und Raymond führen ein riskantes Doppelleben. Im Untergrund organisieren sie den Widerstand und verstecken Juden, nach denen gesucht wird. Nach außen aber sind sie unauffällig, wirken rechtschaffend, fast bieder. Sie als Lehrerin, er als Ingenieur. Und beide als Eltern. Denn 1941 wird ihr erstes Kind geboren. Jean-Pierre.
Raymond: „Lucie! Sie kommen. Sie marschieren ein. Mit ihren Panzern. Sie machen auch hier alles platt. Es ist vorbei.“
November 1942. Im sogenannten Unternehmen Anton besetzen deutsche Truppen mit Unterstützung der Italiener den Süden Frankreichs.
Lucie: „Ich werde diese Uniformen nie akzeptieren. Diese fremde Armee, die glaubt, allmächtig zu sein.“
Die Résistance-Gruppen schließen sich zusammen. Ihre geheime Armee, die armée secrète, operiert gegen das brutale Vorgehen von Gestapo-Chef Klaus Barbie, genannt: der „Schlächter von Lyon“. Barbie hat sein Hauptquartier in Lyon eingerichtet. Raymond übernimmt Verantwortung in der armée secrète. Lucie arbeitet für den Widerstand als Verbindungsagentin. Ihre Kameraden kennen sie als Catherine. Sie verhilft Gefangenen zur Flucht. Im März 1943 schlägt die französische Miliz zu. Sie arbeitet eng mit der Gestapo zusammen. Raymond wird verhaftet. Als Raymond Vallet. So sein Deckname. Unmittelbar nach seiner Verhaftung stürzt Lucie in das Büro des Staatsanwalts.
Lucie: „Ich verlange die sofortige Freilassung von Vallet. Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen. Seine Festsetzung ist absolute Willkür. Wissen Sie, ich habe Verbindungen bis ganz nach oben. Sollten Sie Vallet nicht sofort freilassen, wird das schwere Konsequenzen für Sie haben. Ich warne Sie!“
Raymond bleibt in Haft. Zwei Monate lang folgt ein Verhör aufs nächste. Dann kommt er frei. Auch weil man seine jüdische Identität nicht hat feststellen können. Kurz darauf gerät René Hardy in die Fänge Klaus Barbies. Hardy gehört zur Spitze des Widerstands. Barbie lässt ihn so lange foltern, bis er genügend Informationen über die Drahtzieher der Résistance hat. Am 21. Juni 1943 greift Klaus Barbie durch. Er lässt eine Arztpraxis in Lyon stürmen. Ein geheimer Treffpunkt führender Widerstandskämpfer. Sie werden allesamt festgenommen und gefoltert. Unter ihnen auch Raymond. Die, die an den Folterungen nicht gestorben sind, lässt Barbie zum Tode verurteilen. Derweil schmiedet Lucie einen sehr brisanten Plan. Zu diesem Zeitpunkt ist sie zum zweiten Mal schwanger. Lucie geht zum Montluc Gefängnis in Lyon. Dort, wo Raymond einsitzt. Und sie wendet sich an die Gefängnisleitung:
Lucie: „Das ist alles ein großes Missverständnis. Er hatte einen Arzttermin. Es saß dort nur und wartete auf den Arzt. Er ist völlig unbeteiligt.“
Gefängnisleiter: „Junge Frau, das haben die Sicherheitsleute vor Ort ganz anders beobachtet. Er war mittendrin. Er gehört eindeutig zu der kriminellen Gruppe.“
Lucie: „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Er ist doch gar nicht so. Schauen Sie, ich werde Mutter. Und unser Kind soll nicht unehrenhaft aufwachsen. Am Ende geht es auch um meine Ehre. Lassen Sie uns bitte noch heiraten. Ich bitte Sie.“
Gefängnisleiter: „Ich kann Ihnen da nichts versprechen. Nur, dass ich es prüfen lassen werde. Das verspreche ich Ihnen.“
Lucie stützt sich bei Ihrer Bitte auf französisches Recht. Demnach ist Verlobten eine Notheirat erlaubt, wenn er oder sie schon sehr bald sterben würde. Lucies Täuschungsmanöver funktioniert. Die Heirat ist für Oktober anberaumt. Im Vorfeld beobachten Kameraden aus der armée secrète Gefangenentransporter aus dem Montluc Gefängnis. Sie notieren Uhrzeiten und Routen.
Donnerstag, 21. Oktober 1943. Lucie und Raymond geben sich das Ja-Wort.
Raymond: „Ja, ich will.“
Niemand ahnt, dass sie längst ein Ehepaar sind.
Lucie: „Ja, ich will.“
Nach der Zeremonie der Eheschließung steigt Raymond in einen Gefängnisbus. Zur Rückfahrt ins Montluc Gefängnis. Doch dort kommt der Bus nicht an. Auf halber Strecke stoppen mehrere Autos der armée secrète den Bus. Die Widerstandskämpfer sind schwer bewaffnet. Spektakulär befreien sie neben Raymond auch 13 weitere Gefangene. Mitten im Gefecht: Lucie. Hochschwanger. Und beseelt.
Lucie: „Raymond. Raymond! Komm! Schnell, schnell! Jede Minute zählt. Wir müssen fort!“
Die Führung der Résistance-Bewegung hat alle Vorbereitungen getroffen: Lucie und Raymond gelingt die Flucht mit ihrem Sohn. Zunächst an einen geheimen Ort und dann nach London, wo kurze Zeit später ihre Tochter Catherine zur Welt kommt. In London behält die Familie ihren letzten Decknamen: Aubrac.
Nach dem Krieg gehen die Aubracs zurück nach Frankreich. Lucie schlägt Angebote aus der Politik aus. Sie zieht es vor, wieder als Geschichtslehrerin zu arbeiten. Zudem wird sie Aktivistin für Amnesty International. In Paris beteiligt sie sich an der Gründung einer Schule, die sozial benachteiligte Kinder besonders fördert.
Am 14. März 2007 stirbt Lucie Aubrac im Alter von 94 Jahren.
Lucie Aubrac. Im Widerstand. Für Freiheit und Menschenwürde. HUMAN MINDED. Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks.
HUMAN MINDED. Patrice Lumumba. Der seine Landsleute in die Freiheit führt. Eine wahre Geschichte.
Montag, 20. Juni 2022. Belgiens König Philippe empfängt Angehörige von Patrice Lumumba. Er übergibt ihnen eine Schatulle. Darin ein Zahn - der Lumumba vor mehr als 60 Jahren aus dem Mund gerissen worden war. Nun soll der Zahn zurück in den Kongo.
Kasai. Eine Provinz im Kongo, der Anfang der 40er Jahre noch Belgisch-Kongo heißt. Hier wächst Patrice Lumumba auf. Seine Familie gehört der kleinen ethnischen Gruppe der Tetela an. Lumumba ist ein besonders aufmüpfiger Schüler. So kommt er zu seinem Namen, der rebellisches Team bedeutet. Den Namen nimmt Lumumba gerne an. In der Tat ist er ein Rebell. Oftmals korrigiert er seine Lehrer vor versammelter Mannschaft und genießt es geradezu.
Lumumba: „Nein. Das ist völliger Unsinn, was Sie da erzählen. Victor Hugo sagt es anders. Hugo sagt: Den Menschen fehlt nicht die Kraft. Es fehlt ihnen der Wille.“
Wegen Ungehorsams wird Lumumba von der Schule geworfen. Anschließend schlägt er eine Beamtenlaufbahn bei der Post ein. Nebenher schreibt Lumumba für kongolesische Zeitschriften. In seinen Essays und Gedichten stellt er sich der belgischen Kolonialherrschaft und dem Imperialismus im Allgemeinen entgegen.
Lumumba: „Dich hat man nur eine Lektion, nur ein Motto gelehrt. Sklavenarbeit oder Tod. Du bist unzählige Tode gestorben, lagst in Dschungeln tief verborgen, und der Morast umarmte Dich ganz langsam.“
Mit 30 Jahren steigt Lumumba in die Politik ein. 1955 wird er Mitglied der Belgischen Liberalen Partei im Kongo. Zudem Regionalpräsident der kongolesischen Gewerkschaft der Regierungsangestellten. Als er 1956 von einer Studienreise in Belgien in den Kongo zurückkehrt, verhaftet man ihn. Lumumba hat zweieinhalbtausend Dollar unterschlagen. Als Buchhalter bei der Post in Stanleyville, dem heutigen Kisangani. Er muss für zwölf Monate ins Gefängnis. Nach seiner Freilassung ist Lumumba einer der Mitbegründer der kongolesischen Nationalbewegung MNC, dem Mouvement National Congolais.
Lumumba: „Wir verfolgen die Idee einer unabhängigen Republik Kongo. Also den Rückzug der belgischen Kolonialisten. Wir werden unsere Regierung afrikanisieren. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes muss staatlich gesteuert werden, und außenpolitisch werden wir uns auf keine Seite ziehen lassen. Die Republik Kongo soll ein neutraler Staat werden.“
Ganz Afrika bäumt sich mehr und mehr gegen die Fesseln des Kolonialismus auf. 1958 lädt der ghanaische Präsident Kwame Nkrumah zur All-African-Peoples‘ Conference ein. Hier kommen sich Lumumba, Nkrumah und Guineas Präsident Ahmed Sekou Toure näher und teilen die panafrikanische Idee, die Einheit aller afrikanischer Menschen unabhängig von Ethnie und Nationalität. Beraten werden sie von der Aktivistin und Bürgerrechtlerin Andrée Blouin. Ihr Sohn ist an Malaria gestorben, weil die französisch-äquatorialafrikanische Kolonialverwaltung ihm das lebensrettende Medikament vorenthalten hatte. Es stehe allein Europäern zu.
Blouin: „Der Tod meines Sohnes hat mich politisiert wie nichts Anderes – wissen Sie. Als ich meinen kleinen sonnengebräunten Jungen verlor, da erkannte ich endlich das Muster. Mein Schicksal war genau das meiner Landsleute.“
Lumumba: „Sie haben Recht, Madame Blouin. Wir müssen uns wehren gegen die Eindringlinge.“
Das Versprechen, Kongo in die Freiheit zu entlassen, steht zu diesem Zeitpunkt seit einem dreiviertel Jahr im Raum. Der belgische König Baudouin selbst hat es in einer Rede im Januar 1959 abgegeben.
König Baudouin: „Wir werden die kongolesische Bevölkerung ohne Ausflüchte in die Unabhängigkeit führen, in Wohlstand und Frieden.“
Doch wann?
König Baudouin: „Ohne schädlichen Aufschub, aber auch ohne gedankenlose Eile.“
Der Bevölkerung geht es nicht schnell genug. Lumumba findet im Kongo überwältigend viele Anhänger. Die Menschen begehren auf und versammeln sich zu antikolonialen Protestmärschen, bei denen es auch zu Ausschreitungen kommt. Wie im Oktober 1959 in Stanleyville – mit 30 Toten. Die Polizei nimmt Lumumba als mutmaßlichen Anstifter des Aufstands fest. Er soll für sechs Monate in Haft. Gleichzeitig kündigt die belgische Regierung für Dezember Regionalwahlen an. Lumumba siegt. Aus dem Gefängnis heraus.
Sonntag, 3. Januar 1960. Die belgische Regierung gibt bekannt, einen Runden Tisch einzuberufen, an dem der Übergang des Kongos von der Kolonialherrschaft zur Unabhängigkeit verhandelt werden soll. Diese Konferenz beginnt Mitte Januar, und Lumumba sitzt mit am Runden Tisch. Denn man hat ihn, um die Ziele der Konferenz nicht zu gefährden, aus der Haft entlassen und nach Brüssel reisen lassen. Zehn Tage später gibt es ein Ergebnis.
Reporter: „Soeben haben die Teilnehmer des belgisch-kongolesischen Runden Tischs die Vereinbarungen ihrer Beratungen bekanntgegeben. Demnach wird Belgisch-Kongo in seine Unabhängigkeit entlassen. Als Unabhängigkeitsdatum hat die Konferenz den 30. Juni 1960 festgelegt. Zuvor werden in Belgisch-Kongo nationale Wahlen stattfinden. Und zwar zwischen dem 11.und dem 25. Mai.“
Lumumbas Partei MNC gewinnt die Wahlen im Mai haushoch. Doch mit der Souveränität des Kongo ist es nicht weit her. Es ist König Baudouin, der Lumumba zum Regierungschef macht und ihm den westlich-orientierten Joseph Kasavubu als Präsident vor die Nase setzt. Der Gedanke dahinter: Kongo formal zu befreien, aber gleichzeitig die Kontrolle über die unermesslichen Bodenschätze des Landes zu behalten. Doch schon die Unabhängigkeitsfeier am 30. Juni 1960 in Leopoldville, dem heutigen Kinshasa, macht den Belgiern einen Strich durch die Rechnung. König Baudouin spricht als Ehrengast auf der Feier.
König Baudouin: „Die Unabhängigkeit des Kongo ist der Erfolg des Werkes des genialen Leopold II. Von ihm begonnen mit hartnäckigem Mut und von Belgien mit Ausdauer zu Ende geführt. Gefährden Sie die Zukunft nicht durch übereilte Reformen. Und scheuen Sie sich nicht, zu uns zu kommen. Wir werden Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.“
Lumumba fühlt sich herausgefordert. Denn der vermeintlich geniale König Leopold II. hat den Kongo 75 Jahre zuvor in Beschlag genommen und aufs Übelste geplündert. Mindestens acht Millionen Kongolesen sind dabei ermordet worden. Entschlossen geht der neu gewählte Premierminister Patrice Lumumba zum Rednerpult.
Lumumba: „Man hat uns mit Ironie behandelt. Mit Herablassung und mit Beleidigungen. Wir sind geschlagen worden. Morgens, mittags, abends. Geschlagen worden, weil wir Neger sind. Wer wird die Erschießungen vergessen und die Kerker, in denen jene schmachteten, die sich der Ausbeutung nicht unterwerfen wollten? Wir haben einen gerechten und edlen Kampf gekämpft. Und wir sind stolz auf diesen Kampf. Der unerlässlich war, um der demütigenden Sklaverei ein Ende zu setzen.“
Sehr schnell muss der Westen erkennen, dass der Plan, den Kongo weiterhin zu kontrollieren, nicht aufgeht. Lumumba will Bergbauunternehmen und große Plantagen verstaatlichen. Er will die reichen Bodenschätze – Uran, Kupfer, Gold, Diamanten, Zink – für seine Landsleute sichern. Die Tage der Ausbeutung durch die Belgier und deren Verbündeten im Westen seien gezählt. Die USA steuern dagegen. Die CIA bezahlt kongolesische Politiker dafür, im Land Stimmung gegen Lumumba zu machen. Zudem engagiert sie Mittelsmänner, die Protestmärsche organisieren und dafür sorgen sollen, dass es Gewalt auf den Straßen gibt. Keine zehn Tage nach der Unabhängigkeitsfeier landen belgische Fallschirmjäger mit Unterstützung der USA im Kongo. Zum Schutz belgischer Zivilisten, wie es heißt.
Am 11. Juli muss Lumumba die nächste Niederlage einstecken. Der Regionalpräsident der Provinz Katanga, Moise Kapenda Tschombe, meldet sich zu Wort.
Tschombe: „Die Provinz Katanga erklärt hiermit ihre politische Unabhängigkeit vom Kongo. Wir sind nicht länger gewillt, uns von einer kommunistischen Regierung ins Verderben schicken zu lassen.“
Tschombe ist ein alter Gegenspieler Lumumbas. Bei der Abspaltung der Provinz Katanga hat er die Unterstützung der Belgier und US-Amerikaner. Katanga ist die rohstoffreichste Gegend im Kongo. Lumumba wendet sich an die Vereinten Nationen.
Lumumba: „Die Lage im Kongo gerät aus den Fugen. Schicken Sie UN-Truppen, um mir zu helfen, das Land zu beruhigen.“
Die USA und Frankreich verhindern das. Vom Westen enttäuscht sucht Lumumba die Unterstützung der Sowjetunion. Damit überschreitet er eine rote Linie im Kalten Krieg. Auf Anordnung des US-Präsidenten Eisenhower telegrafiert die CIA an ihr Büro im Kongo:
Telegramm: „Im Interesse der freien Welt haben wir beschlossen, dass die Ermordung Lumumbas unser vorrangiges Ziel ist.“
Präsident Kasavubu entlässt am 5. September Lumumba als Premierminister. Zudem stellt man Lumumba unter Hausarrest.
Lumumba: „Das ist Unrecht. Ich bin gewählt. Das kongolesische Volk steht hinter mir.“
Mittwoch, 14. September 1960. Mit Unterstützung Belgiens und der USA putscht sich Armeegeneral Sese Seko Mobutu an die Macht. Dabei lässt er Präsident Kasavubu im Amt und sichert sich so die Anerkennung seiner Regierung durch die Vereinten Nationen. Derweil versucht Lumumba dem Hausarrest zu entkommen. Das Militär verhaftet ihn, und General Mobutu lässt Lumumba und zwei seiner Vertrauten ausliefern – an Lumumbas politischen Gegenspieler: Tschombe in der Provinz Katanga. Dort werden die Gefangenen schwer misshandelt und schließlich an eine Waldhütte gebracht.
Lumumba: „Sie werden uns jetzt töten. Richtig?“
Soldat: „Richtig. Das werden wir.“
Am Dienstag, den 17. Januar 1961 wird Patrice Lumumba von einem Erschießungskommando hingerichtet. Da ist er gerade 35 Jahre alt. Um die Ermordung zu verschleiern, zerhacken belgische Soldaten den Leichnam und lösen ihn in Batteriesäure auf. Zuvor reißt einer der Soldaten Lumumba einen Schneidezahn raus. Als Trophäe, die er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 für sich behält. 2002 entschuldigt sich Belgien beim kongolesischen Volk für seine Rolle bei der Ermordung Lumumbas.
Patrice Lumumba. Symbolfigur der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung.
HUMAN MINDED_ Fannyann Eddy
Sierra Leone. Anfang der 90er Jahre. Fannyann Eddy bereitet ihre Flucht vor. Sie muss ihre Heimat verlassen. Der Bürgerkrieg in Sierra Leone fordert zigtausend Todesopfer. Korruption und Diamantenschmuggel, soziale Ungerechtigkeit, Spaltung in der Gesellschaft und weitverbreitete Armut. All das hat zu einem brutalen Widerstandskampf geführt. An seiner Spitze: Foday Sankoh.
Sankoh: „Seit mehr als 30 Jahren, seit unserer Unabhängigkeit, verfolgen die Politiker in unserem Land nur zwei Ziele: Korruption und Vetternwirtschaft. Damit muss Schluss sein.“
Sankoh ist Anführer der Rebellenbewegung RUF, die Revolutionary United Front. Viele Sierra Leoner feiern ihn als Befreier, andere halten auch ihn für im Grunde korrupt. Bis zu 45.000 Soldaten kämpfen über Jahre unter Sankohs Kommando. Auch Kinder müssen in den Krieg.
Als Teenager wird Fannyann zum Flüchtling. Sie hat nur eine Perspektive, nur eine Idee: Sie will überleben. Mehr als anderthalb Millionen Menschen fliehen in den 90er Jahren aus Sierra Leone. Nach einer beinahe endlosen Odyssee kommt Fannyann schließlich in einem Flüchtlingslager in Simbabwe unter. Sie lernt sich zu wehren. Gegen übergriffige Männer, die ihr zu nah kommen.
Fannyann: „Hey, noch einen Schritt und ich werde kratzen und beißen. Ich werde schreien wie ein abgeschlachteter Stummelaffe. Meine Brüder und Cousins warten nur auf Typen wie dich.“
Fannyann ist eine junge Frau, die ihre Identität längst verstanden, längst verinnerlicht hat. Und sie steht zu ihr. Ohne große Scheu sagt sie, dass sie lesbisch ist. In ihrer Heimat stehen sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Lesbische Liebe hingegen wird im Gesetzbuch gar nicht erwähnt. Nur ein Hinweis auf die geringe Beachtung der Frauen in Sierra Leone. Fannyann ist fest entschlossen, eines Tages in ihr Heimatland zurückzukehren, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, für Menschenrechte zu kämpfen.
In Esther findet Fannyann ihre große Liebe. Esther Chikalipa, die ein Kind mit in die Beziehung bringt. Gemeinsam ziehen Esther und Fannyann ihren Sohn groß.
Esther: „Fanny. Warum willst Du unbedingt zurück? Zurück nach Sierra Leone? Was treibt Dich an?“
Fannyann: „Hm. Es kann ja sein, dass Du mich für eine Träumerin hältst. Aber ich mag sie nicht aufgeben, meine Träume. Dass mehr und mehr Frauen befreit werden, weißt Du? Dass sie festhalten dürfen an dem, woran sie glauben. Danach leben dürfen. Ohne Angst. Ich träume von einer Welt ohne Diskriminierung, ohne Folter und Gewalt.“
Fannyann bereitet ihre Rückkehr nach Sierra Leone vor. In Harare sucht sie das Büro der Organisation Gays and Lesbians of Zimbabwe auf. Dort trifft sie Keith Goddard, den Direktor. Sie bittet ihn um Unterstützung beim Aufbau eines ebensolchen Verbandes in Sierra Leone.
Goddard: „Ich finde es bemerkenswert, dass Du das tun willst. Du selbst hast doch eigentlich nichts zu befürchten, solange Du Dein Leben lebst und Dich dabei ruhig verhältst. Allerdings - also: Wenn Du Deine Stimme erhebst und laut wirst, dann… ja dann kann Dir alles Mögliche drohen.“
Fannyann: „Ich weiß. Man wird mir drohen. Aber im Namen der Liebe, unserer Liebe, darf und werde ich mich nicht einschüchtern lassen. Solange Menschen getötet werden, nur weil sie nicht in das Heteromuster passen, solange kann ich keine Ruhe finden und keine geben.“
Januar 2002. Der Bürgerkrieg in Sierra Leone ist zu Ende. Einer der verheerendsten Konflikte im postkolonialen Afrika. Allein 45.000 Zivilisten haben ihr Leben verloren. Kinder, zur Waffe gezwungen, sind traumatisiert. Junge Frauen sind Opfer sexualisierter Gewalt geworden. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission wird eingesetzt, um den Opfern von Kriegsverbrechen eine Stimme zu geben. Mühsam arbeitet man am Wiederaufbau des Landes. Mit ambitionierten Plänen begibt sich Fannyann Eddy zurück in ihr Heimatland. Sie erreicht Freetown und vernetzt sich schnell in der queeren Szene. Sie gründet die SLLGA, die Sierra Leone Lesbian and Gay Association, die erste Organisation dieser Art im Land.
Fannyann: „Wir müssen das alles dokumentieren. Die Schläge, die Diskriminierungen, die willkürlichen Verhaftungen. Schwarz auf weiß sollen sie das haben und sich damit auseinandersetzen.“
Zudem organisieren Fannyann und ihre Mitstreiter psychologische Betreuung für verängstigte Freundinnen und Freunde in der Untergrund-gemeinschaft. Ihre Appelle richten sie direkt an die Regierungs-ministerien.
Fannyann: „Kümmern Sie sich endlich um die Gesundheit und um die Menschenrechte von Schwulen und Lesben. Die Unterdrückung, der wir ausgesetzt sind, wird von Ihnen ja auch noch staatlich gefördert. Setzen Sie dem Ganzen ein Ende.“
Je mehr sich Fannyann engagiert, desto öfter erhält sie Drohbriefe. Man werde sie verprügeln, mundtot machen, abstechen, hinrichten. Doch sie gibt nicht nach, will sich nicht aufhalten lassen. Sorgen macht sie sich vielmehr um die Sicherheit ihrer Familie. Fannyann ist viel unterwegs, aber sie bleibt eine treusorgende Mutter.
Fannyann: „Hallo, mein Schatz.“
Sohn: „Hallo. Wann kommst Du zurück?“
Fannyann: „Übermorgen. Übermorgen bin ich wieder bei Dir. Wie war Dein Tag? Was hast Du unternommen?“
Sohn: „War ganz okay. Wir haben Fußball gespielt. Jetzt hab‘ ich Hunger.“
Fannyann: „Ja klar. Fußball macht hungrig. Gibt bestimmt gleich was zu essen. Weißt Du was? Ich rufe Dich morgen wieder an, um dieselbe Zeit, und dann verrätst Du mir, was ich Dir mitbringen soll. Okay?
Sohn: „Ja. Aber ich weiß jetzt schon...“
Fannyann: „Nein. Sag’s mir besser morgen. Wenn es dann immer noch derselbe Wunsch ist, dann ist er richtig. Okay? Gute Nacht, mein Schatz.“
Sohn: „Gute Nacht.“
2004 wird zum Schicksalsjahr für Fannyann Eddy. Im Februar reist sie nach Johannesburg, um einen Vortrag beim All Africa Symposium zu halten. Sie prangert vor allem die Gesetzgebung in Sierra Leone an.
Fannyann: „Offensichtlich sind queere Kriminelle die böseren im Vergleich zu heterosexuellen Kriminellen. Eine Ungleichheit, die dazu führt, dass dann auch Übergriffe auf queere Menschen weniger verwerflich sind. Ich verstehe das nicht. Wir haben in Sierra Leone eine Unrechtsprechung.“
Fannyann wird in das Komitee der All Africa Rights Initiative gewählt. Zudem engagiert sie sich in der Coalition of African Lesbians, die sich in Namibia zusammenfindet. Im April reist sie nach Europa. Nach Genf. Fannyann Eddy spricht vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen.
Fannyann: „Wir existieren. Doch durch das Abstreiten unserer Existenz müssen wir in ständiger Angst leben: Angst vor der Polizei und staatlichen Stellen, die die Macht haben, uns allein aufgrund unserer sexuellen Orientierung hinter Gitter zu bringen. Wir haben Angst davor, dass unsere Familien uns verleugnen. Wir leben in Angst in unserem Umfeld, in dem wir permanenten Schikanen und Gewalt durch Nachbarn und andere ausgesetzt sind. Ihre homophoben Angriffe werden von staatlicher Seite nicht bestraft.“
Fannyann sieht in bewegte Gesichter und gleichzeitig beobachtet sie, wie UN-Kommissarinnen und -Kommissare betreten wegschauen. Sie schließt ihre Rede mit einem emotionalen Appell.
Fannyann: „Schweigen macht verletzbar. Sie, die Mitglieder der Menschenrechtskommission, können das Schweigen brechen. Sie können anerkennen, dass es uns gibt – in Afrika und auf jedem Kontinent – und dass tagtäglich Menschenrechtsverletzungen aufgrund der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität begangen werden. Sie können uns dabei helfen, diese Verbrechen zu bekämpfen und unsere vollständigen Rechte und Freiheiten in jeder Gesellschaft zu erlangen – auch in meinem geliebten Sierra Leone.“
Die erhoffte Unterstützung der Menschenrechtskommission bleibt aus.
Mittwochnacht. 29. September 2004. Freetown City Center. Drei Männer brechen in das Büro der Sierra Leone Lesbian and Gay Association ein. Zur Tatzeit ist Fannyann im Büro. Allein. Den Einbrechern ausgeliefert. Die Männer vergewaltigen sie. Anschließend erstechen sie Fannyann, verstümmeln sie, brechen ihr das Genick. Es passiert genau das, was in zahlreichen Drohbriefen gestanden hat. Man macht die 30jährige Aktivistin mundtot, man sticht sie ab, man richtet sie hin. Einen der Täter nimmt die Polizei später fest. Doch ihm gelingt die Flucht. Die Behörden weigern sich, den Mord als homophobes Hassverbrechen zu behandeln.
Die Sierra Leone Lesbian and Gay Association macht da weiter, wo Fannyann Eddy mit ihrer Arbeit aufgehört hat. Der Fannyann-Poetry-Award fördert queere Dichter. Und 2007 gründet man in Deutschland die Hirschfeld-Eddy-Stiftung. Sie setzt sich weltweit für die Rechte queerer Menschen ein.
Fannyann Eddy. Ein Leben für die Menschenrechte.
Fannyann Eddy. Human Minded.
Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks.
HUMAN MINDED_ Jürgen Hinzpeter
Erzählerin: Solveig Jeschke
Jürgen Hinzpeter: Stefan Naas
Chun Doo-whan: Sokrates Evangelidis
Pfarrer Paul Schneiss: Uwe Thoma
Henning Rumohr: Jan Kröger
Kim Sa Bok: Benjamin Stolz
Student: Andre Denz
Alter Mann: Frank Hofmann
----------------------------------------------------------------
Freitag, 26. Oktober 1979. Südkoreas Präsident Park Chung-hee wird erschossen. Von seinem eigenen Geheimdienstchef. So brutal das Attentat auf den Diktator auch ist, die Menschen in Südkorea atmen auf. Sie hoffen auf die Demokratisierung des Landes. Nur zwei Monate später putscht sich Armeechef Chun Doo-whan an die Macht. Das Land bleibt unter Militärherrschaft. Das Volk ist enttäuscht. Es regt sich Widerstand. Im Mai 1980 gehen in Seoul fast einhunderttausend Protestierende auf die Straße. Die Regierung reagiert wütend und entschlossen. Sie löst die Nationalversammlung auf und verschärft das Kriegsrecht. Sie verbietet politische Aktivitäten, schließt Universitäten und verhaftet zahlreiche Oppositionelle. Unter ihnen Kim Dae-jung, führender Oppositionspolitiker und im Südwesten des Landes beheimatet, im Großraum der Millionenstadt Gwangju. Und genau dort spitzt sich die Lage zu. Am Sonntag, dem 18. Mai um 10 Uhr morgens versammeln sich 600 Studenten im Stadtzentrum von Gwangju und fordern die Aufhebung des Ausnahmezustands, zudem die Freilassung von Kim Dae-jung. Doch der regierende Generalmajor Chun Doo-whan denkt gar nicht daran.
Chun Doo-whan: „Er ist schuldig. Er hat versucht, mit Gewalt die Macht zu ergreifen. Kim Dae-jung wird sich vor Gericht verantworten müssen.“
In Gwangju solidarisieren sich immer mehr Menschen mit den Studenten. Soldaten greifen ein. Mit Schlagstöcken und Tränengas. Die Demonstranten wehren sich. Werfen Steine und Molotowcocktails. Das Gwangju-Massaker nimmt seinen Lauf.
Tags drauf. 19. Mai 1980. Im ARD-Studio Tokio klingelt ein Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist Pfarrer Paul Schneiss. Ökumenischer Mitarbeiter im Kyodan, der Vereinigten Kirche Christi in Japan.
Schneiss: „Ich rufe an, da wir uns große Sorgen machen. Meine Frau ist zurzeit in Seoul und sie hat Panzer gesehen. Jede Menge Panzer. Es heißt, das Militär soll die Studentenproteste in Gwangju mit harter Hand niederschlagen.“
Im ARD-Studio Tokio arbeitet Jürgen Hinzpeter als Korrespondent. Er hat direkte Kontakte nach Südkorea und nutzt sie, um sich über die instabile Lage zu informieren. Die Presse ist ihm dabei keine Hilfe. Die südkoreanische Regierung hat sie vollständig unter Kontrolle. Jürgen Hinzpeter fasst einen Entschluss. Noch am selben Tag will er sich aufmachen nach Südkorea. Er will Augenzeuge sein und Berichterstatter. Begleiten soll ihn dabei sein Kollege aus der Technik, Henning Rumohr.
Hinzpeter: „Henning. Wie viel Bargeld hast Du dabei?“
Rumohr: „Weiß ich nicht. Ich habe noch welches in meinem Schreibtisch.“
Hinzpeter: „Wir brauchen Bargeld. Viel. Vielleicht müssen wir uns für länger irgendwie durchschlagen.“
Zur selben Zeit in Gwangju. Studenten haben einen großen Demonstrationszug organisiert. Bus- und Taxifahrer bilden einen langen Konvoi, der mit einem lauten Hupkonzert durchs Zentrum zieht. Die Menschen entzünden eine riesige Fackel. Symbolisch soll sie Licht in die Dunkelheit der Diktatur bringen. Wieder setzen Soldaten Schlagstöcke und Tränengas ein. Und wieder werfen Demonstranten mit Steinen und Molotowcocktails.
Am Nachmittag erreichen Jürgen Hinzpeter und Henning Rumohr den Flughafen Gimpo, im Westen Seouls. Dort holt sie Kim Sa Bok ab. Ein Fahrer, den Hinzpeter vor der Abreise aus Japan bestellt hat.
Kim Sa Bok: „Guten Tag, Herr Hinzpeter. Hatten Sie einen guten Flug?“
Hinzpeter: „Jaja, danke. Das ist Herr Rumohr, mein Kollege aus dem Studio Tokio.“
Kim Sa Bok: „Angenehm. Ich bin Kim Sa Bok. Und ich werde versuchen, Sie überall dort hinzubringen, wohin Sie möchten.“
Hinzpeter: „Ja. Gut. Für Gwangju ist es heute schon zu spät. Wir werden uns morgen früh aufmachen. Fahren Sie uns bitte ins Chosun Hotel.“
Dienstag, 20. Mai. Seit den frühen Morgenstunden lenkt Kim Sa Bok seinen schwarzen Hyundai in Richtung Süden. An der Auffahrt zur Schnellstraße nach Gwangju steht ein großes Hinweisschild: gesperrt. Doch Kim Sa Bok fährt unbeirrt weiter. Neben ihm sitzt Jürgen Hinzpeter. Angespannt und seine Kamera griffbereit. Die Straße ist völlig verlassen. Nach einer Stunde ist ein großes Schild zu sehen. Weißes Piktogramm auf blauem Grund. Umleitung.
Hinzpeter: „Da müssen wir wohl runter. Oder?“
Kim Sa Bok: „Nein. Da geht noch ein Stück. Nehmen wir die Schilder einfach als freundliche Empfehlung – für alle die, die heute nicht in Gwangju ankommen wollen.“
Zur selben Zeit versammeln sich mehrere Tausend Menschen im Zentrum Gwangjus. Sie stürmen die Barrikaden der Polizei. Für Jürgen Hinzpeter sind es keine 30 Minuten Autofahrt mehr bis in die Stadt. Doch schwerbewaffnete Soldaten stoppen den Wagen. Direkt vor einem Tunnel. Kim Sa Bok muss die Schnellstraße verlassen. Die Soldaten leiten ihn durch hohe Reisfelder in ein nahegelegenes Dorf. Hier steigt Kim Sa Bok aus und unterhält sich mit einigen Bauern.
Kim Sa Bok: „So. Weiter gehts.“
Hinzpeter: „Was haben sie gesagt? Gibt es überhaupt noch einen Weg nach Gwangju – oder ist alles blockiert?“
Kim Sa Bok: „Wird schwierig. Die Bauern haben mir ein paar Schleichwege genannt. Mal sehen, ob wir durchkommen.“
Wenige Kilometer vor Gwangju. Die nächste Straßensperre. Die nächste Kontrolle. Jürgen Hinzpeter kommt auf eine Idee. Er erzählt den Soldaten, dass sie in die Stadt fahren müssten, um ihren Chef zu finden. Er sei in großer Gefahr.
Hinzpeter: „Nein. Wir fahren nicht nach Gwangju, um zu filmen. Nein. Das ist allein ein humanitärer Einsatz, kein journalistischer. Wir bringen unseren Chef da raus, und dann sind wir auch schon wieder verschwunden.“
Mit dieser Geschichte ist es für Hinzpeter und seine Mitstreiter plötzlich sehr leicht, die Posten des Militärs zu passieren. Langsam nähern sie sich dem Stadtgebiet Gwangjus. An ihrem Wagen haben sie eine Stockflagge angebracht: German Television in schwarz-rot-gold als Hinweis, dass dieses Auto kein Militärfahrzeug ist. Kurz darauf begegnet ihnen ein Stadtbus. Geschmückt mit der südkoreanischen Nationalflagge. Dahinter ein Militärlastwagen – gekapert von Studenten. Junge Männer mit Stirnbändern sitzen im Bus und auf der Ladefläche des Lastwagens. Sie trommeln und singen laut. Und sie laden Hinzpeter und Rumohr ein, zu ihnen rüberzukommen. Die beiden klettern auf die Ladefläche des Lastwagens und beginnen zu filmen, während es stadteinwärts geht. Kurz darauf findet sich Hinzpeter auf einem Marktplatz inmitten aufgebrachter Menschen wieder. So viele, die dem deutschen Journalisten von den brutalen Übergriffen der Soldaten erzählen. Sie bringen Hinzpeter in den Hinterhof eines Krankenhauses. Dort öffnen sie Särge, die in langen Reihen aufgestellt sind. Sie zeigen auf die zahlreichen Kopfwunden der Toten. Mit zitternder Stimme nennen sie die Namen der Totgeprügelten, die Namen ihrer Brüder, ihrer Freunde und Mitstreiter.
Hinzpeter: „Mein Gott. Darf ich filmen? Ja? Filmen. With my camera. Is it okay? Sowas habe ich noch nie gesehen. Nicht mal im Vietnamkrieg.“
Am späten Nachmittag sind mehr als einhunderttausend Menschen auf der Straße. Sie ziehen zum Gebäude der Provinzregierung und belagern es. In der Nacht zünden Demonstranten Autos an und bewegen sich auf die Soldaten zu, um sie zurückzudrängen. Die Armee eröffnet das Feuer. Doch der Protestzug weicht nicht zurück. Demonstranten plündern die Waffenkammern der Polizei und der Armee. Schwer bewaffnet besetzen sie den Rundfunksender der Stadt.
Am Vormittag des 21. Mai versucht Jürgen Hinzpeter, Kontakt mit seinem Büro in Tokio aufzunehmen. Aber die Telefonleitungen sind gekappt, und Hinzpeter hat kein Satellitentelefon.
Hinzpeter: „Henning. Es nützt nichts. Ich denke, wir sollten schon heute zurück nach Tokio. Wir drehen jetzt noch an zwei, drei Orten und dann nichts wie retour. Die Aufnahmen müssen so schnell wie möglich veröffentlicht werden.“
Rumohr: „In Ordnung. Lass uns zum Regierungsgebäude fahren. Dort soll es eine Art Kommandozentrale der Studenten geben.“
Hinzpeter filmt im Innenhof des Regierungsgebäudes. Lastwagen bringen immer wieder Leichen. Studenten werden mit Waffen ausgestattet. Vor dem Gebäude sitzen zahlreiche Menschen. Sie meditieren. Sie feiern Buddhas Geburtstag. Vor der ausgebrannten Fernsehstation der Stadt interviewt Hinzpeter Amnesty International Aktivisten. Am Nachmittag bereitet er die Rückfahrt zum Flughafen Gimpo vor. Er legt die belichteten Filmrollen zurück in die Originalschachteln, damit sie ungebraucht aussehen. Die wichtigsten Rollen versteckt er unter seinem T-Shirt.
Hinzpeter, Rumohr und Kim Sa Bok machen sich auf in Richtung Flughafen. Wieder werden sie von Soldaten kontrolliert. Doch sie fliegen nicht auf.
Zur selben Zeit liefern sich in Gwangju zweihunderttausend Demonstranten und das Militär einen unbarmherzigen Kampf, in dem viele ihr Leben lassen.
Hinzpeter: „Nun, ist es doch später geworden, als ich dachte. Den Flug nach Tokio bekommen wir nicht mehr. Also noch mal ins Hotel.“
Kim Sa Bok: „In Ordnung. Ich fahre Sie dann gleich morgen früh zum Flughafen.“
Donnerstagmorgen, 22. Mai. Flughafen Gimpo. Jürgen Hinzpeter bucht First Class nach Tokio. Das Risiko, dass sein Handgepäck ausgiebig inspiziert wird, ist so wesentlich geringer. Seine Filmrollen liegen zwischen Keksen in einer Dose, die Hinzpeter mit goldfarbener Folie und grünen Bändern verpackt hat – wie ein Hochzeitsgeschenk. So gelingt es ihm, die Filmaufnahmen ins ARD-Studio Tokio zu bringen. Noch am selben Tag sendet die Tagesschau die weltweit ersten Bilder vom Aufstand in Gwangju.
Wenige Stunden nach ihrer Ankunft in Tokio fliegen Hinzpeter und Rumohr zurück nach Seoul, um sich am Freitagmorgen gemeinsam mit ihrem Fahrer Kim Sa Bok abermals nach Gwangju zu begeben. Ihr Weg dorthin wird durch einen Konvoi des Roten Kreuzes begünstigt. Sie schließen sich dem Hilfstransport an. Später gelingt es Hinzpeter, patrouillierende Soldaten davon zu überzeugen, dass er als Ausländer trotz Kriegsrechts frei reisen dürfe. Sie lassen ihn durch.
Kim Sa Bok: „Kompliment, Herr Hinzpeter. Fragt sich nur, warum man auch mich weiterfahren lässt. Ich bin doch kein Ausländer.“
Hinzpeter: „Ich glaube, die waren mit meinem Englisch irgendwie überfordert. Die wollten einfach nur ihre Ruhe haben.“
Sie erreichen das Regierungsgebäude. Zwanzigtausend Menschen sind zu einer Kundgebung zusammengekommen. Niemand, der sie in diesem Moment bedroht. Die Soldaten haben sich aus dem Zentrum zurückgezogen. Die Studenten bilden ein Bürgerkomitee. Dieses Komitee verhandelt am Samstagmittag, 24. Mai mit dem Militär. Dafür nutzt man die einzig funktionierende Telefonleitung Gwangjus im Regierungsgebäude. Hinzpeter hört den Verhandlungen zu. Ein alter Mann mit Schärpe spricht in den Telefonhörer.
Alter Mann: „Solange wir uns gegenseitig beschießen, werden wir keine Möglichkeit haben zusammenzukommen, um unseren Konflikt zu lösen. Wir haben die geplünderten Waffen inzwischen wieder eingesammelt.“
Student: „Hey. Gib mal her. Gib mir mal den Hörer. Hallo? Hören Sie: Halten Sie Ihre Truppen zurück. Unternehmen Sie nichts, bis wir uns wieder bei Ihnen melden. Und wenn Sie noch Fragen haben, dann melden Sie sich, rufen Sie hier an, ja? Bitte.“
Am selben Nachmittag ruft das Komitee die Befreiung Gwangjus aus. Militärtruppen verstärken die Blockade um das Stadtzentrum.
Montag, 26. Mai 1980. Erneut verhandelt das Komitee mit Militäroffizieren. Noch immer zeichnet sich keine friedliche Lösung ab.
Hinzpeter: „Es ist dramatisch. Sieht so aus, als bliebe euch Menschen von Gwangju nur ein möglicher Weg zur Befreiung. Nur der des Blutvergießens.“
Zwanzigtausend Soldaten, Fallschirmjäger und Panzer stürmen in der Nacht zum 27. Mai das Stadtzentrum Gwangjus. Ein Blutbad mit Tausenden Toten beendet das Aufbegehren des Volkes. Es kommt zum angekündigten Prozess gegen den Oppositionellen Kim Dae-jung. Das Militärgericht in Seoul verurteilt ihn als angeblichen Rädelsführer zum Tode. Nur auf internationalen Druck begnadigt ihn die Regierung später. Denn Hinzpeters Aufnahmen belegen die Unschuld Kim Dae-jungs. Weder am Aufruf noch an der Organisation des Aufstandes ist er aktiv beteiligt gewesen. Seine Freilassung gibt Südkoreas Demokratiebewegung enormen Auftrieb, was schließlich 1987 zu freien Präsidentschaftswahlen führt. Elf Jahre später, 1998, wird Kim Dae-jung selbst Präsident Südkoreas.
Im Januar 2016 stirbt Jürgen Hinzpeter im Alter von 79 Jahren.
Jürgen Hinzpeter, dem sie in Gwangju ein Denkmal gebaut haben.
HUMAN MINDED_ Anna Politkowskaja
Erzählerin: Solveig Jeschke
Anna Politkowskaja: Anna Jörgens
Annas Mutter: Celina Fries
Alexander Politkowskij: Benjamin Stolz
Dmitri Muratov: Jan Kröger
Oberstleutnant: Uwe Thoma
Tschetschenen-Rebell: Stefan Naas
Anna Politkowskaja. Die sich hingibt. Für die Wahrheit.
Eine wahre Geschichte.
Am 30. August 1958 kommt Anna Masepa zur Welt. In New York. Ihre Eltern sind Ukrainer. Sie arbeiten als sowjetische Diplomaten bei den Vereinten Nationen. Jahre später kehren die Eltern heim - mit ihrer Tochter. Anna lebt in Moskau. Behält aber ihren amerikanischen Pass. Schon als Teenager weiß sie, dass sie Journalistin werden will.
Annas Mutter: „Anna. Post für Dich. Sieht nach einem Brief von der Universität aus. Hm? Komm, mach auf!“
Anna: „Sehr geehrte Frau Masepa, mit Schreiben vom 26. Mai haben Sie haben sich um…. Wir teilen Ihnen hiermit mit… Mama, sie lassen mich zu! Ich hab‘ den Platz!“
Kurz vor dem Journalistik-Studium an der Lomonossov-Universität in Moskau lernt Anna Alexander Politkowskij kennen. Auf einer Party.
Anna: „Und. Was machst Du so, wenn Du nicht gerade feiern gehst?“
Alexander: „Ich studiere Journalistik.“
Anna: „Was studierst Du?“
Alexander: „Journalistik! Wieso fragst Du so? Schreckt Dich das ab?“
Anna: „Nein. Schreckt mich nicht ab. Ganz im Gegenteil.“
Anna und Alexander werden ein Paar. Mit 20 Jahren heiratet Anna und heißt von da an Anna Politkowskaja. Sie wird Mutter zweier Kinder. Doch die Rolle als Hausfrau missfällt ihr. Sie beginnt zu schreiben. Für verschiedene russische Zeitungen. Bei der Iswestija ist sie für die Leserpost zuständig. Aber Anna will mehr.
Anna: „Ich sitze hier nur in der Redaktion rum und erlebe die Welt irgendwie nur vom Hörensagen – aus zweiter Hand. Ich muss raus. Ich muss das wahre Leben aufstöbern. Draußen. Geschichten entdecken, um sie zu erzählen.“
1994 beginnt Annas Aufstieg bei der Wochenzeitung Obschtschaja Gazeta. Sie wird stellvertretende Chefredakteurin und leitet die Redaktion „Außerordentliche Vorfälle“. In ihren Berichten kritisiert sie auch die Politik der russischen Regierung. Sie sorgt für Aufsehen. Schließlich wirbt die oppositionelle Zeitung Novaja Gazeta um Annas Dienste. Mit Erfolg. Anna schreibt über Korruption, über autoritäre Politik, über mangelnde Meinungsfreiheit. 1999 unterbreitet ihr Dmitri Muratov ein Angebot. Muratov ist Chefredakteur der Novaja Gazeta.
Muratov: „Wir brauchen einen Sonderkorrespondenten. Oder besser: eine Sonderkorrespondentin! Ich habe dabei an Sie gedacht.“
Anna: „Wobei? Wobei haben Sie an mich gedacht?“
Moratov: „Kaukasus. Tschetschenien.“
Anna: „Ich soll in den Krieg?“
Moratov: „Wenn Sie sich das zutrauen.“
Anna: „Ja. Das tue ich. Gut.“
Anna Politkowskaja reist in den Nordkaukasus. Als Sonder-korrespondentin berichtet sie vom zweiten Tschetschenienkrieg, in dem sowohl Russen als auch Tschetschenen schwere Kriegsverbrechen und Menschrechtsverletzungen begehen. In Annas Reportagen stehen Menschen im Mittelpunkt, nicht Truppenbewegungen. Sie ist geübt, sich zu vernetzen, kennt Wege, an Informationen aus erster Hand zu kommen. Sie schreibt über den entsetzlichen Alltag in Tschetschenien. Spricht mit Flüchtlingen, mit verwundeten Zivilisten. Sie tauscht sich sowohl mit russischen Soldaten aus als auch mit tschetschenischen Kämpfern im Untergrund. Anna zeigt die dreckigsten Seiten des Krieges. Folter, Vergewaltigungen, Menschenhandel. Dabei lässt sie sich nicht auf eine Seite ziehen. Weder auf die des russischen Militärs noch auf die Seite der tschetschenischen Widerstandskämpfer. Mehr als 50 Mal fährt sie ins Kriegsgebiet. Und ihre Berichte weichen ab von den Darstellungen des Kremls. Neben ihren Reportagen für die Novaja Gazeta beginnt sie, Bücher zu schreiben.
Anna: „Dort, wo Unmenschlichkeit das Leben bestimmt, kann keiner auf Gnade und Barmherzigkeit hoffen.
Sie drückten ihre Zigaretten auf seinem Körper aus, rissen ihm die Nägel von den Fingern, ließen wassergefüllte Pepsi-Cola-Flaschen auf seine Nieren klatschen.
Die Welt, der Westen, die internationale Gemeinschaft haben sich zurückgezogen, erlauben unserer Regierung, in Tschetschenien alles zu tun, was sie will, und akzeptieren gleichzeitig die offizielle Lüge und Demagogie.“
Februar 2001. Anna wird in Vedeno von russischen Soldaten verhaftet. Es folgt ein stundenlanges Verhör.
Oberstleutnant: „Hör zu! Du sagst uns jetzt die Wahrheit! Wir können auch anders. Wir können hier auch alle ganz einfach über Dich herfallen, sollten wir Spaß daran haben. Und glaub‘ ja nicht, dass Deine Kinder in Sicherheit sind. Die kriegen wir auch! Sag uns die Wahrheit! Du arbeitest für Bassajew! Sag es!“
Anna sagt es nicht. Denn sie arbeitet nicht für Bassajew. Schamil Bassajew ist islamischer Terrorist und tschetschenischer Rebellenführer. Ein brutaler, gnadenloser Verbrecher. Für drei Tage sperrt man Anna in einen Bunker. Dann kommt sie frei.
Oberstleutnant: „Wäre es nach mir gegangen, hätte ich Dich erschossen.“
Trotz vieler Drohungen macht Anna weiter. Ihr geht es schlicht um die Wahrheit. Sie stellt Ramzan Kadyrov an den Pranger, den tschetschenischen Premier. Er terrorisiere das ganze Land. Und Moskau unterstütze ihn dabei. Zudem macht Anna Vladimir Putin verantwortlich für die Verbrechen in Tschetschenien, dass er foltern lässt und kremlkritische Journalisten verfolgt.
Anna: „Wenn ich nicht mehr schreibe, haben meine Feinde ihr Ziel erreicht.“
Oktober 2002. Im Moskauer Dubrowka-Theater wird das Musical „Nord-Ost“ gespielt. Im zweiten Akt stürmen Terroristen das Theater. Sie bringen knapp 800 Theaterbesucher in ihre Gewalt.
Tschetschenen-Rebell: „Wir kommen von der 29. Division – aus Tschetschenien. Und ja: Wir sind Selbstmordattentäter. Russland hat uns Tschetschenen das Recht auf ein eigenständiges Land genommen. Ein Recht, das uns Allah geschenkt hat. Und dieses Recht werden wir uns zurückholen.“
Die Verhandlungen ziehen sich hin. Dabei besteht die russische Regierung auf Freilassung aller Geiseln. Die Terroristen hingegen wollen nur die Ausländer gehen lassen. Anna Politkowskaja wird als Vermittlerin hinzugezogen. Sie ergreift wie immer Partei für die Opfer und appelliert an die tschetschenischen Geiselnehmer, die unschuldigen Menschen im Theater freizulassen. Die Terroristen sind tief enttäuscht von Anna.
Tschetschenen-Rebell: „Wir sind nicht nach Moskau gekommen, um Geiseln zu töten oder auf russische Spezialtrupps zu schießen. Wir haben in Tschetschenien schon genug gekämpft. Nein: Wir haben nur ein einziges Ziel: Wir wollen dem Krieg ein Ende setzen. Das ist es.“
Auch auf russischer Seite stoßen Annas dringende Bitten um eine friedliche Lösung auf taube Ohren. Nach Tagen der Besatzung stürmt eine russische Spezialeinheit das Theater. Zuvor haben sie Betäubungsgas in das Gebäude eingeleitet. Gas, das die Atmung schwächt, sie sogar zum Stillstand bringen kann. Mehr als 100 Menschen sterben.
September 2004. Tschetschenische Rebellen haben eine Grundschule in Beslan überfallen. Beslan liegt in der Kaukasusrepublik Nordossetien. 1200 Menschen sind in der Gewalt der Rebellen. Über Tage. Bei der Erstürmung der Schule durch russische Sicherheitskräfte werden 331 Menschen getötet, unter ihnen 186 Kinder. Anna will die Hintergründe dieser Tragödie recherchieren. Sie macht sich auf nach Beslan. Auf dem Flug reicht man ihr eine Tasse Tee. Mittlerweile isst und trinkt Anna eigentlich nur noch Selbstmitgebrachtes. Diesmal macht sie eine Ausnahme und verliert das Bewusstsein. Sie ist Opfer eines Giftanschlags. Sie kommt ins Krankenhaus und nicht zur Grundschule in Beslan. Nach wie vor lässt sich Anna nicht einschüchtern. Sie setzt ihre Arbeit konsequent fort, wobei sie die lauernde Gefahr nun täglich wahrnimmt.
Anna: „Ich weiß. Ich könnte mir mit meinem amerikanischen Pass ein schönes Leben machen. Irgendwo im Westen. Aber das fühlt sich nicht gut an, nicht richtig. Irgendwie ungerecht. Wenn ich getötet werde, sucht den Mörder im Kreml.“
Moskau, Samstag, 7. Oktober 2006. Putins Geburtstag. Anna Politkowskaja kommt vom Einkaufen zurück. Zurück nach Hause. Sie steigt in den Fahrstuhl und fährt rauf zur Etage ihrer Wohnung. Als sie aus dem Fahrstuhl kommt, steht ihr ein junger Mann gegenüber. Zwei Meter entfernt. Er feuert. Fünf Schüsse aus einer Pistole der Marke Makarow. Der erste Schuss geht daneben, der zweite in Annas Schulter. Die Schüsse drei und vier sind tödlich. Sie gehen in die Brust. Der Attentäter gibt einen fünften Schuss ab. Den sogenannten Kontrollschuss. In die Schläfe. Am 54. Geburtstag des russischen Präsidenten Vladimir Putin stirbt Anna Politkowskaja im Alter von 48 Jahren.
Die Polizei fahndet nach dem Täter. Zunächst erfolglos. Erst viel später nehmen die Behörden Annas Mörder und seine mutmaßlichen Komplizen fest. Es kommt zu Verurteilungen. Die eigentlichen Drahtzieher der Ermordung aber sind nach Meinung vieler Menschenrechtler nie dingfest gemacht worden.
Anna Politkowskaja. Die ihr Leben hingibt. Für die Wahrheit.
Anna Politkowskaja. Human Minded.
Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks.
HUMAN MINDED Cioma Schönhaus
Erzählerin: Solveig Jeschke
Cioma Schönhaus: Benjamin Stolz
Ordner in der Synagoge: Sokrates Evangelidis
Gestapo-Beamter: Frank Hofmann
Arbeitsbeamtin: Anna Jörgens
Boris Schönhaus: Tom Otto
Edith Wolff: Celina Fries
Det Kassriel: Jan Kröger
Ludwig Lichtwitz: Uwe Thoma
Dr. Franz Kaufmann: Stefan Naas
Human Minded. Cioma Schönhaus. Der als Passfälscher Leben rettet. Eine wahre Geschichte.
Ordner: „Hans Israel Rosenzweig!“
Viele von ihnen haben sich zurechtgemacht, sind festlich gekleidet – wie für eine Hochzeit. Vor ihren Füßen stehen prallgefüllte Rucksäcke. Darin die Dinge, die die Gestapo im Vorladungsschreiben aufgelistet hat: zwei Paar wasserdichte Schuhe, vier Paar Socken, sechs Unterhosen, zwei Pullover, zwei Decken, vier Hemden, eine Kopfbedeckung, zwei Paar Handschuhe, ein Mantel. Das Reisegepäck für die Umsiedlung in den Osten, wie die Nazis die Deportationen nennen. Cioma Schönhaus wartet gemeinsam mit seiner Mutter. Fanja Schönhaus. Cioma hält ihre Hand.
Cioma: „Rosenzweig. Mama, sie sind schon ziemlich weit beim Buchstaben R. Wir sind gleich dran. Kann nicht mehr lange dauern.“
Ordner: „Samson Cioma Israel Schönhaus und Fanja Sara Schönhaus!“
Beklommen nähern sich Cioma und seine Mutter dem Ordner, der ihre Namen gerufen hat. Neben ihm ein Gestapobeamter, an einen Stuhlrücken gelehnt. Er schaut teilnahmslos ins Nichts, während ihm die Akte Schönhaus vorgetragen wird:
Ordner: „Fanja Sara Schönhaus und Sohn Samson Cioma Israel Schönhaus sind morgen früh, 2. Juni 1942, für den Transport nach Osten bestimmt. Für den Sohn liegt ein Gesuch der Firma Gustav Genschow vor. Er ist als guter Arbeiter unentbehrlich. Man bittet, ihn erst zu einem späteren Zeitpunkt zu evakuieren.“
Die Firma Gustav Genschow zählt zu den kriegswichtigen Betrieben. Sie stellt Gewehre her. Um Cioma als Arbeiter zu behalten, hat man ihm ein sogenanntes Reklamationsschreiben mitgegeben.
Mit einer lebensentscheidenden Frage wendet sich der Ordner an den Gestapo-Beamten:
Ordner: „Soll der junge Mann mit auf den Transport oder soll er hierbleiben?“
Gestapo-Beamter: „Ist mir doch egal. Ach, soll er mitgehen!“
Ordner: „Soeben wurde entschieden, Sie gehen morgen mit auf den Transport.“
Cioma und seine Mutter erreichen einen breiten Korridor, in dem Tische aufgestellt sind. Tische mit verschiedenen Schildern, hinter denen Beamte sitzen. Am ersten Tisch müssen sie ihr Geld abgeben. Finanzamt ist auf dem Schild zu lesen. Am zweiten sitzt eine lächelnde Beamtin.
Beamtin: „Herr Schönhaus. Wo haben Sie gearbeitet?“
Cioma: „Bei Gustav Genschow. Eigentlich bin ich ja reklamiert.“
Beamtin: „Reklamiert? Einen Moment. Äh, Schönhaus. Ja, hier. Ich hab‘ Sie. Sie haben recht. Sie sind als Facharbeiter unentbehrlich, steht hier. Moment. Ich bin gleich wieder da.“
Mit entschlossenem Blick geht die Beamtin zu ihrem Vorgesetzten. Im selben Moment wird Ciomas Vater in den Korridor gebracht. Boris Schönhaus.
Boris: „Cioma. Was machst Du hier? Du bist doch reklamiert!“
Cioma: „Das klärt sich gerade. Die sind sich da wohl nicht ganz einig.“
Als die Beamtin an ihren Tisch zurückkehrt, hat sie ihr Lächeln wieder.
Beamtin: „Sie können gehen, Herr Schönhaus.“
Cioma: „Gehen? Wohin? Wohin kann ich gehen?“
Beamtin: „Nach Hause. Sie sind zurückgestellt.“
Cioma nimmt seine Mutter in den Arm. Dann den Vater.
Cioma: „Auf Wiedersehen.“
Er wird seine Eltern nicht wiedersehen. Ein letztes Lebenszeichen erreicht ihn einige Zeit später. Eine Postkarte aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek. Eine letzte Nachricht seines Vaters.
Boris: „Meine Lieben. Ich bin hier gut angekommen. Habt Ihr etwas von Fanja gehört? Ich suche Mama überall. Cioma hat in allem recht gehabt. Ich bin glücklich, dass er nicht bei uns ist. Lebt wohl. Euer Beba.“
Cioma hat in allem recht gehabt. Schon manches Mal hat er seinem Vater erzählt, dass die Nazis Juden in den Osten bringen, um sie dort zu ermorden.
Cioma, eigentlich Samson Cioma Israel Schönhaus. 19 Jahre. Sohn weißrussischer Emigranten aus Minsk. Groß, schlank, leuchtende Augen und ein gewinnendes Lächeln. Er hat als Jude die Schule wechseln müssen. Und er hat als Jude die Ausbildung zum Grafiker abbrechen müssen. Auch die Arbeitsstelle. Bis er bei Gustav Genschow unterkommt. Als Feinmechaniker in der Produktion von Gewehren.
Die Deportation seiner Eltern ist erst der Anfang. Kurz darauf holen sie auch Oma, Onkel und Tante. Cioma lebt plötzlich alleine in der großen Berliner Wohnung. Er sucht Edith Wolff in Berlin-Friedenau auf, nachdem man ihm sagte, dass sie einen Auftrag für einen Grafiker habe. Einen anspruchsvollen.
Edith: „Schauen Sie, Herr Schönhaus. Diesen Entlassungsschein der deutschen Wehrmacht, den müssten Sie – sagen wir – ein wenig anpassen.“
Cioma: „Was genau soll denn angepasst werden?“
Edith: „Es geht darum, das Passbild auszuwechseln und dann den Stempel über dem Foto wieder zu ergänzen. Den Hoheitsadler. So, dass er jeder Überprüfung standhält. Glauben Sie, dass Sie das können?“
Cioma: „Ich will es versuchen. Ich habe es zwar noch nie probiert, aber ich meine, das bekomme ich schon hin.“
Als Gegenleistung verspricht Edith Wolff Cioma einen sicheren Unterschlupf für alle Fälle. Eine Mädchenkammer. Noch am selben Abend macht sich Cioma an die Arbeit. Angetrieben von dem Gefühl, endlich etwas gegen das Naziregime tun zu können. Aktiv. Er tauscht das Passfoto aus und gibt dem Ausweis einen neuen Stempel. Eine perfekte Nachbildung. Cioma macht aus einem Juden einen deutschen Wehrmachtssoldaten.
Edith: „Herr Schönhaus. Ausgezeichnet. Das ist makellos. Sie bekommen das Zimmer, wann immer Sie es brauchen.“
Cioma: „Dankeschön, Frau Wolff.“
Edith: „Nein. Ich hab‘ zu danken. Ach, und da ist noch was. Hier. Dies ist eine Adresse in Halensee. Melden Sie sich dort. Bei Dr. Kaufmann. Er sucht einen Grafiker. Es gibt jede Menge zu tun.“
Eine zufällige Begegnung. Eine glückliche: Cioma trifft Det Kassriel. Seinen ehemaligen Arbeitskollegen, der untergetaucht ist.
Cioma: „Det. Was machst Du denn jetzt?“
Det: „Ich nähe. Ich lebe illegal.“
Cioma: „Und wo versteckst Du Dich?“
Det: „Bei mir zuhause. In meiner Wohnung.“
Cioma: „Na, das ist ja auch nicht gerade das beste Versteck.“
Det: „Ich habe nichts Besseres, Cioma.“
Cioma: „Aber ich. Ich hab‘ was Besseres. Zieh zu mir. Ich wohne mittlerweile ganz alleine in unserer Wohnung. All die anderen haben sie abgeholt. Wir haben genügend Platz, Det.“
Cioma schlägt vor, den Hausrat Stück für Stück zu verkaufen, um an Geld zu kommen. Zudem öffnet Ciomas Talent als Grafiker weitere Türen. Er lernt Ludwig Lichtwitz kennen. Lichtwitz ist ehemaliger Buchdrucker, aber seit kurzem auch ein U-Boot, wie untergetauchte Juden genannt werden. Er schlägt Cioma ein Geschäft vor:
Lichtwitz: „Hier zeige ich Ihnen etwas unglaublich Wertvolles. Das ist ein echter deutscher Wehrpass. Blanko. Ich habe zwei davon. Wenn Sie mir einen mit allen Stempeln ausfüllen, bekommen Sie den anderen. Können Sie das machen?“
Cioma: „Machen kann ich das wahrscheinlich schon. Aber ich brauche eine Vorlage. Erfinden kann ich die Stempel nicht.“
Lichtwitz: „Über jemanden, der uns seinen Wehrpass als Vorlage gibt, reden wir später. Ich schlage vor, wir treffen uns übermorgen. Um zwölf Uhr. In meiner Werkstatt.“
Straßenbahn fahren ist Juden untersagt. Cioma fährt trotzdem. Nach Halensee. Zur Villa von Dr. Franz Kaufmann. Kaufmann ist jüdischer Abstammung. Verheiratet mit einer deutschen Adligen. Er gehört zum Helferkreis evangelischer Christen aus der Dahlemer Bekennenden Kirche. Kaufmann hilft, Juden zu verstecken. Er zeigt Cioma eine Kennkarte, wie der offizielle deutsche Personalausweis genannt wird.
Kaufmann: „Wir sammeln die Ausweise in unserer Kirche. Als Spende. Im Opferstock. Das Risiko für die Spender ist gering. Der Verlust von Ausweispapieren ist nicht strafbar. Und hier haben wir die Passbilder von Juden, denen das Schicksal bevorsteht, in den Osten deportiert zu werden. Schönhaus, machen Sie mir ein Muster. Wenn es gut ist, bekommen Sie viel Arbeit.“
Cioma handelt Lebensmittelkarten als Honorar aus. Monatlich zwei Sätze. Einen Satz für sich, einen für Det.
Mitunter ist Cioma ein Schussel. Schon zum zweiten Mal verliert er seinen Ausweis. Einen neuen zu beantragen, birgt mittlerweile zu viele Risiken. Stattdessen fertigt er sich selbst neue Papiere an und tarnt sich als Soldat Peter Schönhausen. Gemeinsam mit Det verlässt Cioma die große Wohnung. Die beiden tauchen unter. Sie teilen sich die versprochene Mädchenkammer.
Dr. Kaufmann ist angetan von Ciomas Passfälschungen und beauftragt ihn jede Woche neu. Cioma hat sich einen Arbeitsplatz in Ludwig Lichtwitzs Werkstatt in Moabit eingerichtet. Siebenmal klopfen, bevor man eintritt. So haben er und Lichtwitz es vereinbart. Gleichzeitig bewegt sich Cioma unbehelligt in Berlin, trifft Frauen, hat Affären, trinkt mit Soldaten und singt ihre Lieder. Eines Abends stürzt Det in die Kammer.
Det: „Cioma. Mir ist etwas ganz Dummes passiert. Ich habe unseren Unterschlupf ausgeplaudert. Wir müssen uns etwas Neues suchen. Wir müssen uns eine neue Bleibe suchen. Tut mir leid.“
Cioma und Det machen sich auf die Suche nach neuen Verstecken. Jeder auf eigene Faust und immer nur für ein paar Nächte. Dabei erfinden sie skurrile Geschichten, die für Mitleid sorgen.
Inzwischen hat Cioma mehrere Dutzend Pässe gefälscht. Er kommt kaum hinterher, so viele Aufträge erteilt ihm Franz Kaufmann. Und auch für sich selbst hat Cioma wieder eine neue Identität gefunden. Auf dem Papier. In einem weißrussischen Ausweis für russische Staatsbürger heftet sein Passfoto. Ciomas neuer Name: Peter Petrov. Die Adresse: erfunden. Als er abermals seine Brieftasche verliert, wird es endgültig brenzlig. Man fahndet nach ihm. Nach dem russischen Spion mit Namen Peter Petrov. Sein Bild auf einem Steckbrief hängt in zig Polizeistationen. Die Schlinge um Ciomas Hals zieht sich zusammen. Er findet Zuflucht bei Helene Jacobs in Berlin-Wilmersdorf. Auch sie engagiert sich im Helferkreis der Dahlemer Bekenntnisgemeinde. Kurz darauf gerät sie in einen Hinterhalt und wird verhaftet. Für Cioma steht nun endgültig fest: Er muss Berlin verlassen. Ludwig Lichtwitz hält überhaupt nichts von Ciomas Fluchtplan.
Lichtwitz: „In die Schweiz? Mit dem Fahrrad? Dann können Sie sich besser gleich hier erschießen, Schönhaus.“
Cioma hat alles akribisch vorbereitet. Für viel Geld hat er sich ein Fahrrad mit einem bequemen Sattel gekauft, hat sich Landkarten besorgt, einen mit Fell bezogenen Militärtornister, wie ihn die Hitlerjugend trägt. Zur Tarnung verstaut er darin Naziliteratur. Wie Goebbels Buch „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“. Er hat sich beim Friseur einen kurzen Soldaten-Haarschnitt verpassen lassen. Einzig ein geeigneter Ausweis fehlt ihm noch.
Lichtwitz: „Nun, ich habe mittlerweile jemanden gefunden, dessen Wehrpass Ihnen als Vorlage dienen könnte. Er heißt Claus Schiff und wohnt am Adolf-Hitler-Platz.“
Cioma: „Gut. Ich gehe zu ihm. Sofort. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Claus Schiff will seinen Wehrpass nicht aus der Hand geben. Allerdings erlaubt er Cioma, bei ihm zu arbeiten. Innerhalb einer Woche fertigt Cioma zwei neue Wehrpässe an. Einen für Lichtwitz, den anderen für sich. Er zeichnet zwei Mal 18 Stempel nach.
Anfang September 1943. Berlin ist Ziel schwerer Luftangriffe. Die Menschen suchen Schutz. Cioma fährt auf seinem Fahrrad durch leere Straßen. Raus aus Berlin. Richtung Süden. Richtung Schweiz. Am 4. Oktober watet er durch den Nödbach bei Stutengarten-Öhningen. Am anderen Ufer ist er am Ziel. In der Schweiz. Cioma kniet sich hin und küsst den Boden. Er hat es geschafft.
Später wird er an der Kunstgewerbeschule in Basel eine Ausbildung zum Grafiker absolvieren. Er wird sich eine neue Existenz aufbauen und eine Familie gründen.
Am 22. September 2015 stirbt Cioma Schönhaus im Alter von 92 Jahren. Cioma Schönhaus. Der als Passfälscher Leben rettet.
Cioma Schönhaus. Human Minded. Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks.
HUMAN MINDED_Berta Cáceres
Erzählerin: Solveig Jeschke
Austra Bertha Flores López: Margit Sander
Berta Cáceres: Anna Jörgens
Lenca: Benjamin Stolz
Sergio Rodriguez: Uwe Thoma
Gustavo Castro: Stefan Naas
Human Minded. Berta Cáceres.
Die sich nicht aufhalten lässt. Im Kampf für Umwelt und Gerechtigkeit.
Eine wahre Geschichte.
La Esperanza. Im Westen Honduras. Mit 1700 Metern die höchstgelegene Stadt des Landes. Hier kommt Berta Cáceres zur Welt. Im März 1971. Ihre Familie gehört zu den Lenca. Ein indigenes Volk in Mittelamerika mit fast 150.000 Menschen. Etwa 100.000 von ihnen leben in Honduras. Bertas Mutter ist Hebamme. Und sie ist Sozialaktivistin. Sie nimmt Geflüchtete aus El Salvador auf und unterrichtet deren Kinder.
Austra Bertha: „Wenn wir friedlich zusammenleben wollen, ja, hier in Honduras, oder auch in ganz Mittelamerika, dann müssen wir etwas dafür tun. Und das fängt damit an, dass wir uns für entrechtete Menschen einsetzen. Wir alle.“
Den größten Einfluss auf Bertas Entwicklung nimmt ihre Mutter. Austra Bertha Flores López. Eine mutige Frau, die ihr Herz auf der Zunge trägt und die Machenschaften der Militärdiktaturen anprangert. Berta strebt ihrer Mutter nach und kämpft lautstark gegen Landraub, Rassismus und Machismo. 1993 ist sie gemeinsam mit ihrem Mann Mitbegründerin des Bürgerrats der Volks- und Indigenen-Organisationen von Honduras – kurz: COPINH.
Berta: „Wir werden alles für die Durchsetzung unserer Rechte tun. Wir haben ein Recht auf Ausbildung, ein Recht auf unser Land, auf Umweltschutz und das Recht auf Schutz unserer Lenca-Kultur.“
Zu diesem Zeitpunkt leben fünfeinhalb Millionen Menschen in Honduras. Mehr als die Hälfte ist bettelarm. Besonders die Lenca-Indigenen, deren Lebensraum durch Großinvestoren aus der Agrarindustrie bedroht wird und stetig schrumpft. Immer mehr Lenca werden von ihren Feldern vertrieben. Statt Kaffee, Kakao, Tabak, Mais, Weizen oder Zuckerrohr nachhaltig anzubauen, suchen sie nach Jobs in der Stadt, was am Ende wenig aussichtsreich ist. Derweil werden unentwegt Bäume gefällt, Wälder gerodet. Insbesondere nach dem Militärputsch im Jahr 2009 nimmt der Ausverkauf der honduranischen Natur enorm an Fahrt auf. Eine Gruppe Lenca-Indigener wendet sich besorgt an Bertas Organisation COPINH.
Lenca: „Wir kommen aus dem Dorf La Tejera. Direkt am Río Gualcarque. Sie bringen große Maschinen, große Baugeräte ans Flussufer. Was haben die vor?“
Berta: „Na in jedem Fall haben sie vor, uns weiter zu verdrängen. Unsere Autonomie zu stehlen.“
Lenca: „Die Bohnenfelder haben sie schon platt gemacht.“
Berta: „Und jetzt wollen sie uns den Fluss nehmen.“
Der Río Gualcarque ist für die Lenca ein spiritueller Ort. Und das bleibt er nur, wenn der Flusslauf auch weiterhin ein natürlicher ist, von Menschenhand unberührt. Ein für die Menschen von La Tejera heiliger Fluss, der ihren Lebensunterhalt sichert. Doch die Militärregierung hat die Idee, den Bergbau zu fördern, eine Vielzahl von Bergbaubetrieben zuzulassen und für deren Energiebedarf zig Staudämme zu genehmigen. Dafür hat sie Land und Wasser kurzerhand privatisiert. Per Dekret.
Berta: „Agua Zarca. So soll er heißen. Der neue große Staudamm am Río Gualcarque. Agua Zarca. Lasst uns den Wahnsinn verhindern.“
Der Agua Zarca Staudamm ist ein Gemeinschaftsprojekt. Federführend ist das honduranische Energieunternehmen DESA in Zusammenarbeit mit dem größten Staudammbauer der Welt, dem chinesischen Unternehmen Sinohydro. Hinter DESA steckt die Familie Atala. Mit einem Milliardenvermögen und den besten Beziehungen in die Politik. Die Privatisierungsoffensive der Regierung spült noch mehr Geld auf die Konten der Atalas. Auch das Unternehmen Voith aus Heidenheim in Baden-Württemberg ist Geschäftspartner im Projekt Agua Zarca. Es will Turbinen liefern.
Die Lenca hat man zu den Plänen des Staudammbaus am Río Gualcarque nicht gefragt - ein Verstoß gegen internationale Verträge, die die Rechte indigener Völker regeln. Der Fluss soll kanalisiert werden, um Turbinen anzutreiben. Für die Lenca in La Tejera würde das eine Unterbrechung der Wasserversorgung bedeuten, und man würde so auch ihr Recht auf autonome Bewirtschaftung ihres Landes verletzen.
Berta: „Wir müssen das gemeinsam tun. Alleine schaffe ich das nicht.“
Lenca: „Was sollen wir denn tun? Wir haben doch gar keine Erfahrung, an wen wir uns wenden müssen, dass es am Ende auch was bringt.“
Berta: „Die Erfahrung müsst ihr jetzt machen. Und ich gehe meinetwegen auch voran. Doch für den Fall, dass ich eines Tages – sagen wir – verhindert bin, dann müsst ihr ohne mich kämpfen. Darauf müsst ihr Euch vorbereiten.“
Die Lenca organisieren den Widerstand. Mit Berta Cáceres an der Spitze. Sie reichen Beschwerde bei den Regierungsbehörden ein und organisieren eine Bürgerversammlung in La Tejera. Auf friedliche Weise fordern sie ihr Mitspracherecht ein.
Berta: „Hier könnt ihr offiziell eure Stimme abgeben – für oder gegen Agua Zarca. Wir sammeln die Stimmen und geben das Votum an die örtlichen Bürgermeister und auch an die Landesregierung weiter.“
Allerdings ignoriert die Landesregierung die Gegenwehr der Lenca. Etliche Bürgermeister fälschen Protokolle von Gemeindeversammlungen und bieten den Menschen am Río Gualcarque sogar Bargeld an, sollten sie dem Bauprojekt mit ihrer Unterschrift zustimmen.
Berta wendet sich auch an die interamerikanische Kommission für Menschenrechte und fordert, den Geldgebern von Agua Zarca einen Riegel vorzuschieben. Gleichzeitig mehren sich anonyme Drohungen gegen Berta. Immer öfter beobachtet sie vor ihrem kleinen grünen Bungalow parkende Autos mit dunklen Scheiben. Im April 2013 beginnen die Lenca, den Zugang zum Staudammgelände zu blockieren. Über Wochen und Monate wechseln sie sich im Wachtdienst ab. Es gibt kein Durchkommen mehr für die DESA-Fahrzeuge. Die Regierung schickt das Militär. Soldaten bewachen die Baustelle. Dann ein tödlicher Zwischenfall im Juli 2013. Während einer Protestaktion der Lenca gibt es Schüsse am Fluss.
Lenca: „Berta. Berta! Tomás hat’s erwischt. Sie haben ihn erschossen.“
Tomás García. Gemeindevorsteher und COPINH-Mitglied. Erschossen von einem Soldaten. Der Protest der Lenca wird lauter und wütender. Der Tod von García ist kein Einzelfall. Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten leben gefährlich in Honduras. Immer wieder werden sie Opfer von Waffengewalt und Folter. Die Blockade an der Dammbaustelle hält über viele Monate, bis die Lenca der Übermacht der Armee nichts mehr entgegenzusetzen haben. Dennoch: Die Baustelle liegt weiter brach. Denn Ende 2013 kündigt das chinesische Unternehmen Sinohydro den Vertrag mit DESA. Als Grund nennen die Chinesen den wachsenden Widerstand der Bevölkerung vor allem nach dem Tod Garcías. Und es gibt eine weitere gute Nachricht für die Lenca.
Berta: „Hört zu. Wir hatten Erfolg. Die IFC zieht ihre Gelder zurück. Begründung: DESA verletze Menschenrechte. Wir schaffen es. Leute, ich sag’s euch. Der Fluss hat es mir verraten.“
Die IFC, International Finance Corporation, ist eine internationale Entwicklungsbank in der Weltbankgruppe. Sie beteiligt sich an großen Vorhaben privater Unternehmen in Entwicklungs- und Schwellenländern, indem sie langfristige Investitionsdarlehen gewährt. Der Rückzug der IFC aus dem Agua Zarca-Projekt ist für DESA ein schwerer Schlag. Der Bau des Staudamms kommt zum Stillstand. Maschinen und Betonröhren stehen verlassen am Ufer des Río Gualcarque. DESA sucht nach alternativen Finanzierungsquellen. Berta weiß, dass die Lenca ihren Kampf noch nicht gewonnen haben.
Berta: „Sie wollen jetzt am anderen Ufer bauen. Sie meinen, sie könnten so unsere Landrechte umgehen. Kommt. Ich zeig es euch.“
Samstag, 20. Februar 2016. Berta führt eine Gruppe von Aktivisten an die Agua Zarca-Baustelle. Auf dem Weg zum Ufer begegnet ihr Sergio Rodriguez, Abteilungsleiter für Umwelt und Soziales bei DESA.
Rodriguez: „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, noch weiterzugehen. Drehen Sie lieber um. Es stehen bewaffnete Männer am Fluss.“
Berta: „Wir drehen nicht um. Wir haben ein Recht, hier zu sein.“
Rodriguez: „Ich habe Sie gewarnt. Wenn Ihnen etwas zustößt, dann tragen Sie die Verantwortung, nicht wir.“
Berta führt die Gruppe weiter. Vorbei an finster blickenden Sicherheitsleuten. Am Ufer sucht Berta einen schattigen Platz. Dort verbindet sie sich mit dem Geist des Río Gualcarque. Erst im Dunkeln verlassen sie und ihre Mitstreiter den Fluss. Gehen zu Bertas Auto, das sie völlig demoliert vorfinden.
Berta: „So sind sie. Und noch viel barbarischer. DESA hat eine Liste. Eine lange Abschussliste. Und ich stehe ganz oben.“
Mittwochabend, 2. März 2016. Berta hat in ihrem Haus in La Esperanza einen Gast. Gustavo Castro. Menschenrechtsaktivist aus Mexiko. Gustavo ist für einen Workshop der indigenen COPINH-Organisation nach Honduras gekommen. Es ist spät geworden. Gustavo legt sich in Bertas Wohnzimmer schlafen. Um kurz vor Mitternacht brechen bewaffnete Männer die Hintertür des Hauses auf und dringen in Bertas Schlafzimmer ein. Es fallen Schüsse. Auf der Flucht schießt einer der Täter auch auf Gustavo. Gustavo hat Glück. Zwei Streifschüsse haben ihn nur leicht verletzt. Er hört, wie Berta nach ihm ruft.
Gustavo: „Berta. Berta. Bleib hier. Mach keinen Scheiß. Verdammt.“
Berta verblutet in Gustavos Armen. Am 3. März 2016. Einen Tag vor ihrem 45. Geburtstag.
Im Jahr 2018 erklärt das Energieunternehmen DESA das Staudammprojekt Agua Zarca für beendet. 2019 verurteilt ein honduranisches Gericht sieben Männer zu Haftstrafen zwischen 30 und 50 Jahren. Darunter auch zwei DESA-Führungskräfte. Sie haben die Ermordung Bertas angeordnet. Und auch der Ex-Präsident der DESA, Roberto David Castillo, wird 2021 als Mittäter schuldig gesprochen. Das Urteil: 22einhalb Jahre Haft.
Wenn die Lenca heute an Berta erinnern, dann meistens mit einem ihrer berühmtesten Zitate:
Berta: „Vos tenés la bala - yo la palabra. La bala muere al detonarse – la palabra vive al replicarse.“
„Du hast die Kugel. Ich habe das Wort. Die Kugel stirbt, wenn sie explodiert. Das Wort lebt, wenn es sich reproduziert“.
Berta Cáceres. Die Stimme der Indigenen in Honduras. Berta Cáceres. Human Minded. Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks.
The podcast currently has 28 episodes available.
117 Listeners
7 Listeners
17 Listeners
0 Listeners
4 Listeners
43 Listeners
0 Listeners
116 Listeners
9 Listeners
7 Listeners
1 Listeners
0 Listeners
5 Listeners
33 Listeners
29 Listeners
33 Listeners
0 Listeners
0 Listeners
0 Listeners
0 Listeners
16 Listeners