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Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!
Mit einem Schlag ist alles anders.
Er ist weg. Und er wird nie wieder kommen.
Nie wieder wird man sein fröhliches Lachen hören beim Fest. Nie wieder wird er voller Begeisterung von seinen Plänen erzählen. Nie wieder wird er sie ansehen, mit seinen schönen Augen, in die sich damals verliebt hat und dann immer wieder neu, wenn er sie ansah. Nie wieder wird sie seufzend seine schmutzige Wäsche vom Boden aufräumen und sich fragen, wie oft sie das noch sagen muss, bis er es endlich kapiert. Was hat sie sich da schon geärgert! Und jetzt, jetzt würde sie alle dreckigen Socken der Welt mit Begeisterung aufheben, wenn sie ihn dafür noch einen Tag länger bei sich hätte. Nie wieder wird er zu spät von der Arbeit heimkommen, weil er sich unterwegs wieder mit seinem Freund Simon verquatscht hat. Was hat sie sich da schon aufgeregt und ihm vorgeworfen, mit hochrotem Kopf, andere seien wohl immer wichtiger als sie. Heute würde sie die ganze Nacht aufbleiben und auf ihn warten, wenn es sein müsste, wenn das nur heißen würde, er würde einmal noch zur Haustür hereinkommen und sie zur Begrüßung in seinen starken Arm nehmen.
Aber er kommt nicht mehr. Die Haustür bleibt zu. Manchmal lauscht sie noch, ob sich doch Schritte nähern. Meistens bildet sie sich das nur ein. Oder die Schritte gehen weiter. Vorbei. Und sie sitzt allein zu Hause.
Am Anfang kamen viele. Sie brachten Karten, schrieben Worte der Anteilnahme, sagten, so gut es eben ging: „Es tut mir leid.“ Weil doch jeder wusste, dass es nichts gab, was die Situation besser machen konnte. Andere blieben länger, hörten zu, hielten sie, halfen ihr durch die ersten dunklen Tage. So viel echte Zuwendung, so viel wahre Freundschaft hat sie nie zuvor erfahren.
Jetzt ist es ruhig geworden. Es kommen keine Karten mehr. Die anderen haben ja auch ihr Leben. Man nimmt sie mit, man lässt sie teilnehmen, wo sie es kann und möchte. Aber oft, ganz oft, ist sie alleine. Alleine mit ihren Tränen. Alleine mit ihrem Schmerz. Mit der Wut, die auch immer wieder hochkommt. Dieser blöde... Ja, wen konnte man dafür eigentlich verantwortlich machen? Dieser blöde Krieg! Dieser blöde König, der ihn angefangen hat. Diese blöde Welt, die so etwas nicht verhinderte.
Womit hat sie das verdient? Warum ausgerechnet ihr Mann? Warum musste es ausgerechnet ihr Leben in Stücke reißen? Warum wurde ausgerechnet ihre Zukunft brutal vernichtet? Alle ihre Träume mit Füßen getreten?
Dabei haben sie doch Pläne gehabt. Und Träume. Alt werden wollten sie miteinander. Sich an den Kindern freuen, wie sie ihren Weg im Leben finden. Ihnen zur Seite stehen, für sie da sein. Für die Enkel. Vielleicht sogar für die Urenkel. Sich zur Ruhe setzen, eines Tages. Die Früchte der Arbeit genießen. In Frieden den Lebensabend miteinander verbringen. War das etwa zu viel verlangt?
Natürlich haben sie gewusst, dass der Tag kommen könnte. Das wusste ja jeder, der nicht in einer Traumwelt lebte. Sie hatten geahnt, dass das Leben nicht ewig so weitergehen würde. Die Anzeichen waren ja da. Dieser blöde Krieg! Von Anfang an aussichtslos! Die Feinde viel zu mächtig. Täglich neue Nachrichten, dass die Front immer näher an die Heimat rückte. Berichte von anderen, die jemand kannten, der jemand kannte, der jetzt nicht mehr da war. Nicht immer wusste man, ob man das alles glauben konnte. Glauben wollte. So kann doch gar niemand...
Und dann waren sie auf einmal da, die feindlichen Soldaten. Kein bisschen Mitleid in ihrem Blick. Sie kamen und schnappten sich unbarmherzig jeden, der nach Feind aussah. Jeden, den sie erwischen konnten. Sie nahmen sie mit. Alle. Ohne auf irgendwelche Argumente zu hören. Ohne das weinende Flehen der Beraubten zu beachten. Alle. Mit. Weg. Weit weg. Und man wusste, was das hieß. Keiner war je zurückgekommen von denen, die sie mitnahmen. Keiner--in all den Jahren nicht!
Mit einem Schlag ist alles anders.
Er ist weg. Und er wird nie wieder kommen.
"Man muss sich damit abfinden", sagen sie. Das Leben muss ja weitergehen. Auch ohne ihn. Man muss seinen Weg finden. Erinnern, ja. Trauern, ja. Das braucht es auch, und das braucht seine Zeit. Aber immer mit dem Blick nach vorne! Wenn du noch da bist, dann finde deinen Tritt im Leben neu.
"So ein Blödsinn!", denkt sie. Als ob man sich mit dem Fehlen eines Menschen "abfinden" könne. Als ob das Loch nicht da wäre, dass sie täglich in sich spürt! Mitten drin. Als ob man das irgendwie stopfen könnte.
Natürlich wird es leichter mit der Zeit. Man stumpft irgendwie auch ab gegenüber dem pochenden Schmerz. Man spürt ihn nicht mehr die ganze Zeit. Am Anfang war das so. Jeden Tag. Ständig. Das ist weniger geworden. Jetzt gibt es manchmal ganze Tage, an denen sie nichts davon merkt. Aber dann, dann reicht wieder ein einziger Moment--und alles ist sofort wieder da. Neulich zum Beispiel, da hatte sie die Tür nicht richtig hinter sich zugemacht, als sie hinaus in den Garten ging. Und als sie sich umdrehte, und die Haustür einen Spalt offen stand, da durchzuckte es sie, er könnte zurückgekommen sein. Und im nächsten Augenblick war er da, wie eine eiskalte Dusche, wie ein herabstürzender Felsbrocken, der sie unter sich zu begraben drohte, dieser unendliche Schmerz, als ihr klar wurde, dass er nie wieder kommen würde.
Am Schlimmsten...
Am Schlimmsten sind die Festtage. Wie hat sie die früher geliebt. Wie haben sie miteinander gefeiert, gesungen, getanzt bis tief in die Nacht. Einmal im Jahr, da zogen alle miteinander hinauf nach Jerusalem, zum Tempel, zum wichtigsten Fest des Jahres. Jeder, der irgendwie konnte, kam mit. Sie waren immer ganz vorne dabei. Das war ein Lachen, ein Tanzen, eine Freude. Für einen Tag verlor die ganze Welt jeden Schatten, der irgendwo existierte. Jede Sorge wurde klein, wenn man sang und Gott lobte und es war, als wäre Friede, überall, den nichts trüben könnte.
Das Lachen ist ihr vergangen.
Wenn sie sich heute mitschleppen lässt, dann nur, um am Fest nicht allein zu sein, weil das noch schlimmer wäre. Dann schlurft sie ganz hinten in der Reihe. Manchmal muss sie sogar lächeln, wenn fröhliche Kinder an ihr vorbeirennen. Ein kleines bisschen Freude will sich breit machen--bis die Erinnerung an so viele eigene freudige Erlebnisse sie wieder daran denken lässt, dass das jetzt alles ein Ende hat. Die Festtage sind die schlimmsten.
"Man muss es akzeptieren", meinen Sie. Weil man doch sowieso nichts machen kann. Weil die Welt eben ihre Grausamkeiten mit sich bringt. "Man muss den Dingen ins Auge schauen", sagen die anderen. "Man darf sich nicht in eine Traumwelt flüchten", warnen sie. Und sie meinen damit auch die alten Lieder, die sie beim Laufen immer noch mitsingt: "Die auf den Herrn hoffen, werden nicht fallen, sondern ewig bleiben wie der Berg Zion." (Psalm 125,1)
Denn das Träumen, das wird sie sich nicht auch noch nehmen lassen.
Trotzig hält sie daran wenigstens fest. Mag ja sein, dass man nichts machen kann. Mag sein, dass man völlig machtlos ist. Mag sein, dass niemand hier ihn je zurückholen kann. Siehst du? Die Realität wird sie sicher nicht aus den Augen verlieren. Dazu ist die viel zu groß und grausam da.
Aber sie hat etwas gefunden, dass sie ihr entgegen setzt. Sie hält sich an Gott fest. Ist der nicht stärker? Ist der nicht größer als alles, als Könige, als Armeen, ja als Leben und Tod selbst?
Wir haben es letzten Sonntag mit den Worten von Paulus gehört: "Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn." (Römer 8,37-39)
Und so singt sie. Trotzig singt sie das Lied. Erst leise, mit Tränen in den Augen. Dann immer lauter. Hanna, die Freundin an ihrer Seite, die auch ihren Mann verloren hat, stimmt mit ein. Dann andere auch. Sie singen es aus ganzer Kehle. Sie singen gegen die ganze furchtbare Welt an. Sie singen es sich ins Herz hinein, dass es widerhallt in dem großen, schwarzen Loch in der Seele und dass es die Dunkelheit verdrängt. Mit Hoffnung. Hoffnung auf das, was ihnen keiner nehmen kann. Was mit Gott geschehen könnte...
Ein Wallfahrtslied. Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Völkern: Der Herr hat Großes an ihnen getan! Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. Herr, bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. (Psalm 126,1-6)So singen sie und sie träumen an gegen die Verzweiflung, die dem Leben alle Freude rauben will.
Wenn...
Wenn der Herr...
Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.
Dann werden wir sein wie die Träumenden.
Mit einem Schlag ist alles anders.
Er ist weg. Und er wird nie wieder kommen.
So trotten zwei andere trübselig vor sich hin. Auch sie haben jemand verloren. Nicht den Mann, aber einen guten Freund. Den besten, den es je gab. Wie viel Freude hatten sie bei ihm gefunden. Echten Frieden entdeckt. Täglich neu überrascht von der Güte Gottes waren sie, wenn sie mit ihm unterwegs waren. Das ganze Leben schien plötzlich Sinn zu ergeben. Bei ihm gewannen sie echte Hoffnung.
Und dann kamen die Soldaten und nagelten ihn an ein Kreuz. Von weitem sahen sie zu, wie er qualvoll sein Leben ließ. Und ihre Hoffnung starb mit ihm. Mit den anderen schlossen sie sich ein. Angst und Verzweiflung waren alles, was ihnen geblieben war. Und der traurige Ausflug an ein geliehenes Grab.
Kennt ihr den? Kommt Josef von Arimathäa nach Hause und erzählt seiner Frau, dass er das Familiengrab zur Verfügung gestellt hat, um Jesus zu begraben. Die Frau ist entsetzt: So ein Grab ist doch wahnsinnig teuer! Nur wenige können sich so etwas leisten. Und er gibt es einfach her? "Jetzt bleib doch ganz ruhig", sagt Josef zu seiner Frau. "Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Es ist doch nur für ein Wochende."
Als sie am Sonntag morgen zum Grab gehen, finden sie ihn nicht. Stattdessen wartet ein Engel dort. "Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier! Er ist auferstanden!"
Mit einem Schlag ist alles anders.
Die Dunkelheit ist weg. Kein Schatten mehr. Nur Licht. Und Leben. Und ungläubiges Lachen. Und überwältigtes Staunen. Und: Hoffnung.
Er ist auferstanden.
Der Tod ist besiegt.
Ha!
Tod, wo ist jetzt dein Stachel?
Tod, wo ist jetzt dein Sieg?
Mit einem Schlag ist alles anders.
Und es wird nie wieder dasselbe sein. Denn wir haben Hoffnung. Und wir leben aus der Hoffnung.
Auch wenn uns oft das Herz noch traurig wird, wenn das Fehlen von lieben Menschen uns manchmal fast zerreißen will, wir geben die Hoffnung nicht auf.
Wir lassen uns das Träumen nicht nehmen.
Das Träumen von dem, der den Tod überwunden hat.
Das Träumen von dem, der auch uns und den Unseren Leben verspricht.
Wo hier alles dunkel scheint, da träumen wir gegen die Trostlosigkeit an.
Wo hier alles sinnlos scheint, da singen wir trotzig mit den Worten von damals, und wir schwelgen schon heute in der Freude auf das, was noch sein wird.
Wenn...
Wenn der Herr...
Amen.
By Christoph FischerGnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!
Mit einem Schlag ist alles anders.
Er ist weg. Und er wird nie wieder kommen.
Nie wieder wird man sein fröhliches Lachen hören beim Fest. Nie wieder wird er voller Begeisterung von seinen Plänen erzählen. Nie wieder wird er sie ansehen, mit seinen schönen Augen, in die sich damals verliebt hat und dann immer wieder neu, wenn er sie ansah. Nie wieder wird sie seufzend seine schmutzige Wäsche vom Boden aufräumen und sich fragen, wie oft sie das noch sagen muss, bis er es endlich kapiert. Was hat sie sich da schon geärgert! Und jetzt, jetzt würde sie alle dreckigen Socken der Welt mit Begeisterung aufheben, wenn sie ihn dafür noch einen Tag länger bei sich hätte. Nie wieder wird er zu spät von der Arbeit heimkommen, weil er sich unterwegs wieder mit seinem Freund Simon verquatscht hat. Was hat sie sich da schon aufgeregt und ihm vorgeworfen, mit hochrotem Kopf, andere seien wohl immer wichtiger als sie. Heute würde sie die ganze Nacht aufbleiben und auf ihn warten, wenn es sein müsste, wenn das nur heißen würde, er würde einmal noch zur Haustür hereinkommen und sie zur Begrüßung in seinen starken Arm nehmen.
Aber er kommt nicht mehr. Die Haustür bleibt zu. Manchmal lauscht sie noch, ob sich doch Schritte nähern. Meistens bildet sie sich das nur ein. Oder die Schritte gehen weiter. Vorbei. Und sie sitzt allein zu Hause.
Am Anfang kamen viele. Sie brachten Karten, schrieben Worte der Anteilnahme, sagten, so gut es eben ging: „Es tut mir leid.“ Weil doch jeder wusste, dass es nichts gab, was die Situation besser machen konnte. Andere blieben länger, hörten zu, hielten sie, halfen ihr durch die ersten dunklen Tage. So viel echte Zuwendung, so viel wahre Freundschaft hat sie nie zuvor erfahren.
Jetzt ist es ruhig geworden. Es kommen keine Karten mehr. Die anderen haben ja auch ihr Leben. Man nimmt sie mit, man lässt sie teilnehmen, wo sie es kann und möchte. Aber oft, ganz oft, ist sie alleine. Alleine mit ihren Tränen. Alleine mit ihrem Schmerz. Mit der Wut, die auch immer wieder hochkommt. Dieser blöde... Ja, wen konnte man dafür eigentlich verantwortlich machen? Dieser blöde Krieg! Dieser blöde König, der ihn angefangen hat. Diese blöde Welt, die so etwas nicht verhinderte.
Womit hat sie das verdient? Warum ausgerechnet ihr Mann? Warum musste es ausgerechnet ihr Leben in Stücke reißen? Warum wurde ausgerechnet ihre Zukunft brutal vernichtet? Alle ihre Träume mit Füßen getreten?
Dabei haben sie doch Pläne gehabt. Und Träume. Alt werden wollten sie miteinander. Sich an den Kindern freuen, wie sie ihren Weg im Leben finden. Ihnen zur Seite stehen, für sie da sein. Für die Enkel. Vielleicht sogar für die Urenkel. Sich zur Ruhe setzen, eines Tages. Die Früchte der Arbeit genießen. In Frieden den Lebensabend miteinander verbringen. War das etwa zu viel verlangt?
Natürlich haben sie gewusst, dass der Tag kommen könnte. Das wusste ja jeder, der nicht in einer Traumwelt lebte. Sie hatten geahnt, dass das Leben nicht ewig so weitergehen würde. Die Anzeichen waren ja da. Dieser blöde Krieg! Von Anfang an aussichtslos! Die Feinde viel zu mächtig. Täglich neue Nachrichten, dass die Front immer näher an die Heimat rückte. Berichte von anderen, die jemand kannten, der jemand kannte, der jetzt nicht mehr da war. Nicht immer wusste man, ob man das alles glauben konnte. Glauben wollte. So kann doch gar niemand...
Und dann waren sie auf einmal da, die feindlichen Soldaten. Kein bisschen Mitleid in ihrem Blick. Sie kamen und schnappten sich unbarmherzig jeden, der nach Feind aussah. Jeden, den sie erwischen konnten. Sie nahmen sie mit. Alle. Ohne auf irgendwelche Argumente zu hören. Ohne das weinende Flehen der Beraubten zu beachten. Alle. Mit. Weg. Weit weg. Und man wusste, was das hieß. Keiner war je zurückgekommen von denen, die sie mitnahmen. Keiner--in all den Jahren nicht!
Mit einem Schlag ist alles anders.
Er ist weg. Und er wird nie wieder kommen.
"Man muss sich damit abfinden", sagen sie. Das Leben muss ja weitergehen. Auch ohne ihn. Man muss seinen Weg finden. Erinnern, ja. Trauern, ja. Das braucht es auch, und das braucht seine Zeit. Aber immer mit dem Blick nach vorne! Wenn du noch da bist, dann finde deinen Tritt im Leben neu.
"So ein Blödsinn!", denkt sie. Als ob man sich mit dem Fehlen eines Menschen "abfinden" könne. Als ob das Loch nicht da wäre, dass sie täglich in sich spürt! Mitten drin. Als ob man das irgendwie stopfen könnte.
Natürlich wird es leichter mit der Zeit. Man stumpft irgendwie auch ab gegenüber dem pochenden Schmerz. Man spürt ihn nicht mehr die ganze Zeit. Am Anfang war das so. Jeden Tag. Ständig. Das ist weniger geworden. Jetzt gibt es manchmal ganze Tage, an denen sie nichts davon merkt. Aber dann, dann reicht wieder ein einziger Moment--und alles ist sofort wieder da. Neulich zum Beispiel, da hatte sie die Tür nicht richtig hinter sich zugemacht, als sie hinaus in den Garten ging. Und als sie sich umdrehte, und die Haustür einen Spalt offen stand, da durchzuckte es sie, er könnte zurückgekommen sein. Und im nächsten Augenblick war er da, wie eine eiskalte Dusche, wie ein herabstürzender Felsbrocken, der sie unter sich zu begraben drohte, dieser unendliche Schmerz, als ihr klar wurde, dass er nie wieder kommen würde.
Am Schlimmsten...
Am Schlimmsten sind die Festtage. Wie hat sie die früher geliebt. Wie haben sie miteinander gefeiert, gesungen, getanzt bis tief in die Nacht. Einmal im Jahr, da zogen alle miteinander hinauf nach Jerusalem, zum Tempel, zum wichtigsten Fest des Jahres. Jeder, der irgendwie konnte, kam mit. Sie waren immer ganz vorne dabei. Das war ein Lachen, ein Tanzen, eine Freude. Für einen Tag verlor die ganze Welt jeden Schatten, der irgendwo existierte. Jede Sorge wurde klein, wenn man sang und Gott lobte und es war, als wäre Friede, überall, den nichts trüben könnte.
Das Lachen ist ihr vergangen.
Wenn sie sich heute mitschleppen lässt, dann nur, um am Fest nicht allein zu sein, weil das noch schlimmer wäre. Dann schlurft sie ganz hinten in der Reihe. Manchmal muss sie sogar lächeln, wenn fröhliche Kinder an ihr vorbeirennen. Ein kleines bisschen Freude will sich breit machen--bis die Erinnerung an so viele eigene freudige Erlebnisse sie wieder daran denken lässt, dass das jetzt alles ein Ende hat. Die Festtage sind die schlimmsten.
"Man muss es akzeptieren", meinen Sie. Weil man doch sowieso nichts machen kann. Weil die Welt eben ihre Grausamkeiten mit sich bringt. "Man muss den Dingen ins Auge schauen", sagen die anderen. "Man darf sich nicht in eine Traumwelt flüchten", warnen sie. Und sie meinen damit auch die alten Lieder, die sie beim Laufen immer noch mitsingt: "Die auf den Herrn hoffen, werden nicht fallen, sondern ewig bleiben wie der Berg Zion." (Psalm 125,1)
Denn das Träumen, das wird sie sich nicht auch noch nehmen lassen.
Trotzig hält sie daran wenigstens fest. Mag ja sein, dass man nichts machen kann. Mag sein, dass man völlig machtlos ist. Mag sein, dass niemand hier ihn je zurückholen kann. Siehst du? Die Realität wird sie sicher nicht aus den Augen verlieren. Dazu ist die viel zu groß und grausam da.
Aber sie hat etwas gefunden, dass sie ihr entgegen setzt. Sie hält sich an Gott fest. Ist der nicht stärker? Ist der nicht größer als alles, als Könige, als Armeen, ja als Leben und Tod selbst?
Wir haben es letzten Sonntag mit den Worten von Paulus gehört: "Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn." (Römer 8,37-39)
Und so singt sie. Trotzig singt sie das Lied. Erst leise, mit Tränen in den Augen. Dann immer lauter. Hanna, die Freundin an ihrer Seite, die auch ihren Mann verloren hat, stimmt mit ein. Dann andere auch. Sie singen es aus ganzer Kehle. Sie singen gegen die ganze furchtbare Welt an. Sie singen es sich ins Herz hinein, dass es widerhallt in dem großen, schwarzen Loch in der Seele und dass es die Dunkelheit verdrängt. Mit Hoffnung. Hoffnung auf das, was ihnen keiner nehmen kann. Was mit Gott geschehen könnte...
Ein Wallfahrtslied. Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Völkern: Der Herr hat Großes an ihnen getan! Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. Herr, bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. (Psalm 126,1-6)So singen sie und sie träumen an gegen die Verzweiflung, die dem Leben alle Freude rauben will.
Wenn...
Wenn der Herr...
Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.
Dann werden wir sein wie die Träumenden.
Mit einem Schlag ist alles anders.
Er ist weg. Und er wird nie wieder kommen.
So trotten zwei andere trübselig vor sich hin. Auch sie haben jemand verloren. Nicht den Mann, aber einen guten Freund. Den besten, den es je gab. Wie viel Freude hatten sie bei ihm gefunden. Echten Frieden entdeckt. Täglich neu überrascht von der Güte Gottes waren sie, wenn sie mit ihm unterwegs waren. Das ganze Leben schien plötzlich Sinn zu ergeben. Bei ihm gewannen sie echte Hoffnung.
Und dann kamen die Soldaten und nagelten ihn an ein Kreuz. Von weitem sahen sie zu, wie er qualvoll sein Leben ließ. Und ihre Hoffnung starb mit ihm. Mit den anderen schlossen sie sich ein. Angst und Verzweiflung waren alles, was ihnen geblieben war. Und der traurige Ausflug an ein geliehenes Grab.
Kennt ihr den? Kommt Josef von Arimathäa nach Hause und erzählt seiner Frau, dass er das Familiengrab zur Verfügung gestellt hat, um Jesus zu begraben. Die Frau ist entsetzt: So ein Grab ist doch wahnsinnig teuer! Nur wenige können sich so etwas leisten. Und er gibt es einfach her? "Jetzt bleib doch ganz ruhig", sagt Josef zu seiner Frau. "Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Es ist doch nur für ein Wochende."
Als sie am Sonntag morgen zum Grab gehen, finden sie ihn nicht. Stattdessen wartet ein Engel dort. "Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier! Er ist auferstanden!"
Mit einem Schlag ist alles anders.
Die Dunkelheit ist weg. Kein Schatten mehr. Nur Licht. Und Leben. Und ungläubiges Lachen. Und überwältigtes Staunen. Und: Hoffnung.
Er ist auferstanden.
Der Tod ist besiegt.
Ha!
Tod, wo ist jetzt dein Stachel?
Tod, wo ist jetzt dein Sieg?
Mit einem Schlag ist alles anders.
Und es wird nie wieder dasselbe sein. Denn wir haben Hoffnung. Und wir leben aus der Hoffnung.
Auch wenn uns oft das Herz noch traurig wird, wenn das Fehlen von lieben Menschen uns manchmal fast zerreißen will, wir geben die Hoffnung nicht auf.
Wir lassen uns das Träumen nicht nehmen.
Das Träumen von dem, der den Tod überwunden hat.
Das Träumen von dem, der auch uns und den Unseren Leben verspricht.
Wo hier alles dunkel scheint, da träumen wir gegen die Trostlosigkeit an.
Wo hier alles sinnlos scheint, da singen wir trotzig mit den Worten von damals, und wir schwelgen schon heute in der Freude auf das, was noch sein wird.
Wenn...
Wenn der Herr...
Amen.

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