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Wurzeln eines Krieges | Von John Mearsheimer


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Ein Standpunkt von John Mearsheimer,
übersetzt und kommentiert von Bernd Lukoschik.
Die Wissenschaft von der Politik
Sich zu empören angesichts des Kriegs in der Ukraine, angesichts des Sterbens vieler Unschuldiger dort ist selbstverständlich und zeugt davon, dass man noch Mensch geblieben ist in einer Welt, in der Krieg auf Krieg folgt, was die Gefahr in sich birgt, dass man abstumpft und verdrängt.
Allerdings darf bei der Empörung und dem Abscheu vor dem Krieg nicht stehen geblieben werden: wenn man sich nämlich Gedanken darüber machen will, und als Politiker dies auch tun muss, wie dem Krieg ein Ende gesetzt werden kann.
Dann muss man sich von seinen Gefühlen lösen und nachdenken – wie abgebrüht und kaltschnäuzig sich das auch anhören mag. Wenn man zu politischen Lösungen kommen will, muss man den Weg der Wissenschaft gehen.
Der Wissenschaftler löst sich von den „Erscheinungen“ und versucht, an das „Wesen“ seines Forschungsgegenstands zu gelangen. Für den Politikwissenschaftler besteht das Wesen seines Gegenstands in dessen Geschichte, darin, wie der Gegenstand zu dem geworden ist, was er ist, konkret: warum es überhaupt zu einem Angriff Russlands auf die Ukraine kommen konnte, welches die tieferen Ursachen dafür sind; was diesen Angriffskrieg von anderen Angriffskriegen in der Geschichte unterscheiden könnte, denn jeder Angriffskrieg ist anders geartet, eben abhängig von seiner Geschichte.
Will man zu einer fundierten politischen Entscheidung kommen, was man gegen den Krieg tun kann, bleibt einem kein anderer Weg als der über die distanzierte Analyse des „Wesens“: der historischen Ursachen.
Im Folgenden sei in Teilen der Vortrag von John Mearsheimer – Professor für internationale Beziehungen in Chicago – übersetzt wiedergegeben, den er im Jahre 2014 kurz nach dem Putsch in der Ukraine gehalten hat. Dieser Vortrag scheint mir ein Musterbeispiel für eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Politik zu sein. Er stellt die zum Teil weit zurückliegenden Ursachen und historischen Ereignisverknüpfungen dar, die im Alltagsgeschäft der praktischen Politik und der Medien nicht mehr vorkommen, dennoch im Hintergrund nachwirken und den Lauf der Dinge bestimmen.


Beginn der Übersetzung

Warum die Ukrainekrise der Fehler des Westens ist
Gemäß der vorherrschenden Deutung im Westen ist die Ukrainekrise allein der russischen Aggression geschuldet. Russlands Präsident Putin, so das Argument, annektierte die Krim, auf dem Hintergrund eines alten Bestrebens, die Sowjetunion wiederherzustellen, und schließlich werde er sich die Restukraine einverleiben wie auch andere Länder Osteuropas. …
Diese Deutung ist jedoch falsch. Denn die USA und ihre europäischen Verbündeten tragen die Hauptverantwortung für die gegenwärtige Krise. Die Wurzel allen Übels ist die NATO-Osterweiterung, das zentrale Element einer langfristigen Strategie, um die Ukraine aus Russlands Einflussbereich herauszulösen und das Land im Westen einzubinden. … Für Putin war die Beseitigung des demokratisch gewählten und prorussischen Präsidenten – was er zu Recht als Putsch bezeichnete – der entscheidende Schlag. Putin reagierte mit dem Anschluss der Krim, denn er musste befürchten, die NATO werde sich des dortigen Marinestützpunktes bemächtigen. Zudem begann er mit der Destabilisierung der Ukraine, was er so lange durchzuführen gedachte, bis die Ukraine ihre Bemühungen um Annäherung an den Westen aufgeben würde.
Das alles sollte nicht überraschen. Immerhin hatte sich der Westen  mit alldem in Russlands „Hinterhof“ begeben und damit den Kern der strategischen Interessen Russlands bedroht, ein Punkt, auf den Putin wiederholt emphatisch hingewiesen hat. Die Eliten in den USA und in Europa reagierten verblendet auf diese Ereignisse, da sie die internationalen Beziehungen unter einer völlig falschen Perspektive betrachteten. Sie neigen dazu, zu glauben,
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