Ein Kommentar von Walter van Rossum.
In „Verfassungsschutz: Wie der Geheimdienst Politik macht“ analysiert Ronen Steincke einen deutschen Geheimdienst, der selbst verfassungsfeindlich agiert und auf dem rechten Auge blind ist.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat, wie dem Namen zu entnehmen, die Aufgabe, die deutsche Verfassung und damit die deutsche Demokratie zu schützen. Sein gesellschaftlicher Auftrag ist es, jene Kräfte, die durch menschenfeindliche und totalitäre Ansichten die liberale Ordnung gefährden, ausfindig zu machen und zu überprüfen, wie groß die Gefahr ist, die von ihnen ausgeht. Dass es dieser Anforderung im Grunde seit seiner Gründung nicht gerecht wird, hängt sowohl damit zusammen, dass die Behörde selbst bereits zu Beginn von Nazis durchsetzt war, als auch dass sie im Grunde ohne jegliche Kontrolle selbst legale Aktivitäten observieren kann, wie es ihr passt. Süddeutsche-Zeitung-Journalist Ronen Steincke skizziert in seinem Buch die Konstruktionsfehler des deutschen Geheimdienstes und geht dennoch nicht auf die Überwachung Andersdenkender seit der Coronazeit ein.
Im Jahr 1950 beschlossen die alliierten Westmächte, in der Bundesrepublik ein Amt für Verfassungsschutz zu gründen. Die vornehmste Aufgabe bestand nicht nur in der Beobachtung staatsfeindlicher Aktivitäten, sondern auch darin, Altnazis von Ämtern in Regierung, Verwaltung und Justiz fernzuhalten. Erster Präsident des neu gegründeten Amtes wurde Otto John, ein Jurist, der am Widerstand gegen die Nationalsozialisten teilgenommen hatte und dessen Bruder nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet wurde.
Am 20. Juli 1954 demissionierte Otto John auf spektakuläre Weise: Er wechselte in die DDR und gab zu Protokoll, in welchem Ausmaß alte Naziseilschaften nicht nur das Amt für Verfassungsschutz infiltriert, sondern überall im öffentlichen Leben das Ruder übernommen hatten. Er sprach von einer „Renazifizierung in Westdeutschland“.
Dieser Seitenwechsel ging als der erste Skandal des Verfassungsschutzes in die Annalen ein. In Wahrheit bestand der Skandal natürlich darin, dass Otto John vollkommen recht hatte:
1955 stellte sich heraus, dass 20 Prozent der Mitarbeiter des Bundesamts ehemalige NSDAP-Mitglieder waren. Vermutlich waren es noch sehr viel mehr.
Die Untersuchungskommission, die dieser Frage nachging, wurde von Wilhelm Ludwig geleitet, der seit April 1933 Leiter des Referats IX bei der Gestapo gewesen war. Beim Bundeskriminalamt fanden sich 1958 unter 47 leitenden Beamten 33 frühere SS-Angehörige, 1957 waren 77 Prozent der leitenden Beamten des Justizministeriums ehemalige NSDAP-Mitglieder. Ähnliches gilt für andere Ministerien und Behörden.
Ronen Steinke erzählt in seinem Buch über den Verfassungsschutz aber nicht die Geschichte seiner Skandale. Das sprengte den Rahmen nur eines Buches. Der Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung geht hauptsächlich der Frage nach, ob das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht von Anfang an als Fehlkonstruktion angelegt war und ob seine Arbeitsweise nicht eher dazu führt, die Demokratie, die es zu schützen vorgibt, zu untergraben.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz nebst seinen 16 Landesfilialen hatte nach dem Willen seiner alliierten Gründer reine Beobachtungsaufgaben und keinerlei exekutive oder polizeiliche Befugnisse. So wollte man eine neue Gestapo verhindern. Der entscheidende Unterschied zu polizeilichen Behörden besteht darin, dass der Verfassungsschutz legale politische Gruppen oder Parteien beobachten kann — ohne dafür richterliche Genehmigungen einholen noch Rechenschaft ablegen zu müssen.
Das ist allerdings ein globales Alleinstellungsmerkmal. Überall sonst auf der Welt dürfen Inlandsgeheimdienste nur illegale Aktivisten beobachten. Zumindest, wenn es nach den Buchstaben des Gesetzes geht.
Ein anderes Problem besteht darin,