In der neuen Folge von „5 Minus – Das Gesundheitssystem verfehlt das Klassenziel“ spricht Dr. Laura Dahlhaus mit Dr. Andrea Morawe, einer jungen Hausärztin, die mit gerade einmal 35 Jahren eine eigene Praxis in Weißhand-Gölzau, einem Ort mit weniger als 2.000 Einwohnern, übernommen hat. Während viele junge Mediziner:innen eine Karriere in der Klinik oder im MVZ bevorzugen, hat sie sich bewusst für die hausärztliche Versorgung auf dem Land entschieden – eine Entscheidung, die immer seltener wird, obwohl sie für das Gesundheitssystem essenziell ist.
Andrea war ursprünglich Chirurgin, entschied sich jedoch nach der Geburt ihres Kindes für die Allgemeinmedizin, da die Vereinbarkeit von Klinikarbeit und Familie für sie nicht mehr funktionierte. Die Übernahme der Praxis war mit Unsicherheiten verbunden, aber eine spezielle Regelung in Sachsen-Anhalt, die Quereinsteiger:innen eine verkürzte Weiterbildung ermöglicht, erleichterte ihr den Wechsel. Die vorherige Praxisinhaberin gab die Praxis unter anderem auf, weil die zunehmende Digitalisierung und Bürokratisierung für sie nicht mehr zu bewältigen war – eine Herausforderung, die viele ältere Ärzt:innen zum vorzeitigen Rückzug zwingt.
Als Landärztin ist Andrea für eine enorme Bandbreite an Aufgaben verantwortlich. Sie behandelt akute Infekte, chronische Erkrankungen und postoperative Wundversorgungen, muss sich aber auch um Patient:innen kümmern, die nach einem Krankenhausaufenthalt unzureichend versorgt wurden. Zusätzlich übernimmt sie Hausbesuche in einem Umkreis von bis zu 30 Kilometern, betreut Palliativpatient:innen und versorgt ein Pflegeheim sowie eine Anlage für altersgerechtes Wohnen. Trotz dieser Arbeitsbelastung empfindet sie ihre Tätigkeit als flexibler und besser mit der Familie vereinbar als die Klinikarbeit, nicht zuletzt, weil ihr Mann als Praxismanager in das Unternehmen eingestiegen ist.
Doch während sie ihren Beruf liebt, sieht sie, wie schwer es ist, Nachfolger:innen für Landarztpraxen zu finden. Viele junge Ärzt:innen meiden die Niederlassung aus Angst vor der finanziellen und organisatorischen Verantwortung einer eigenen Praxis. Stattdessen wählen sie die vermeintliche Sicherheit einer Anstellung in Kliniken oder MVZs. Das führt dazu, dass immer mehr Hausärzt:innen ohne Nachfolge in den Ruhestand gehen und in vielen Regionen ein hausärztliches Vakuum entsteht. In manchen Gegenden gibt es mittlerweile nicht nur keine Hausärzt:innen mehr, sondern auch keine Fachärzt:innen oder Zahnärzt:innen.
Hinzu kommt, dass sich nicht nur die ärztliche Versorgung, sondern auch die allgemeine Infrastruktur auf dem Land verschlechtert. Besonders schwierig ist die Situation bei der Kinderbetreuung. Während es früher verlässliche Betreuungsmöglichkeiten gab, schließen viele Kitas heute bereits um 16:30 Uhr, was mit den Arbeitszeiten vieler Ärzt:innen kaum vereinbar ist. Wenn dann noch Personalmangel dazukommt, müssen Eltern ihre Kinder oft früher abholen oder sich selbst um eine Betreuung kümmern – ein zusätzlicher Stressfaktor, der insbesondere Frauen in der Medizin vor große Herausforderungen stellt.
Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen gelingt es Andrea, ihre Praxis effizient zu organisieren. Sie versorgt rund 1.300 bis 1.400 Kassenpatient:innen pro Quartal, aber durch regelmäßige Kontrollbesuche von Chroniker:innen, postoperative Nachsorgen und Wundversorgungen liegt die tatsächliche Kontaktzahl weit über 3.000. Ohne ihr engagiertes Team wäre das kaum zu bewältigen. Eine große Erleichterung ist für sie die Digitalisierung, die von vielen älteren Ärzt:innen als Hindernis wahrgenommen wird. In ihrer Praxis setzt sie Aaron, eine KI-gestützte Telefonassistenz, ein, die bis zu 50 Anrufe gleichzeitig annehmen und vorsortieren kann. So müssen Patient:innen nicht mehr mehrfach anrufen, um durchzukommen, und das Praxisteam wird spürbar entlastet. Überraschenderweise haben sich vor allem ältere Patient:innen schnell an das System gewöhnt, während jüngere oft skeptischer sind.
Ein großes Problem auf dem Land ist die fehlende Facharztversorgung. Der letzte Allgemeinchirurg in der Umgebung ging in den Ruhestand, doch anstatt eine ähnliche Fachrichtung nachzubesetzen, wurde der Sitz an einen Orthopäden mit Spezialisierung auf Wirbelsäulenchirurgie vergeben. Wer nun mit kleineren chirurgischen Problemen in die Praxis kommt, etwa mit einem eingewachsenen Zehennagel, hat keine Alternative zur hausärztlichen Versorgung. Das ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Viele kleinere Eingriffe, die Hausärzt:innen übernehmen könnten, sind nicht wirtschaftlich tragbar, weil die Vergütung oft nicht einmal die Materialkosten deckt. Eine einfache Wundnaht kann für die Praxis Materialkosten von 12 Euro verursachen, während die Kasse dafür nur 7 Euro erstattet. Manche kleinere Operationen, wie die Emmert-Plastik am Zehennagel, sind für Hausärzt:innen gar nicht abrechenbar, obwohl sie diese problemlos durchführen könnten. Die Folge: Viele Hausärzt:innen bieten solche Eingriffe erst gar nicht an.
Angesichts dieser Probleme ist klar, dass sich in der hausärztlichen Versorgung dringend etwas ändern muss. Andrea fordert gezielte Anreize, um junge Ärzt:innen für eine Niederlassung auf dem Land zu gewinnen. Dazu gehören nicht nur finanzielle Anreize, sondern auch eine bessere Vergütung für hausärztliche Leistungen, damit sich die Versorgung wirtschaftlich lohnt. Außerdem braucht es dringend Maßnahmen gegen den Facharztmangel in ländlichen Regionen, denn ohne spezialisierte Kolleg:innen wird die Arbeit der Hausärzt:innen immer komplexer. Ein weiterer entscheidender Punkt ist der Bürokratieabbau, denn wenn Ärzt:innen weniger Zeit mit Formularen und Dokumentationen verbringen müssten, hätten sie mehr Kapazitäten für ihre Patient:innen. Auch die Kinderbetreuung muss flexibler gestaltet werden, um Ärzt:innen mit Familie den Arbeitsalltag zu erleichtern.
Zum Abschluss stellt Laura die Frage, wen Andrea sich als neue:n Bundesgesundheitsminister:in wünschen würde. Andrea betont, dass sie sich eine Person wünscht, die wirklich aus der Praxis kommt und die Probleme der ambulanten Versorgung versteht – und nicht nur Interessen von Klinikkonzernen oder Krankenkassen vertritt.
Das Fazit der Folge ist eindeutig: Hausärzt:innen auf dem Land sind das Rückgrat der medizinischen Versorgung, doch das System macht es ihnen unnötig schwer. Ohne gezielte Reformen droht eine flächendeckende Krise, denn immer mehr Praxen werden in den kommenden Jahren schließen, wenn sich keine Nachfolger:innen finden. Um die Versorgung in ländlichen Regionen zu sichern, braucht es dringend bessere Rahmenbedingungen – und eine Politik, die endlich handelt.
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