Der Begriff Rechtsstaat scheint auszudrücken, dass Politik und Recht ein einheitliches System wären. Die Theorie sozialer Systeme kann jedoch analytisch aufzeigen, dass es sich um zwei operativ geschlossene Systeme handelt. Bereits die Entstehung des Begriffs setzt Gewaltenteilung voraus und damit gegenseitige Anerkennung von Autonomie.
Am Widerstandsrecht lässt sich nachvollziehen, wie beide Systeme ihre Ansprüche auf Autonomie verteidigen. Aus Perspektive der Politik ist ein Staatsbürger, der sich mit Berufung aufs Recht in die Politik einmischt, ein Friedensstörer. Aus Perspektive des Rechts darf jedoch niemand, auch nicht der Gesetzgeber, über dem Recht stehen. Sonst gäbe es kein Recht. Diese Auffassung führte zur Entwicklung der civil rights im Common Law.
Dass die Systeme sich Machtkämpfe liefern, bestätigt nur ihre operative Geschlossenheit. Sie verteidigen dann jeweils ihren Anspruch darauf. Rechtsstreitigkeiten um dieses Thema führten dazu, dass der Begriff Rechtsstaat nach der Französischen Revolution 1789 zunehmend als Beobachtungsschema verstanden werden konnte. Die Verkettung der beiden Begriffe zu einem gemeinsamen neuen Denkrahmen fordert dazu auf, das Verhältnis zwischen Politik/Recht zu beobachten. Also: gegenseitige Bedingungen und Wechselwirkungen. (Luhmann zitiert hier in Fußnote 17 Novalis, 1795/96, u.a. mit dem Satz: »Jedes ist nur das auf seinem Platz, was es durch den anderen ist.«)
Das Ziel ist damit nicht mehr Konsens, der mithilfe von Kriterien wie Vernunft erreichbar wäre. Stattdessen gibt der Begriff Rechtsstaat vor, dass die Systeme ihr Verhältnis zueinander jeweils autonom beschreiben müssen. Im Zentrum stand hier stets die Differenz von Notwendigkeit und Freiheit. Um Freiheit zu gewährleisten, muss sie notwendigerweise durch Gesetze eingeschränkt werden. Die Durchsetzung von Gesetzen verantwortet dann die Exekutive, die Durchsetzung von Gerichtsurteilen die Judikative, jeweils in einem als Nationalstaat begriffenen Territorium.
Um Widerstand gegen als ungerecht empfundene Herrschaft in politisch und rechtlich akzeptable Bahnen lenken zu können, musste die Figur des Bürgers mit umfangreichen Rechten ausgestattet werden. Der Bürger braucht Staatsangehörigkeit, Rechtsfähigkeit, Wahlrecht, subjektive Rechte. Parallel zur Ausdifferenzierung der Rechte häufen sich Streitigkeiten darum. Diese klären nach und nach, was darunter jeweils rechtlich und/oder politisch zu verstehen ist. Auch der Rechtsschutz des Bürgers gegenüber politischer Hoheitsgewalt muss erfunden werden.
Diese Kontroversen führten dazu, dass der Begriff des Politischen im 19. Jh. fast ausschließlich auf den Nationalstaat bezogen wurde. Infolge der geteilten Gewalten konnten Parteien mit Staatsämtern entstehen. Gesetzgebung, Steuern und Abgaben werden zu Top-Instrumenten der Politik. Dadurch wächst das Normmaterial rasant an. Das führt zu dem Zeitproblem, dass sich Gesetze nicht mehr schnell ändern (»reliquidieren«) lassen, weil immer mehr Material mitbeachtet werden muss. In der Folge schafft der Gesetzgeber beim Versuch, Konflikte zu lösen und politische Ziele zu realisieren, neue Konflikte. Diese ergeben sich erst aus der Gesetzgebung. Und auch diese selbst produzierten Konflikte kann der Gesetzgeber wiederum nur durch Gesetzgebung lösen.
Historisch wurde das Rechtsstaatsverständnis dadurch geprägt, dass die Positivierung des Rechts und die Demokratisierung der Politik in etwa parallel verliefen und schrittweise aufeinander abgestimmt werden mussten. Sprachlich wurden dabei zwei Begriffe zu einem gemeinsamen Sinnhorizont verschmolzen. Analytisch handelt es sich jedoch um zwei operativ geschlossene Systeme.
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