Gefühle gehören ins Private, m Job hingegen muss man sich einen dicken Panzer zulegen - so der Mythos. Gefühle wie Angst oder Ohnmacht gelten als unprofessionell. Doch der Preis dieser "Unberührbarkeit" ist hoch: Abstumpfung auch gegenüber den schönen Gefühlen. Von Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Andrea Dederichs, Psychologin
Dr. Christoph Quarch, Philosoph
Prof. Giovanni Maio, Medizinethiker Uni Freiburg
Dirk Breitenbach, ehemaliger Polizist und Polizei-Poet
Renate Langenbach, Anästhesistin und Palliativmedizinerin
Hubert Liebertz, ehemaliger Schlachter
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
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ZUM PODCAST
Giovanni Maio: Ethik der Verletzlichkeit, Herder 2024
Ankündigung: Barbara Schmitz: Offenheit und Berührbarkeit: Neue Wege zu Verletzbarkeiten und Resilienz, erschein am 12.2.2025
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Dirk Breitenbach, liest vor (0‘11“):
Mein Blick fällt auf die laut tickende Wanduhr. 4:30 Uhr. Wann bin ich gestern nach Hause gekommen? Halb zwölf? Oder war es doch erst heute Morgen? Heute kommt die sechste Schicht in Folge.
O-Ton 2 Breitenbach, liest eigenen Text vor (0‘06“):
Jetzt schnell umziehen und nach Hause. Ich möchte meiner Frau möglichst gut gelaunt entgegentreten. Was kann sie für meine Erlebnisse?
Dirk Breitenbach, ehemaliger Polizist. Und Mitglied der Polizei-Poeten: einem deutschlandweiten Netzwerk von Polizisten, die ihre belastenden Erfahrungen nicht verdrängen und abspalten, sondern aufschreiben und im Netz veröffentlichen. Und so ein anderes Bild von vermeintlich knallharten Profis erschaffen.
O-Ton 3 Dirk Breitenbach, liest eigenen Text vor (0‘20“):
Auf ihre Frage nach dem Tag antworte ich nur, dass viel zu tun war. Hätte ich Ihr alle Gefühle berichten sollen, die Angst etwas verkehrt zu machen? Die Angst davor sich die Verletzungen der anderen ansehen zu müssen, die Angst davor bei einer Einsatzfahrt, oder sonst wie selber verletzt zu werden? Die Angst der Hilflosigkeit oder der Aggressivität anderer nicht adäquat begegnen zu können.
O-Ton 4 Dirk Breitenbach (0‘24“)
Ich glaub, wir sind schon ziemlich stark. Nur die Art dessen, was auf uns einwirkt. Die Schrecklichkeit, die Intensität dessen, die Vielfalt, die Menge, das verlangt dann auch von einem starken Menschen auch tatsächlich das Allerletzte ab. Weil was wir in einer Woche oder einem Monat erleben, haben viele vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht an schrecklichen Dingen, selbst wenn wir nicht stark sind, sind wir immer noch stark.
Es gibt so etwas wie ein gesellschaftlich akzeptiertes, ungeschriebenes Gesetz: Im Job und generell im öffentlichen Leben sind vor allem positive Gefühle akzeptiert wie Freude oder Stolz. Vielleicht auch noch Wut. Was zählt, ist ein starker Intellekt. Gepaart mit Tatendrang, Zielstrebigkeit, Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit. Eine funktionierende Hülle also. Alle unliebsamen Gefühle wie Angst, Verzweiflung, Verzagtheit, Scham werden ins Private verbannt.
O-Ton 5 Andrea Dederichs (0‘19“):
Warum tun wir so, als wären wir zu 90 Prozent am Tag bewusste, kognitive Wesen, und diese 10 Prozent Emotionen, mit denen wir nicht umgehen können oder wollen, die sperren wir entweder ein oder bagatellisieren sie, auf jeden Fall aber wollen wir sie kontrollieren.
Dr. Andrea Dederichs ist Psychologin, Emotionsforscherin und Professorin an der Polizeiakademie. Sie schult unter anderem Beamte des Sonder-Einsatz-Kommandos in emotionaler Kommunikation. Trainiert mit ihnen, eine angemessene Sprache für den Druck, den Stress und manchmal auch ihre Todesangst zu finden.
O-Ton 6 Andrea Dederichs (0‘29“):
Wir machen Folgendes: Wir sagen „Jetzt ist Professionalität, also Emotionen dürfen nicht rauskommen, und was machen wir dann mit diesem aufgestauten emotionalen Ballast? Den wir auch als Ballast wahrnehmen und nicht als etwas, das einfach zu uns gehört? Wir gehen damit in die Privatheit, und wenn’s richtig scheiße gelaufen ist in unserem vernunftbegabten, kognitiven Tag, dann wird’s auch richtig scheiße im Privaten, weil es sich da nämlich komplett entlädt an Ort und Stelle – wo es nicht hingehört!
Fühlen ist in der Öffentlichkeit nicht besonders beliebt. Tränen fließen eher im geschützten, privaten Raum. Fühlen heißt auch immer: durchlässig zu sein. Nackt und ungeschützt.
O-Ton 7 Dirk Breitenbach, unter Musik, liest eigenen Text vor (0‘14“):
Ich weiß jetzt wieder, warum ich Unfälle hasse. Du weißt nie, welcher Schrecken auf Dich wartet. Ist es nur zerknülltes Blech, oder müssen wir Gliedmaßen suchen? Kurz überkommt mich Panik. Das habe ich immer, wenn ich damit rechnen muss, dass es gleich blutig oder sonst wie erschreckend wird.
O-Ton 8 Dirk Breitenbach, unter Musik, liest Text vor (0‘16“):
Was hätte ich sagen sollen? „Jungs, es war nett mit Euch, aber ich habe gerade das Gefühl von Hilflosigkeit und kann außerdem nicht so gut Blut sehen. Ich würde jetzt gerne wieder fahren. Ich bitte euch, habt Mitleid mit mir?!“
Ich schaue zum Notarzt. Unsere Blicke treffen sich. Wortlos schüttelt er seinen Kopf und wendet sich ab.
O-Ton 9 Andrea Dederichs (0‘36“):
Das ist natürlich ne ganz extreme Situation, auf die man Menschen auch nicht komplett vorbereiten kann. Selbst Leute, die professionell in solchen Berufen arbeiten, also Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter… in so einem Moment passiert eigentlich etwas, was Schutz ist. Und Dinge, die wir in einem Moment vielleicht nicht verarbeiten können, wo vielleicht auch zu viele unterschiedliche Eindrücke aufeinanderprallen, und wir können es nicht mehr sortieren, da macht unsere Psyche so eine Art Cut und verschließt das.
Die Psychologin Andrea Dederichs sagt: emotional berührbar sind wir sowieso. Immer. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen.
O-Ton 10 Andrea Dederichs (0‘20“):
Bei solchen Berufen würde ich mir wünschen, dass es jede Woche ein Forum gibt, unabhängig vom Anlass, dass Menschen darüber sprechen, was sie gerade für Schwierigkeiten haben im Job, aber was auch gut läuft. Also dass es wirklich ritualisiert wird, über die eigenen Emotionen im professionellen Kontext zu sprechen.
Gemeint ist dabei jedoch nur die echte, authentische Emotion. Also sind nicht diejenigen, die auf Knopfdruck während der Konferenz in Tränen ausbrechen, weil sie gerade ihren Willen nicht durchsetzen konnten. Oder die mit ewigen Dramen versuchen, andere zu manipulieren.
Die Frage nach der Berührbarkeit, dem Eingeständnis der eigenen Verletzlichkeit stellt sich in vielen Berufen. Sie taucht überall dort auf, wo Menschen mit dem Leid anderer konfrontiert sind: nicht nur bei Polizisten, Feuerwehrleuten und Rettungskräften, auch bei Profis, die in medizinischen, therapeutischen und sozialen Berufen arbeiten.
Der Philosoph Dr. Christoph Quarch hat an einer Fachhochschule für pädagogische Berufe das Fach Ethik unterrichtet:
O-Ton 11 Christoph Quarch (0‘26“):
Da gibt es eine Doktrin, die sagt: Du musst dich von jeder emotionalen Bildung zu deinen Klienten freihalten. In dem Bereich würde ich dem vehement widersprechen. Ich glaube, dass man als Pädagoge und auch als in sozialen Berufen tätiger Mensch seine Arbeit nicht machen kann, ohne ein hohes Maß an Empathie und Berührbarkeit und auch Mitgefühl zu kultivieren.
Nur wer nichts fühlt, ist stark. Vermeintlich. Fühlen macht schwach, angreifbar, verwundbar. So empfinden es viele.
O-Ton 12 Christoph Quarch (0‘37“):
Generell würde ich sagen ist das Gefühl in der Arbeitswelt ein ganz entscheidender Faktor. Und nicht nur in sozialen Berufen und nicht nur in Pflegeberufen. Das Gleiche gilt für ne Bank und für ne Versicherung, und am Ende gilt’s wahrscheinlich auch sogar für die Justiz und von mir aus sogar für die Bundeswehr!
Auf der anderen Seite würde ich eben doch sagen: Wenn man sich jetzt emotional völlig fallen lässt und sich ohne Rücksicht auf Verluste von seinen Emotionen auch davontragen lässt, ist es auch nicht professionell. Es geht darum, eine gute Kultur des Fühlens zu entwickeln. Und die wird leider Gottes an den Ausbildungsstätten in der Regel nicht vermittelt.
Es ist eine schwierige Gratwanderung zwischen Fühlen einerseits und Verdrängen und Abgrenzen andererseits.
Was mag die Richterin fühlen, wenn sie einen Menschen durch ihr Urteil hinter Gitter bringt - und vielleicht eine Familie auseinanderreißt?
Der Chirurg, während er ein Bein amputiert. Mitgefühl? Schwer zu leben. Bestimmte Professionen, bestimmte Rollen verlangen ein hohes Maß an Abgrenzung.
Folgenden O-Ton in Klänge einbetten:
O-Ton 13 Renate Langenbach (0‘18“):
Es gab Situationen, da musste man diesen kleinen Säugling mit nem winzigsten Tubus intubieren, man hatte ne kleine Maske und hatte überhaupt ne Riesenangst davor, diesem kleinen Etwas dann auch noch mal weh zu tun. Das war für mich das Stressigste und das Aufregendste und das Schwierigste in dieser Zeit der Anästhesie.
Dr. Renate Langenbach, Anästhesistin.
O-Ton 14 Renate Langenbach (0‘17“):
Ich durfte es im Nachhinein meinen Kollegen sagen, aber als ich dann in der Situation in der ich als Ärztin in der Anästhesie diejenige war, die die Verantwortung auch hatte, musste ich Kenntnis haben, musste ich Fertigkeiten haben und musste eine gewisse Souveränität haben.
Ein Profi fühlt nicht, er funktioniert. Das ist oft das Dogma. Doch schlimmstenfalls wird der Profi dadurch vor allem eins: stumpf, leer und unlebendig.
Der Medizinethiker Prof. Giovanni Maio von der Uni Freiburg sagt: Ein Grund dafür liegt auch im falschen Verständnis der eigenen Verletzlichkeit. Wer verletzlich ist, der macht sich angreifbar, so der weitverbreitete Glaube:
O-Ton 15 Giovanni Maio (0‘35“):
Die Verletzlichkeit ist natürlich negativ konnotiert, aber wenn wir vertiefter drüber nachdenken, werden wir feststellen, dass wir diesen Modus der Verletzlichkeit brauchen, denn nur wenn wir verletzungsoffen sind, werden wir uns selbst auch entwickeln können. Nur dadurch, dass wir wissen: Wir sind verletzlich, können wir uns einfühlen in andere; wenn wir meinen, wir wären vollkommen unverletzlich im Sinne einer Unabhängigkeit, dann wähnen wir uns als selbstmächtige Herrscher über uns selbst.
Natürlich erwarten wir von Helfern stets einen kühlen Kopf und kontrolliertes Eingreifen! Wer wünschte sich allen Ernstes unkontrollierte, gefühlsduselige Profis? Ein Polizist, der am Einsatzort weint? Oder einen Anwalt, der in Mitgefühl für seinen Mandanten versinkt? Eine Notärztin, die im Schockraum überflutet wird von ihren Gefühlen? Es kann durchaus sinnvoll sein, den Kopf ein und das Gefühl weitgehend auszuschalten – allerdings nur vorübergehend!
O-Ton 16 Renate Langenbach: (0‘13“)
Auf einem chirurgischen Visitenwagen stand geschrieben: „Bevor du in dieses Zimmer trittst, denke daran, dass die Wunde, die du eventuell öffnest, zu einem Menschen gehört, und konzentriere dich auch auf diesen Menschen!“
O-Ton 17 Giovanni Maio (0‘26“):
Je mehr wir uns selbst als verletzliche Wesen empfinden, desto mehr erkennen wir auch das Kostbare, was zerrüttet werden könnte. Die Verletzlichkeit ist ja auch ein Appell. Wenn wir uns vergegenwärtigen: Die anderen sind verletzlich, so wie ich, ist es ein Appell, alles dafür zu tun, damit die anderen nicht verletzt werden. Wir teilen diese Verletzlichkeit, und insofern gehören wir Menschen alle zusammen, im Bewusstsein dieses Bandes, das uns letzten Endes alle zusammenführt.
Natürlich gibt es Orte, wo Profis weich und gefühlvoll sein dürfen: Bei Supervisioren, Psychologinnen oder Seelsorgern. Für den Polizisten Dirk Breitenbach war das nie eine Option.
O-Ton 18 Dirk Breitenbach (0‘40“):
Es natürlich ein Schritt, zu sagen: „Hier, das war jetzt gerade zu viel für mich, das erfordert tatsächlich Mut und man muss auch das Gefühl haben, dass man in einem Kreis ist, der das auch akzeptiert und hinnimmt, wo man dann nicht nachher gemobbt wird und irgendwelche Ressentiments zu befürchten hat.
In einem Klima, wo alle stark sind, ist es schwierig, selber zu sagen „jawohl, ich bin hilflos, ich brauche Hilfe!“ Weil ich fest überzeugt war, ich brauche das nicht. Auch die Kollegen, denen ich gesagt hab: „Nehmt das doch in Anspruch“, die haben gesagt „Ich brauch das nicht. Das ist Quatsch! So schlimm war das jetzt gar nicht. Da gibt’s viel schlimmere Sachen!“
Heute rückblickend würde ich sagen: Hätte ich doch mal besser das ein oder andere in Anspruch genommen, einfach damit es raus kann. Damit dieses Ventil mal geöffnet wird.
O-Ton 19 Andrea Dederichs (0‘15“):
Ich behaupte ja, dass allein die Tatsache, dass ich darüber sprechen kann und es so etwas gibt, jemand, der mich versteht und nicht sagt: „Sag mal, was bist du denn fürn Bulle? Willste Sozialarbeiter werden?“ führt dazu, dass man gestärkter in den Job geht, und dann schafft man das auch!
Sprechen über Zweifel, über Grenzen, Überlastung, Versagensängste, über Albträume – also über all das, was Menschen in diesen Berufen so umtreibt. Das würde eine völlig neue Kultur in Einrichtungen, aber auch in Unternehmen erfordern. Weg von der Coolness, hin zur Menschlichkeit und Lebendigkeit.
[[ O-Ton 20 Christoph Quarch (0‘30“):
Wir zahlen letztlich den Preis der Lebendigkeit, wenn wir meinen, wir müssten uns von unseren Gefühlen fernhalten. Wir werden dann zu einer erkalteten, erfrorenen Gesellschaft, und das kann niemand wünschen. Mir scheint es so zu sein, dass wir Menschen dann am meisten bei uns selber sind, dass wir dann am lebendigsten sind, wenn wir fühlen. Und um fühlen zu können, müssen wir uns berührbar machen.]]
Wünscht sich die Gesellschaft überhaupt berührbare Menschen? Würde die Wirtschaft noch reibungslos funktionieren, lebten die Menschen ihre Berührbarkeit offen aus? Würden nicht ganze Branchen zusammenbrechen, wenn die, die dort arbeiten, plötzlich ihre Zartheit und Verletzlichkeit wieder zulassen würden?
O-Ton 21 Hubert Liebertz (0‘13“):
Emotionslos. Das erste Mal emotionslos. „Hier hast du nen Schussapparat, dein erstes Tier!“ Man denkt nicht drüber nach. Man verschwendet keinen Gedanken an das Tier selber.
Hubert Liebertz hat erst eine Lehre als Metzger gemacht und dann sechs Jahre lang im Schlachthof gearbeitet. Tiere töten und zerlegen. Das war seine tägliche Arbeit. Das Tier, das vor ihm auf der Schlachtbank lag, hat er nicht als fühlendes Wesen wahrgenommen.
O-Ton 22 Hubert Liebertz (0‘22“):
Es war wie ein Stück Holz, es war nichts Lebendes. Es war einfach nur… ja… Job! Man hat auch nicht viel Rücksicht auf die Tiere genommen. Wenn man im Nachhinein zurücksieht, ist es schon ziemlich grausam. Man verändert sich in dem Sinne, dass man härter wird. Man wird zu sich selber härter, man wird zu seiner Familie härter, meine Mutter hat damals mal gesagt „Junge, zu verrohst!“
Viele Grausamkeiten hat der Schlachter erlebt.
O-Ton 23 Hubert Liebertz (0‘23“):
Wenn Pferde geschlachtet werden, Schweine, Rinder, wenn Sie sehen, was die für ein Theater machen. Was meinen Sie, wie das Tier getrieben wird? Bullen wird vor die Hoden getreten, da wird die Rute, der Schwanz wird geknickt, denen wird auf die Beckenknochen mit dem Holzknüppel gehauen ... Und mir will dann irgendeiner sagen, dass die Tiere kein Empfinden haben – nee!!
Viele seiner Kollegen, so erzählt er heute, waren Alkoholiker. Ohne diese Eigen-Betäubung konnten sie den Job nicht durchstehen.
O-Ton 24 Hubert Liebertz (0‘30“):
Man stumpft so sehr ab, dass man das überhaupt gar nicht registriert, dass man da lebende Tiere hat. Man denkt da gar nicht drüber nach. Sie müssen sich vorstellen: Das ist Ihr Job, damit verdienen Sie ihr Geld. Zuerst macht es Ihnen was aus. Und wird das immer weniger, was Ihnen ausmacht. Und irgendwann ist das so wenn Sie im Stall 300 Schweine haben und die fangen auf einmal kollektiv das Schreien an – da werden Sie bekloppt bei! Da läuft es mir heute noch eiskalt den Rücken runter. Ewas Schlimmeres gibt es nicht. Das ist, als wenn kleine Kinder schreien.
Und dann kam der Tag, an dem sich beim scheinbar verrohten und gefühllosen Schlachter etwas zurückmeldete, das er ewig nicht gespürt hatte: Mitgefühl. Es tauchte aus dem Nichts auf.
O-Ton 25 Hubert Liebertz (0‘18“):
Wir waren Großvieh schlachten, nach dem Großvieh-Schlachten sind wir Kälber schlachten gegangen. Dann auf einmal Blöken, guck runter, setzt den Schussapparat an, ja, und dann flossen dann die Tränen, dem Kälbchen. Und dann war es vorbei. Dann konnt ich nicht mehr.
Rechts und links liefen zwei Tränen die Wangen des Kälbchens hinunter.
O-Ton 26 Hubert Liebertz (0‘07“):
Das war ein Knaller, war das. Was da in einem vorgeht, das kann man gar nicht beschreiben. Man denkt auf einmal, das ist nicht richtig! Da kann man nicht mehr!
Viele Tiere weinen vor dem Schlachten, sagt Hubert Liebertz. Er hatte es wohl immer übersehen. An dem Tag schaffte er es nicht mehr, wegzuschauen.
Er legte seinen Schussapparat zur Seite, streifte die Schürze ab und ging zur Tür raus. Den Schlachthof betrat er nie mehr. Wegen eines weinendenden Kalbs.
Nicht zu leugnen ist aber auch: Die Gesellschaft in der jetzigen Form profitiert von Menschen, die sich innerlich stumpf machen. Stumpf machen müssen. Die gezwungen sind, sich von ihren Gefühlen abzutrennen. Würden alle Schlachter ihre Berührbarkeit und Verletzlichkeit leben, blieben die Fleischtheken leer.
Hubert Liebertz musste seinen Arbeitsplatz für immer verlassen, um wieder empfindsam zu werden. Aber wie sieht es in der übrigens Arbeitswelt aus?
Ein Chirurg, der offen zweifelt. Ein Polizist, der zugibt, am liebsten vom Unfallort wegzurennen. Ein Sanitäter, den abgetrennte Gliedmaßen bis in den Schlaf verfolgen. Undenkbar?
Ich denke, es ist zu nem Großteil auch die hochgetaktete, ökonomisierte Arbeitswelt, es ist so gesehen das System, aber das System nährt sich wiederum von Individuen, die dieses Spiel mitspielen. [[ Und dass Menschen dieses Spiel mitspielen, hat sehr viel damit zu tun, dass es eben eine riesige Angst vor Verletzung gibt. Wir verzichten ja deswegen auf Gefühl, weil wir Angst haben, emotional verletzt zu werden. ]]
O-Ton 28 Dederichs (0‘18“):
Die Emotionen, die nehmen wir an uns als das Ungezügelte, das Spontane, auch das Innerste, aber vor allem das, wo wir antastbar sind. So nehmen wir Emotionen wahr. Wir nehmen sie nicht als Quelle der Kraft wahr und deswegen trauen wir ihnen auch wenig zu.
Hinzu kommt: So lange Emotionalität als gefühlsduselig gilt, allein rationales Denken und Handeln als professionell, haben Menschen kaum den Mut, sich zu öffnen und sich verletzlich zu zeigen. Schließlich glauben die meisten: einen Profi haut so schnell nichts um!
O-Ton 29 Giovanni Maio (0‘18“):
Das Problem der Resilienz ist ja, dass suggeriert wird, als würde man alles im Griff haben können, sofern man alles gut managt. Aber wir dürfen eben nicht verkennen, dass wir ohne gute Erfahrungen mit anderen eben diese eigenen Ressourcen gar nicht mobilisieren können.
O-Ton 30 Dederichs (0’22):
Es ist die Angst vor der Überflutung, aber es ist vor allen Dingen die Angst, falsch wahrgenommen zu werden. Die Angst nen Fehler zu machen und die Angst, nicht wertgeschätzt zu werden, glaube ich, die macht aus uns so Lemminge. Dass wir sagen: Eh wir uns auf das Risiko einlassen, die eigene Persönlichkeit auszuspielen, gehen wir lieber in so ne Kollektivpersönlichkeit.
Die Anästhesistin Renate Langenbach wollte Mitgefühl und Menschlichkeit leben. Im Krankenhausbetrieb, vor allem in der Notfallmedizin, sah sie dafür einfach keine Chance.
Erst in der Palliativmedizin fand sie wieder zu ihrer Berührbarkeit und Verletzlichkeit als Ärztin. In sicherlich einer der schwierigsten medizinischen Disziplinen stand nämlich etwas Bedeutendes im Vordergrund: der Mensch.
O-Ton 31 Langenbach (0‘30“):
Ich musste einem Mann mitteilen, dass seine Knochenmetastasen nicht mehr bestrahlbar sind und dass er wahrscheinlich nicht mehr laufen kann. Und wir haben dann dagesessen, beide, er lag, ich saß, und wir wussten nichts zu sagen, und wir mussten beide weinen. Und der Patient hat dann in sein Nachttischchen gegriffen und hat mir sein Herrentaschentuch gereicht. Und hat gesagt „Frau Doktor, trocknen Sie Ihre Tränen.“ Und das ist für mich ein ganz wichtiges Erlebnis: Ja, ich darf weinen beim Patienten.
Berührbar bleiben und trotzdem professionell – das darf Renate Langenbach bei der Begleitung und Versorgung von Sterbenden. Dafür müsste sie komplett aus dem akuten Klinikbetrieb aussteigen, in dem sie vergeblich versuchte, diesen Spagat hinzukriegen. Nun darf sie gleichzeitig verletzlich und berührbar sein UND professionell.
O-Ton 32 Giovanni Maio (0‘21“):
Und deswegen müssen wir unsere Verletzlichkeit anerkennen und in ihr die Ressource sehen, durch die wir überhaupt zur Empathie befähigt werden, wenn Sie unverletzbar bleiben wollen, sein wollen, unverwundbar, dann werden Sie sich nie auf eine tiefe Beziehung einlassen.
Polizist Dirk Breitenbach fand erst durch eine längere Krankheit zurück zu seinen Gefühlen. Irgendwann begann er zu schreiben. Über seine Einsätze, seinen Berufsalltag, sein Leben.
O-Ton 33 Breitenbach (0‘23“):
Also die Geschichten sind so aus mir rausgelaufen, dass ich mit dem Schreiben nicht nachgekommen bin. Worüber ich sehr erstaunt war, waren einfach diese vielen Gefühle, tatsächlich diese Wut, die dann erlebbar war. Tatsächlich dieser Schrecken, tatsächlich diese Ohnmacht, die ich erlebte, weil ich ja eigentlich dachte, dass die so tief vergraben habe, dass die kein Problem sind, und darüber war ich sehr überrascht, dass da so viele Emotionen noch in mir dringesteckt haben, die sich tatsächlich ihren Weg gesucht haben.
Seitdem gehört Dirk Breitenbach zu den Polizei-Poeten. Das sind Polizisten, die keine Lust mehr haben auf das unnahbare Macker-Image. Sie setzen sich in ihren erlebten Geschichten mit ihrer Hilflosigkeit auseinander, ihrer Angst und ihrer Ohnmacht.
O-Ton 34 Dirk Breitenbach (0‘16“):
Am Anfang war’s erschreckend für mich, weil ich damit nicht gerechnet habe. Ich dachte, das passiert nicht. Und dann war’s wahnsinnig wohltuend. Es war unheimlich befreiend, sich das selber einzugestehen und hat mir eigentlich gezeigt, dass ich noch ganz normal funktioniere und nicht abgestumpft bin.