Vorsicht: dieser Text handelt von Sex und Gewalt! Literarische Produkte werden heute gern mit Triggerwarnungen versehen, um LeserInnen vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Besteht etwa die Gefahr, dass das Publikum entmündigt wird? Von Justina Schreiber
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Thomas Birnstiel
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Melanie Möller, Altphilologin und Literaturwissenschaftlerin an der FU Berlin,
Dr. Andrea Müller, Programmleiterin Populäre Belletristik, SF, Fantasy & everlove beim Piper Verlag
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“
Hier trifft Paula Lochte immer zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und sie sprechen offen und ehrlich über ein Thema, das sie verbindet. Was waren die Kämpfe damals, was sind sie heute? „Ein Zimmer für uns allein“ findet ihr in der ARD-Audiothek und überall, wo’s Podcasts gibt – oder gleich HIER
Melanie Möller: Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift. Galiani, Berlin 2024. 240 Seiten, 24 Euro. Ein äußerst kritisches, auch umstrittenes Buch, das Argumente versammelt gegen – wie Möller findet – „übervorsichtige“, aber politisch korrekte Maßnahmen von Verlagen und AutorInnen.
Johannes Franzen: Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 432 Seiten, 26 Euro. Das gut zu lesende Buch regt dazu an über die Frage nachzudenken, warum wir uns über Kunst so sehr aufregen können, warum es z. B. Literaturskandale gibt oder vernichtende Urteile über Bücher gefällt werden….
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Wieviel nahrhafte Substanzen gibt es, die im Rohzustand unbekömmlich sind! Wie viele Erlebnisse, von denen zu lesen ratsam ist, nicht: sie zu haben.
Der Philosoph Walter Benjamin verglich die Kunst des Romanschreibens mit der Kunst des Kochens. Die Muse des Romans sei wohl eine Küchenfee, meinte er.
Sie erhebt die Welt aus dem Rohzustande, (…) um ihr ihren Geschmack abzugewinnen.
Das unverarbeitete Leben wäre sonst unerträglich.
"Rays of Hope (Extended Version)" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage- Länge: 0'35
Wie gut, dass es Romane gibt! Köstliche und weniger köstliche, mal schwerer, mal leicht verdauliche Werke. Wem welche Lektüre mundet oder auf den Magen schlägt, lässt sich kaum pauschal sagen. Die Geschmäcker sind eben verschieden. Gar nicht so leicht also, ein Rezept für eine Zubereitung zu finden, die dann möglichst vielen schmeckt. Die Programmleiterin Andrea Müller ist beim Piper Verlag für populäre Belletristik zuständig.
O-TON 01: (Andrea Müller)
„Unsere Kernfrage, wenn wir ein Buch kaufen, ist zum Beispiel: berührt uns das Buch emotional. Aber wir suchen natürlich eher einen positiven Impuls. Das kann unterschiedlich sein. Das kann sein: Ich will eintauchen in eine fremde Welt, in eine fantastische Welt, in eine historische Welt. Ich will mich flüchten in eine schöne, warme Gegenwelt zur harten Realität, also das Eskapismus-Element. Es kann aber auch sein, ich will bestimmte Fantasien im Safe Space ausleben. Das ist auch beim Thriller so. Spannung ist ja toll. Also, ich folge schon Serienkillerthrillern mit atemloser Spannung. Erleben würde ich es jetzt nicht unbedingt wollen.“
"Elisa's Theme" - Album: The Shape of Water (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'50
Seit ein paar Jahren macht ein neues, aus Amerika stammendes Genre auf dem Buchmarkt Furore. Millionen jüngere Leserinnen verschlingen eine Romance - eine moderne Liebesgeschichte - nach der anderen. Ohne das Geld, das sie in die Kassen der Verlage spülen, ließen sich Nischenprodukte wie Gedichtbände oder andere literarische Feinkost heute kaum finanzieren. Mit der neuen Leserschicht, die New Adult, also „gerade erwachsen“ genannt wird, gewinnt auch der Zeitgeist der Achtsamkeit im Verlagswesen an Bedeutung. Die New Adults der Generation Z möchten nämlich bitte vor eventuell triggernden, verstörenden Roman-Elementen gewarnt werden. Wie vor dem Gluten oder der Lactose in einem Gericht. Nach dem Motto: Vorsicht, ungesund!
O-TON 02: (Andrea Müller)
„Für uns war das erst ungewohnt. Aber diese Wünsche kamen immer häufiger. Wir haben es auch häufiger gesehen im Umgang, also diese Zielgruppe für New Adult und Romance ist ja auch sehr outspoken. Die teilen sich im Internet in den Social Media mit, die sagen auch, was ihre Wünsche sind. Und wir sehen natürlich, wie die das kommentieren, da, wo es fehlt und da, wo es gemacht wird und haben das für uns adaptiert.“
Ein mieser Kommentar auf Tiktok oder Instagram, und der Umsatz rauscht vielleicht in den Keller! Also kommt eben, wenn nötig, eine Triggerwarnung ins Buch! Die Romance-Reihe des Piper Verlags heißt „everlove“. Andrea Müller greift zu dem Titel „Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift“ einer Autorin namens Darling Venom und liest den entsprechenden Hinweis vor:
O-TON 03: (Andrea Müller)
„Enthält Elemente, die triggern können. Deshalb findet ihr auf Seite 619 eine Triggerwarnung. Achtung, diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte. Wir wünschen euch allen das bestmögliche Leseerlebnis.“
Die genaue Aufschlüsselung der problematischen Motive steht auf den letzten Seiten der Romane, um nicht gleich zu viel zu verraten beziehungsweise zu spoilern, wie es heute heißt.
O-TON 04: (Andrea Müller)
„Das soll die Bedürfnisse von allen Seiten abdecken, die, die auf keinen Fall den Spannungsfaden verlieren wollen und die, die gewarnt werden möchten, vor potenziell triggernden Inhalten.“
"She's Good / Get off the Boat" - Album: Inventing Anna (Music from the Netflix Series) - Komponisten und Ausführende: Kris Bowers & Pierre Charles - Länge: 0'40
Können Bücher wirklich gefährlich werden? Es ist eine alte Frage, die immer wieder neu gestellt wird: Sollte man bestimmte Inhalte, wenn schon nicht verbieten, so doch besser etwas abmildern? Müssen Leser und Leserinnen, vor allem jüngere, tatsächlich vor dem Konsum riskanter fiktiver Inhalte genauso geschützt werden wie vor realen Giften, wie vor Nikotin, Haschisch oder Alkohol? Bücher unterliegen seit alters her mal mehr, mal weniger strengen staatlichen Kontrollen, sagt die Altphilologin Melanie Möller. Meist sei es aber darum gegangen:
O-TON 05: (Melanie Möller)
„Dass einfach unliebsame Botschaften oder Verhaltensweisen in Literatur propagiert würden, die irgendwelchen Institutionen oder Machthabern nicht passen. Aber ob jetzt einzelne daran irgendwie seelischen Schaden nehmen könnten, das hat im Laufe der Geschichte sicher nicht so sehr interessiert. Man kann allerdings sagen: ganz früher gab es das auch schon mal zu Platons Zeiten oder so, dass man dachte, wenn die Leute so etwas konsumieren, dann werden sie vielleicht auch moralisch verwerfliche Menschen. Und Sokrates und andere bekannte Philosophen der griechischen Zeit, auch dann bei den Römern vergleichbare Fälle, wurden dann gerne auch dafür vor Gericht gebracht, dass sie irgendwie die Jugend verderben oder so was.“
Bücher können also in erster Linie für ihre Verfasser und Verfasserinnen gefährlich werden. Der Paragraph 184 des deutschen Strafgesetzbuches verbietet die Verbreitung pornographischer Schriften an Minderjährige. Ansonsten ist der Spielraum der Verlage in Deutschland heute groß. Es muss sich halt rechnen. Triggerwarnungen hält die Altphilologin Melanie Möller für ein überflüssiges Marketinginstrument:
O-TON 06: (Melanie Möller)
„Wie zum Beispiel bei Filmen, wo ja dann vor allem und jedem gewarnt wird: Hunden, Sex, Drogen, Alkohol, hat sich das ja ad absurdum geführt. Aber ich denke, das Verbotene oder irgendwie als verboten, na ja, nicht verboten, aber als besonders oder pervers im Wortsinne gegen die Norm Verstoßende, das reizt ja auch.“
Melanie Möller hat 2024 eine Streitschrift mit dem Titel „Der entmündigte Leser“ veröffentlicht. Sie kämpft für die Freiheit der Literatur. Es ärgert die Professorin der Freien Universität Berlin, wenn Texte in vorauseilendem Gehorsam an die „Befindlichkeiten“ einer – wie sie sagt – „zartbesaiteten“ Leserschaft angepasst werden. Wenn etwa aus Klassikern wie Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ das N-Wort gestrichen wird. Niemand soll verstört oder verletzt werden, heißt es. Aber was ist mit Homers „Ilias“, in der wahre Gewaltorgien stattfinden oder mit Ovids weltberühmten Gedicht „Die Metamorphosen“, in dem Frauen übergriffig „angetatscht“ werden, wie es die Altphilologin formuliert? Wo soll man mit dem Säubern, Verbieten und Abmildern anfangen, wo aufhören?
O-TON 07: (Melanie Möller)
„Grundsätzlich bieten ja fast alle Texte, also wenn man sehr sensibel ist, fast alle Texte so ein Potenzial, und ich finde, man kann das eben wirklich auch sehr weit treiben.“
"Other Dreamers" - Komponisten und Ausführende: Ben Salisbury & Geoff Barrow - Album: Black Mirror: Men Against Fire - Länge: 0'48
Im Fall von Darling Venoms Romance „Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift“ summieren sich die psychischen Probleme. Nur so viel zum Plot: Zentrale Szenen zwischen Charlotte und Kellan spielen auf dem Dach ihrer High School. Zwei labile Jugendliche nachts an solch einem Ort! Da ist schon Vorsicht geboten, meint Andrea Müller, die Programmleiterin der Piper-Reihe „everlove“. Sie schlägt jetzt die Seite 619 auf.
O-TON 08: (Andrea Müller)
“Ihre Liebe ist sein Liebelingsgift“ enthält potenziell triggernde Inhalte. Diese sind Alkoholmissbrauch, Arztbesuche, Drogenmissbrauch, Mobbing, Selbstverletzung, Suizid, Suizidversuch, Trauer, Unfruchtbarkeit, Unfälle, Verlust der Eltern, Verlust von Kindern.
Schon krass. Aber warum klappen allzu sehr Betroffene das Buch nicht einfach zu? Offenbar ist es gar nicht so leicht, eine Romance beiseitezulegen und nicht mehr weiterzulesen. Sollte man vielleicht besser – wie schon im 18. und 19. Jahrhundert - vor der gefährlichen Roman-Lesesucht warnen? Nein, Spaß beiseite.
O-TON 09: (Andrea Müller)
„Bitte lest dieses Buch nur, falls ihr euch momentan dazu in der Lage fühlt. Falls es euch mit diesen genannten oder auch anderen Themen nicht gut geht, findet ihr unter der Nummer der Telefonseelsorge rund um die Uhr kostenlose und anonyme Hilfe. Und darunter steht dann die Telefonnummer und auch die Website der Telefonseelsorge.“
Zeitungen oder Sachtexte halten es heute ähnlich. Über Suizide wird nur in Ausnahmefällen berichtet. Artikel, die Gewalt, Missbrauch oder ähnlich problematische Inhalte thematisieren, verweisen oft auf Hilfsangebote.
"Victor Hugo and Balzac" - Album: Rodin (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführende: Philippe Sarde - Länge: 0'42
Wie groß gerade bei Suiziden die Nachahmungsgefahr ist, lehrt bereits die Rezeptionsgeschichte von Goethes Bestseller „Die Leiden des jungen Werther“. Ein Dutzend Todesfälle soll die Lektüre dieses erfolgreichen Sturm- und Drang-Romans damals ausgelöst haben. - Unter den Toten war auch eine Bekannte des Autors, eine 17-jährige Weimarer Hofdame, die sich 1778 aus Liebeskummer in der Ilm ertränkte. Von der Ermutigung, die Goethe vorsorglich der zweiten Auflage seines lebensmüden „jungen Werther“ beigefügt hatte…
Sei ein Mann und folge mir nicht nach!
… fühlte sich die junge Frau offenkundig nicht angesprochen.
O-TON 10: (Andrea Müller)
„Das ist ja von der persönlichen Wahrnehmung abhängig, wie gefährlich findet man Texte oder wie stark triggernd findet man die. Das hängt sicher davon ab, wieviel Leseerfahrungen haben Sie tatsächlich gemacht und wie stark empfinden Sie mit mit dem, was Sie im Buch lesen. Also ich bin ein professioneller Leser…“
Sagt Andrea Müller vom Piper Verlag.
O-TON 11: (Andrea Müller)
„Das heißt, weitgehend abgehärtet. Man hat halt schon sehr viel gelesen, und das erzeugt einen ganz anderen Resonanzboden.“
Wer seit Jahren viel liest, tut sich leichter, einen Roman vor der Lektüre – auch ohne Triggerwarnung - einzuordnen. Hinweise gibt es einige: Der Name des Verlags oder der Reihe, zum Beispiel eben „everlove“, die allerdings oft maßlos übertriebenen Klappentexte, die Farben des Buchcovers, rosa oder nüchtern-weiß vielleicht, der Name des Autors, der Autorin, eine oder keine Besprechung im Feuilleton… Und seit ein paar Jahren gibt es da auch noch die Empfehlungen der Influencerinnen auf Tiktok oder Instagram.
O-TON 12: (Andrea Müller)
„Wenn man sich TikTok-Videos anguckt von Leserinnen von Romance, dann gibt es welche von sehr, sehr emotionalen Büchern, wo die tränenüberströmt von ihrem Lektüreerleben berichten. Und das ist schon fast ein Qualitätssiegel, dass ein Buch eine so starke emotionale Reaktion erzeugen kann.“
Kritische Distanz spielt beim Lesen einer Romance eher keine Rolle. Deshalb erscheint es wohl auch so riskant, sich ungeschützt auf eine emotionale Achterbahnfahrt einzulassen. Aber selbst wenn die Leselust intellektuell anspruchsvoller bedient werden soll: Niemand kauft gern die Katze im Sack, bestätigt die Altphilologin Melanie Möller.
O-TON 13: (Melanie Möller)
„Es gab ja immer schon Inhaltsangaben auf Büchern, zumindest seit die Buchproduktion das zulässt, da findet man ja auch manchmal gewisse Zuspitzungen, die jetzt nicht explizit als Warnung daherkommen, aber vielleicht so ein bisschen in die Richtung gehen.“
Oder die Autoren und Autorinnen wählen einen anderen Weg, um vorab auf problematische oder kritische Inhalte hinzuweisen. Charles Baudelaire zum Beispiel, dessen Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ 1857 wegen obszöner Passagen per Gerichtsbeschluss zusammengestrichen wurde, fügte weiteren Buch-Auflagen eine Art ironische Triggerwarnung in Gedichtform bei:
Leser friedlich und ländlich
Brav und voll nüchternheit ·
Wirf dieses buch beiseit:
Trübselig ist es und schändlich.
O-TON 14: (Melanie Möller)
„Das knüpft an diese auch antike Tradition an, dass man sich im Vorwort zum Ausnahmecharakter der eigenen Werke bekennt und damit wirklich kokettiert, um sich auch vom Mainstream oder von gesellschaftlichen Erwartungen abzusetzen, indem man auf sie reagiert und sie unterläuft, indem man also in der Kunst dann schon diese Warnungen irgendwie einarbeitet oder einfließen lässt.“
"Eternity And A Day - 2. By The Sea" - Komponistin: Eleni Karaindrou
- Album: Eternity And A Day - Länge: 1'08
Das Thema Liebe und Sex, überhaupt das zwischenmenschliche Beziehungsleben, ist ein besonders schwieriges, umstrittenes Gebiet. Gustave Flaubert landete mit seinem Ehebruchsroman „Madame Bovary“ ebenfalls 1857 vor Gericht. Sein Roman verstörte die bürgerliche Gesellschaft, weil er so ungewohnt realistisch wirkte. Flauberts Titelfigur, die unzufriedene Apothekersgattin Emma Bovary, liest ganz andere, weniger verstörende, nämlich beschönigende Liebesromane. Aber diese Lektüre bringt sie eben erst auf den Gedanken, nach der wahren Liebe außerhalb des eigenen Heims zu suchen. Flaubert legt Emma Bovary die Frage in den Kopf:
Wo eigentlich in der Wirklichkeit all das Schöne sei, das in den Romanen mit den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch so verlockend geschildert wird.
O-TON 15: (Andrea Müller)
„In der Romance, im Kern steht immer ein Liebespaar und eine zentrale Liebesgeschichte. Und es geht um diese Emotionen, dieses Mitfiebern, kommen sie zusammen. Natürlich ist es eigentlich klar, weil fast alle diese Bücher mit dem Happy End ausgehen. Aber es geht wirklich um dieses ganz starke Identifikationsmoment mit dieser dann meistens weiblichen Hauptfigur: Kann ich deren Gefühlsleben nachempfinden? Versteht man die Anziehung, die zwischen diesen beiden Figuren aufkommt? Und versteht man, wie sich diese Beziehung entwickelt, was treibt diese Beziehung an? Was hindert sie, dass sie nicht auf Seite zwei schon glücklich endet? Das ist das, was die Leserinnen suchen:“
Erfüllung! Eine Romance soll ihre Leserinnen auf keinen Fall runterziehen, sagt Andrea Müller vom Piper Verlag. Die Triggerwarnungen warnen sie vor kontraproduktiven Gefühlen, die sich einstellen könnten, falls jemand – wie die Protagonistin - von Magersucht oder Mobbing betroffen ist. Als weitere Reiz-Themen gelten: Ehebruch, Scheidung, Vandalismus oder Bodyshaming, also abwertende Äußerungen über das Aussehen einer Person. Hier möchten die modernen Leserinnen bewusst zunächst eine Grenze ziehen.
O-TON 16: (Andrea Müller)
„Die New-Adult und Romance-Zielgruppe, die haben ein sehr starkes Empfinden für Selfcare, Mental Health, das sind Themen, die denen wichtig sind. Und die möchten, bevor sie sich mit so einem Inhalt konfrontieren, gerne wissen, dass er da auf sie zukommt, um selbst zu entscheiden, ob sie sich damit konfrontieren wollen oder nicht.“
Die „New Adults“, meist Frauen zwischen 17 und 25 Jahren, bilden eine sanfte Opposition zu den mächtigen weißen Männern, die Jahrhunderte lang von oben herab den abendländischen Kanon diktierten, ohne Rücksicht auf Verluste und wahrlich nicht inklusiv. Frauen hatten es lange Zeit schwer, öffentlich zu Wort zu kommen. Und sie hatten es schwer, an gehaltvolle literarische Kost zu kommen, siehe Emma Bovary. Ob Verleger, Kritiker, Richter oder Kirchenmänner: sie bestimmten, welche Texte gedruckt und von wem was gelesen oder geschrieben wurde. Die neue Leserinnen-Gruppe legt Wert darauf, dass der literarische Betrieb auf demokratische Prinzipien setzt, auf Zustimmung und Übereinstimmung, „consent“ genannt.
O-TON 17: (Andrea Müller)
„Deshalb befürworten selbst Leserinnen, die selbst gar keine Probleme mit diesen triggernden Inhalten haben, dass wir Triggerwarnungen reinschreiben, weil sie sagen: warum nicht den kleinen, minimalen Mehraufwand, das da reinzuschreiben in Kauf nehmen, um Teile der Zielgruppe, die Probleme haben mit diesen Inhalten, zu schützen. Das ist eine wirklich sehr angenehme Zielgruppe, die versucht, diesen Community-Gedanken auch zu leben, in unterschiedlichster Form. Also lesen, was bis dato mehr so als privates Vergnügen galt, wird jetzt zu einem öffentlich zelebrierten, aber auch vernetzenden verbindenden Hobby.“
Die distanzierte klassische Wasserglaslesung ist out. Jüngere Leserinnen und Leser treffen heute mit ihren Autorinnen und Lektoren ganz locker zusammen, auf Buchmessen oder bei speziellen events wie Booklove-Festivals. Beim Speeddating mit Romance-Verfasserinnen halten sie sich korrekt an ihre fünf Minuten, um andere Fans nicht warten zu lassen. Rücksichtnahme ist ein hoher Wert für diese neue, kaufkräftige Leserschaft. Doch was, wenn deren Prämisse, Worte und Handlungen zu meiden, die bestimmte Gruppen beleidigen oder verletzen könnten, kurz: wenn Political Correctness zum Maß aller Dinge in Teilen der Buchbranche wird? Von Triggerwarnungen mal abgesehen: Die Altphilologin Melanie Möller findet den Trend, jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen, problematisch:
O-TON 18: (Melanie Möller)
„Da sehe ich schon eine Gefährdung der Kunstfreiheit, weil die Leute einfach sich da teilweise zumindest sehr, sehr viele Gedanken machen, wen was irgendwie eventuell verstören könnte oder irritieren könnte und ich finde nicht, dass das so sein sollte. Wenn sich jemand dafür entscheidet, sich einem krassen Thema zu widmen, dann soll er es durchziehen, oder er soll es eben lassen. Also man wird ja meistens auch nicht gezwungen, einen Text zu schreiben, der irgendwelche Grenzen überschreitet. Also wenn man wirklich jemanden schützen möchte, weil man ihn nicht dafür in der Lage hält, das auszuhalten, dann soll man es jetzt vielleicht gar nicht erst produzieren.“
"Rays of Hope (Extended Version)" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'44
Es ist zwar beides Obst, aber im Grunde lassen sich Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Früher wertete man Liebesromane im Stile von Darling Venoms Romance „Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift“ als Trivialliteratur ab. Während Goethe, Schiller, Böll, Walser, Frisch, Handke und Co selbstverständlich „hohe“ Literatur erschaffen haben. Diese Bewertung beziehungsweise Abwertung ist nicht mehr zeitgemäß. Es gibt eben unterschiedliche literarische Stil- und Zielrichtungen, erklärt die Programmleiterin für populäre Belletristik beim Piper Verlag.
O-TON 19: (Andrea Müller)
„Unterhaltungsliteratur fordert Leser nicht heraus, sich jetzt irgendwelchen unangenehmen Wahrheiten zu stellen. Die Grenze, wo dann doch irgendwie ein Denkimpuls gegeben wird, ist natürlich fließend. Aber es ist nicht zwingend das Ziel, ganz neue Sichtweisen auf was zu eröffnen, sondern man sucht schon das Bekannte, das, wo man sich wohlfühlt und auf das man sich einlassen kann gefahrlos.“
Es gilt die Maxime: „Wasch mir den Pelz, doch mach mich nicht nass!“ Franz Kafka dagegen, der Erfinder anstrengender kafkaesker Fiktionen, verlangte, dass ein Buch die Axt sein muss für das gefrorene Meer in uns. Das klingt nach übler Selbstverletzung. Wohl bekomm‘s! Aber hier steckt die Theorie dahinter, dass aufwühlende Lektüren therapeutisch wirken können, dass sich real Erlebtes oder eine innere Erstarrung durch Gefühle aus zweiter Hand bearbeiten lässt. Schon der antike Philosoph Aristoteles propagierte in seiner „Poetik“ den läuternden Effekt eines Theaterbesuchs.
O-TON 20: (Melanie Möller)
„Sei es Katharsis, wirklich Reinigung von negativen Affekten, wie es ursprünglich aus dem Drama kommt, wenn man besonders grausame Dinge sich anschaut auf der Bühne oder so, sei es eben auf andere Art und Weise, dass man sich irgendwie identifiziert. Gefühle sind schon sehr wichtig bei der Lektüre oder überhaupt bei der Auseinandersetzung mit Kunst. Aber man sollte ihnen schon auch freien Lauf lassen.“
Und zwar allen Gefühlen, meint die Altphilologin Melanie Möller. Nicht nur den Tränen der Rührung und Erschütterung. Wozu gibt es Thriller, Krimis und Horrorfilme? Heute besteht ja ein wahrer Überfluss an fiktionalen Angeboten. Die Sehnsucht des Menschen scheint unstillbar groß, dem realen Elend zumindest manchmal zu entkommen. Es spricht für das altmodische Buch, dass es sich in dieser medial überformten, zersplitterten Welt so wacker hält. Besonders die sorgsam abgeschmeckte moderne Romance scheint es als „safe space“ zu schaffen:
O-TON 21: (Andrea Müller)
„Dass man sich in einem Buch völlig verliert, dass man nach stundenlanger Lektüre wieder auftaucht und ist immer noch total gefesselt von dem, was man gerade vor seinem inneren Auge gesehen hat und woran man teilhaben durfte als Teil der Geschichte.“
"Juju" - Komponist und Ausführender: John Zorn - Album: Film Works XVI - Länge: 0'35
Und das dauert definitiv länger als eine Fast-Food-Mahlzeit. So viel auch zur angeblich sinkenden Aufmerksamkeitsspanne jüngerer Menschen. Wie nach einem langen Essen mit Freunden bleibt am Ende als Nachgeschmack ein wohlig-sattes Gefühl.
O-TON 22: (Andrea Müller)
„Weil man diese Achterbahnfahrt der Gefühle durchlaufen hat, die diese Helden auch durchlaufen haben und voll mit denen geht. Und am Schluss so eine emotionale Erschöpfung auch spürt.“