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Die Bewertungsgesellschaft - Heute schon gelobt, geliked, gedissed?


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Wir bewerten ständig, überall und alles. Menschen, Dinge, Taten, Umstände - ohne Sterne geht nichts mehr. Likes und Dislikes, Daumen rauf und Daumen runter steuern, was wir kaufen, wohin wir reisen, wen wir daten oder haten. Von Simon Demmelhuber

Credits
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Christiane Klenz 
Es sprachen: Katja Bürkle, Robert Dölle, Benjamin Stedler
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Prof. Dr. Oliver Berli, Professor für Soziologie, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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ZUM PODCAST

Literatur:

Berli, Oliver: Germany’s next top novel. Eine Soziologie literarischer Bewertung am Beispiel von Literaturpreisen. In: Magerski, Christine/Steuerwald, Christian (Hg.): Literatursoziologie. Zu ihrer Aktualität und ihren Möglichkeiten. Wiesbaden [Springer VS], 2023, S. 107-128. 

Berli, Oliver/Nicolae, Stefan/Schäfer, Hilmar (Hg.): Bewertungskulturen. Wiesbaden [Springer VS], 2021

Jonathan Kropf/Stefen Laser (Hg.): Digitale Bewertungspraktiken. Für eine Bewertungssoziologie des Digitalen. Wiesbaden [Springer VS], 2019

Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin [Suhrkamp Verlag], 2017

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ZITATOR:

1A-Ware, prima verpackt, netter Kontakt. Alles Topp! 5 Sterne!

ERZÄHLERIN:

Toller Film. Besser als der übliche Mist. Drei Herzchen!

SPRECHER:

Der faulste Prof ever! Macht alle fertig, erträgt selbst null Kritik. Fünf Daumen runter!

ZITATOR:

Bester Inder der Stadt! Klasse Service, Spitzen-Ambiente. 5 Sterne!

SPRECHER:

Zimmer versifft, Baulärm rund um die Uhr. Urlaub in der Hölle. Null Sterne!

ERZÄHLERIN:

Klasse Rezept. Super lecker, super einfach. Drei Daumen rauf!

ATMO: SOCIAL MEDIA SOUND

ZITATOR:

Ihre Lieferung wurde zugestellt. Bitte bewerten Sie uns auf Google!

SPRECHER:

Dinge, Waren, Menschen, Erlebnisse - wir taxieren jede, jeden, alles in Dauerschleife und Echtzeit.

MUSIK 2 ( Ela Minus – Arbrir Monte 0’18)

ERZÄHLERIN:

Schüler checken Lehrer, Chefs evaluieren Mitarbeiter, Paarungswillige mustern Dating-Matches. Like und Daumen rauf empfehlen den idealen Studienplatz, den einfühlsamsten Arzt, den geilsten Milchaufschäumer. Was nicht gefällt, mähen Verrisse nieder.

ZITATOR:

Dislike! Daumen runter! Krasses Wutgesicht!

MUSIK 3 ( Ela Minus – Arbrir Monte 0’32)

SPRECHER:

Herzen und Sterne sortieren den Alltag, ohne Noten, Scores und Ratings geht scheinbar nichts mehr. Leitartikler und Zeitzeichendeuter attestieren uns daher längst einen galoppierenden Bewertungswahn, Soziologen und Kulturwissenschaftler wähnen uns auf dem Weg in die Bewertungsgesellschaft.

ZITATOR:

„Die These lautet dabei, dass Bewertungen nicht nur in nahezu jedem Winkel der Gesellschaft anzutreffen sind, sondern sich in der jüngsten Vergangenheit auch immer weiter ausbreiten, intensivieren und transformieren.“

ATMO: SOCIAL MEDIA-SOUND

SPRECHER:

Dass Bewertungsphänomene zulegen, bestätigt auch Oliver Berli, Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Von einer vorschnellen Etikettierung rät er dennoch ab:

01 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass wir in einer Bewertungsgesellschaft leben. Ich würde aber sagen, dass wir zunehmend in Situationen kommen, in denen Bewertungen relevant gemacht werden. Das kann eben sein, dass man aufgefordert wird, die Erfahrung beim Reifenwechsel zu bewerten, oder dass man sich durch Flughäfen, Bahnhöfe bewegt und überall aufgefordert wird, Dienstleistungen, Einkäufe zu bewerten. Diese quantitative Zunahme lässt sich in der Tat beobachten.

MUSIK 4 ( Blackfish – Deep Village 0‘35)

ERZÄHLERIN:

Die Hinweise verdichten sich in allen Lebensbereichen, vor allem jedoch im Handel- und Dienstleistungssektor. Kein Online-Kauf, kein Friseurbesuch, kein Reifenwechsel ohne anschließende Sternchenbettelei. Doch auch in den Sozialen Medien wird geliked und gedisst, was das Zeug hält.

SPRECHER:

Aber warum? Wieso sind plötzlich alle versessen auf Likes und Reviews? Ist das wieder so ein nerdiges Internetding, mit dem die Netzkultur den Alltag flutet? Ganz sicher nicht, sagt Oliver Berli:

02 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Bewerten würde ich sehen als eine ganz basale menschliche Tätigkeit, genauso wie klassifizieren, vergleichen und quantifizieren. Das sind grundlegende Techniken des Ordnens von Realität. Und natürlich gibt es dann Konjunkturen in einzelnen Teilen der Gesellschaft, dass Rankings an Popularität gewinnen und auch in andere Bereiche der Gesellschaft herüberschwappen. Aber grundsätzlich sind das ja etablierte Ordnungsformen wie das Erstellen von einer Liste.

SPRECHER:

Was auf den ersten Blick aussieht wie ein trendiges Online-Phänomen, gehört schon immer zu unserer biologischen, sozialen und kulturellen Grundausstattung.

ERZÄHLERIN:

Unser Gehirn ist eine hochkomplexe Bewertungsmaschine, die unablässig Wahrnehmungen, Personen, Ereignisse analysiert und einstuft.

MUSIK 4a ( Ela Minus – Arbrir Monte 0’32)

ZITATOR:

Was raschelt im Gebüsch? Der Wind? Ein Raubtier? Droht Gefahr oder winkt Gewinn?

MUSIK 5 ( Konstantin Gropper – Excercises 1’05)

ERZÄHLERIN:

Die Fähigkeit, zwischen Freund oder Feind, nützlich oder schädlich zu unterscheiden, war in Savanne und Dschungel ein Überlebensvorteil. Und sie bewährt sich noch heute im Job, an der Börse, im privaten und öffentlichen Miteinander. Bewerten war und ist eine grundlegende Strategie der Daseinsbewältigung, die unser gesamtes Verhalten prägt: Wir bewerten Sachen, Situationen und Chancen, wir mustern Menschen und weisen ihnen dadurch ihren Platz im Leben zu:

SPRECHER:

Wer darf studieren? Wer macht Karriere? Wer hat Klasse, wer ist Masse? Bewertungen organisieren soziale Ordnungen. Sie bestimmen, wer im Kindergarten, in der Schule, im Beruf, beim Liebesreigen in einer Hauptrolle oder als Komparse mitspielt. Anders gesagt: Sobald es nötig ist, die Verteilung knapper Ressourcen, einen Status oder Rang zu begründen, führt an Wertzuschreibungen kein Weg vorbei.

03 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Bewertung wird in all den Bereichen interessant, wo Orientierung notwendig ist. Ein Beispiel wäre eben die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Bewerbungen, um eine Stelle mit einer bestmöglichen Person zu besetzen.

ZITATOR:

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.

SPRECHER:

Orientierung finden, Konflikte lösen, Entschlüsse fassen, die Wirklichkeit ordnen und gestalten – all das setzt unbewusste oder bewusste Bewertungsprozesse voraus. Einfacher wird das unverzichtbare Evaluieren, wenn wir auf vorhandene Einschätzungen und Erfahrungen zurückgreifen. Ranglisten und Werturteile beschleunigen die Urteilsfindung, weil sie die Informationsmenge reduzieren und Gehirnressourcen schonen. Deshalb vertrauen wir bei weitreichenden Entscheidungen, größeren Anschaffungen und selbst eher trivialen Vorhaben, wie der Wahl einer neuen Lektüre, auf Rankings und Rezensionen. So wie Oliver Berli:

04 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Ich lese gerne Romane. Es erscheint nur wahnsinnig viel auf dem deutschen Buchmarkt jedes Jahr. Wie orientiere ich mich in der großen Masse von Büchern, die ich lesen könnte? Was lese ich als nächstes? Ich könnte eine Rezension lesen. Ich könnte schauen, was gut verkauft wird. Ich könnte in der Buchhandlung meines Vertrauens nachfragen. Das sind alles gangbare Arten, diesem Entscheidungsproblem zu begegnen, ohne viel Zeit zu investieren.

MUSIK 6 ( Ziggy Has Ardeur – Me-Time 0‘38)

SPRECHER:

Bewertungen sorgen dafür, dass wir in komplexen Situationen besser zurechtkommen. Sie sortieren Sachen, Personen und Handlungen aber auch Gedanken und Haltungen nach Merkmalen, die wir als wertvoll oder wertlos einstufen. Und genau damit verwandeln sie ein ungeordnetes, potenziell bedrohliches Durcheinander in etwas, das uns geordnet, sinnvoll und beherrschbar erscheint.

ERZÄHLERIN:

Das Internet mit seinen vernetzten, direkten Kommunikationskanälen kommt diesem Bedürfnis entgegen. Zugespitzt formuliert, hat das World Wide Web eine gigantische Bewertungs- und Ratingmaschine geschaffen, die entscheidungsrelevante Informationen mit sozialem Austausch und Unterhaltung kombiniert. Für viele Menschen ist dieser äußerst psychoaktive Mix eine unverzichtbare Alltagsroutine geworden.

MUSIK 7 ( Lisa-Marie Puy – My Secret Language 0‘43)

SPRECHER:

Einfach so einen Film gucken, ein Buch lesen, eine Kaffeemaschine kaufen? Nie und nimmer! Nicht ohne Yelp, HolidayCheck, TripAdvisor, Trustpilot, Yameda und Co.

ERZÄHLERIN:

Dutzende spezialisierter Portale liefern Bewertungen für Unis, Reisen, Hotels, Restaurants, Ärzte, Handwerker und praktisch alle Branchen. Kein Online-Anbieter verzichtet auf wertende Kommentar- und Feedbackangebote. Egal, welches Produkt, welche Dienstleistung, welchen Rat wir suchen, das nächste Ranking, die nächste Empfehlung, der nächste Erfahrungsbericht ist nur einen Klick weit entfernt.

ATMO: MODEMEINWAHL 1990er JAHRE

ERZÄHLERIN:

Was heute selbstverständlich ist, beginnt Mitte der 1990er Jahre mit der Gründung erster Verkaufsplattformen im Internet. Dabei entstehen anonyme Marktplätze, die einen hohen Vertrauensvorschuss einfordern. Anbieter und Käufer kennen sich nicht persönlich, die Waren existieren nur als Bild und Beschreibung. In dieser virtuellen Umgebung schaffen ungeschminkte Kundenurteile, ehrliche Feedbacks und authentische Meinungen die beruhigende Illusion einer soliden Entscheidungsgrundlage. Das fühlt sich gut an, räumt Bedenken aus, steigert die Kaufbereitschaft und entpuppt sich rasch als wichtigster Absatzmotor im Online-Handel.

MUSIK 8 (Citokid – Focus On Money 0‘35)

SPRECHER:

Wie bedeutsam Bewertungen, Rankings und Produktzensuren inzwischen für die Branche sind, bestätigen Marktanalysen Jahr für Jahr erneut.

ZITATOR:

97 Prozent der Verbraucher geben an, dass Onlinerezensionen und Referenzen ihre Kaufentscheidungen massiv beeinflussen.

57 Prozent kaufen nur bei Unternehmen, die wenigstens vier Sterne haben.

39 Prozent haben kaum Vertrauen in Angebote oder Produkte ohne Bewertung.

ERZÄHLERIN:

Weil sich Kundenbewertungen als hochwirksame Verkaufshilfe und Wertschöpfungsfaktor herausstellen, siedelt sich schon bald ein professionelles Bewertungsgewerbe rund um Shops und Plattformen als expandierender Wirtschaftszweig an. Spezialisierte Dienstleister übernehmen auf Wunsch sämtliche Facetten des Bewertungsmanagements: Sie entwerfen Strategien zur Like-Beschaffung, entwickeln und betreiben Bewertungssysteme, lassen missliebige Kommentare löschen oder gehen juristisch gegen negative Urteile vor.

SPRECHER:

Falls alles nicht reicht und der Erfolg trotzdem ausbleibt, lässt sich der Sternensegen auch künstlich erzeugen: Spezialagenturen liefern gefälschte Rezensionen und Phantomkommentare, einige Bewertungsportale verhökern gezinktes Lob an alle, die Anzeigen schalten.

MUSIK 9 ( Martijn Konijnenburg – Money In My Head 0’22)

MUSIK 10 (Kevin Yost – These Lonely Winds 0’34)

ERZÄHLERIN:

Das klärt zumindest zwei Dinge: Erstens, warum uns Shops, Content-Anbieter und Influencer unentwegt um Likes anhauen und Kommentare schnorren. Zweitens, warum sich gekaufte Bewertungen, gefälschte Rezensionen und manipulierte Rankings häufen. Doch es erklärt noch immer nicht, warum wir dieses Spiel so gerne mitmachen und unseren Senf so bereitwillig abgeben.

SPRECHER:

Abgesehen vom Wunsch, auf gute Produkte hinzuweisen oder vor Fehlkäufen zu warnen, sehen Psychologen vier mächtige Treiber am Werk. Alles dreht sich um Anerkennung, Kompetenzerleben, Selbstbestätigung und Macht. Das Erlebnis, als gewiefter Kenner und gefragter Experte aufzutreten, schmeichelt dem Ego, verleiht Autorität, suggeriert Urteilsvermögen. Die eigene Meinung als kategorischer Imperativ – das tut gut, das will man öfter genießen. Und weil diese Online-Duftmarken viele Menschen erreichen, spendieren sie ihren Urhebern ein selbstwertstreichelndes Wohlgefühl. Einen weiteren Anreiz liefert die Vorstellung, durch Lob oder Tadel konkrete Macht über das Image eines Unternehmens auszuüben.

MUSIK 11 ( Konstantin Gropper – Excercises 1’05)

ERZÄHLERIN:

Wir benoten jedoch nicht nur Produkte. Wir bewerten auch – und das sogar besonders gern – uns selbst und andere. Genau davon leben Onlinedienste wie Facebook, Instagram, TikTok &Co. Laut Handbuch Soziale Medien unterbreiten diese Kanäle:

ZITATOR:

„Angebote auf Grundlage digital vernetzter Technologien, die es Menschen ermöglichen, Informationen aller Art zugänglich zu machen und davon ausgehend soziale Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen“.

SPRECHER:

Erfolgreich sind die einschlägigen Anbieter also deshalb, weil sie uns genau da packen, wo wir am Empfänglichsten sind, wo es menschlich ans Eingemachte geht: Wir sind soziale Wesen: Wir streben nach sozialer Anerkennung. Unsere Identität, was wir sind, wofür wir uns halten, hängt von der Anerkennung anderer ab. Wir sehen uns selbst so, wie wir glauben, dass andere uns sehen.

ZITATOR:

Bin ich schön? Bin ich gut? Bin ich wertvoll, liebenswert, witzig, klug?

ERZÄHLERIN:

Soziale Medien geben uns die Möglichkeit zur Selbstinszenierung. Wir posten Videos, Bilder, Statements, wir probieren, was ankommt, und hoffen auf Bestätigung durch positives Feedback in Form von Likes und Kommentaren. Je mehr wir punkten, je mehr Lob und Zustimmung wir einfahren, desto besser fühlen wir uns. Virtuelle Likes, das haben Studien immer wieder bestätigt, tun körperlich gut. Sie aktivieren das Belohnungszentrum des Gehirns und spülen, wie Sex, Essen oder Erfolg, einen berauschenden Glückscocktail durch den Körper.

MUSIK 12 (Lizzo – Truth Hurts 0’25)

SPRECHER:

Solange das Feedback stimmt, solange die Daumen nach oben zeigen, die Zahl der Freunde, Follower und Reposts passt, ist alles im grünen Bereich. Doch wehe, wenn die Selbstbestätigungszufuhr stockt. Die Erfahrung - oft schon allein die Befürchtung -, schlecht bewertet zu werden, schürt soziale Ängste. Die Stimmung schwankt, Selbstzweifel nagen, das Gedankenkarussell rast.

MUSIK 13 (Kieran Brunt – Boston Blue Period 0’37)

ZITATOR:

Warum hat das letzte Foto, die letzte Aktion keine Likes bekommen? Hat es niemand gesehen? Oder ist es blöd angekommen? Also warum schneiden mich plötzlich alle? Bin ich echt unten durch?

ERZÄHLERIN:

Womöglich noch fataler wirken sich abwertende Kommentare, direkte Beleidigungen und brutal provozierte Körperscham aus.

ZITATOR:

Mit dem Gesicht würde ich nur nachts rausgehen. 

Iss mal weniger, du Walross!

ERZÄHLERIN:

Solche Attacken prallen nicht spurlos an ihren Opfern ab. Wissenschaftler warnen seit Jahren vor den nachweislich schweren psychischen Folgen öffentlicher Demütigungen. Die permanente Bewertung durch andere, der andauernde Beprobungsstress, der Druck, im sozialen Vergleich mitzuhalten, steht zahlreichen Studien zufolge im direkten Zusammenhang mit Ängsten, Depressivität, Essstörungen, sozialem Rückzug bis hin zu Suizidgedanken.

MUSIK 14 (Lizzo – Everything Was So Much Simpler 0’14)

SPRECHER:

Scheinbar gibt es kein Entkommen, weder on- noch offline. Ratings, Rankings, Bewertungen, Zensuren bestimmen nicht nur unser privates oder öffentliches Leben. Sie lenken auch das Geschick ganzer Länder.

ERZÄHLERIN:

Stufen Rating-Agenturen die Bonität von Staaten zurück, kollabieren Börsen und wackeln Regierungen. Werden Wissenschaftler nicht oft genug zitiert oder publizieren sie zu wenig in hochbewerteten Fachzeitschriften, trudeln Karrieren. Wenn Unis auf den hinteren Plätzen im Hochschulranking landen, bleiben Fördergelder aus; ein einziger prominenter Verriss vernichtet ein Buch, einen Film, ein Theaterstück.

SPRECHER:

Das Prinzip Evaluation ist derart allgegenwärtig, dass selbst so vorsichtig wägende Forscher wie der Soziologe Oliver Berli viele Aspekte unseres Lebens als bewertungsgetrieben charakterisieren:

05 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Wenn wir uns das Bildungssystem anschauen und die Relevanz von Zeugnissen und Zertifikaten für Karrieren in bestimmten Feldern, wenn wir uns anschauen, welche Relevanz und auch welches Interesse Bewertungen teilweise in kulturellen Feldern auf sich ziehen und auch welchen Unterhaltungswert die haben, hat die Rede von der Bewertungsgesellschaft eine gewisse Plausibilität für viele Bereiche unserer Gesellschaft.

MUSIK 15 (Röyksopp – Slow Fade / R 0’39)

ERZÄHLERIN:

Mit diesem Befund steht eine Problematik im Raum, die für Oliver Berli sowie viele seiner Kolleginnen und Kollegen das zentrale Forschungsfeld absteckt:

06 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Wie funktioniert eigentlich bewerten? Wie werden solche Sachen verhandelt, wie werden Sachen kritisiert und gerechtfertigt?

SPRECHER:

Wie kommen Bewertungen zustande? Wer entscheidet darüber, was richtig und falsch, gut und schlecht, wertvoll und wertlos ist? Welche Prozesse stecken hinter Wertzuschreibungen, wer hat die Finger im Spiel und immer wieder: Cui bono – wem nützt es?

MUSIK 16 (Blumentopf + Texta - #HMLR 0’42)

ERZÄHLERIN:

Im Sport ist die Sache relativ klar: Wo Leistung messbar ist, sind Bewertungen und Rangfolgen auf Anhieb plausibel. Weite, Höhe, Geschwindigkeit, Tordifferenz, alles, was sich wiegen, zählen, berechnen lässt, erzeugt klare Ordnungen. Schwieriger wird es, wenn subjektives Ermessen den Ausschlag gibt. Etwa bei Wertungsnoten im Eiskunstlauf, beim Turmspringen, beim Reiten. Dasselbe gilt für Wissenschaften und Künste.

SPRECHER:

Was macht das beste Buch, die beste Sinfonie, den besten Film, den besten Kandidaten aus? War Dschingis Khan ein großer Herrscher oder ein blutsaufender Egomane? Und was ist ein guter Versicherungsmakler? Einer, der möglichst viele Abschlüsse tätigt ohne Rücksicht auf den Kundennutzen? Oder einer, der zum Wohl und Nutzen seiner Kunden handelt? Alles Ansichtssache, alles muss ständig neu erwogen, gewichtet und ausgehandelt werden.

ERZÄHLERIN:

Immaterielle, weder greifbare noch messbare Wertzuschreibungen sind soziale Konstrukte, die vom jeweils kulturellen und zeitlichen Kontext abhängen. Sie entstehen durch gesellschaftliche Vereinbarungen und antworten auf die Frage, welche Fähigkeiten und Ressourcen eine Gesellschaft aktuell oder perspektivisch am meisten benötigt.

MUSIK 17 ( Röyksopp – And so … 0’50)

SPRECHER:

Eine kriegerische Gesellschaft wird in ihren kulturellen Äußerungen und ihren hierarchischen Strukturen vor allem Eigenschaften wie Kampfkraft, Mut, Körperstärke hoch bewerten und den Zugang zu Status, Rang, Lebenserfolg über diese Merkmale regeln. Autokratische Gesellschaften legen andere Bewertungsmaßstäbe an als freiheitliche Systeme, und in nomadischen Kulturen rangieren gewiss andere Werte weiter oben als in technologiezentrierten Gesellschaften.

ERZÄHLERIN:

Für den Soziologen Oliver Berli macht genau diese zeit- und gesellschaftsgebundene Dynamik das Phänomen Bewerten und Bewertung zum spannenden Untersuchungsgegenstand:

07 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Bewertung klingt ja so, als wenn es immer das gleiche wäre. Ist es aber natürlich nicht, weil Bewertungsmaßstäbe sich historisch wandeln. Ein Beispiel wäre eben die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Bewerbungen, um eine Stelle mit einer bestmöglichen Person zu besetzen. Also besetze ich eine Stelle mit jemandem, der mir sozial nah ist? Oder besetze ich eine Stelle mit jemanden, der eine gute Leistung auf dieser Stelle verspricht? Die Relevanz von Leistungsnachweisen in Bewerbungsunterlagen verändert sich, worauf geschaut wird, wie sortiert wird, das ist alles in Bewegung.

SPRECHER:

Damit qualifizieren sich die historisch und räumlich geprägten Kulturen des Bewertens als brauchbare Indikatoren, um Entwicklungstendenzen für Bereiche unterschiedlichster Gesellschaften aufzuspüren.

08 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Das ist in den Wissenschaften so, das ist auch im Sport so. Wenn wir uns den Leistungssport anschauen und Diskussionen darüber, was ist zulässig, beispielsweise zur Leistungssteigerung und was nicht. Was ist eine faire Einteilung? Brauchen wir Leistungsklassen nach Alter, Geschlecht, Gewicht?

MUSIK 18 ( Blackfish – Deep Village 0‘35)

ERZÄHLERIN:

Weil die Inhalte und Praktiken des Bewertens nicht einfach nur gesellschaftliche Wirklichkeiten spiegeln, sondern diese Wirklichkeiten auch formen und steuern, weil diese Wirklichkeiten uns alle betreffen, weil sie zu Missbrauch und Manipulation einladen, müssen wir dafür sorgen, dass die Mechanismen sozialer, politischer, religiöser oder moralischer Wertzuschreibungen transparent bleiben. Wir müssen gemeinsam darüber wachen, wie Werte und Bewertungen zustande kommen, wie sie einzuordnen sind, was sie aus- und anrichten können.

SPRECHER:

Ein profundes Verständnis für die Bedeutung, die Prozesse, Praktiken und auch die Problematik des privaten und öffentlichen Bewertens ist der beste Schutz gegen Missbrauch und Manipulation. Vor allem Heranwachsende und Jugendliche sollten ihn möglichst früh erwerben.

09 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Im Kontext einer allgemeinen Medienbildung, könnte es durchaus Sinn machen, darüber zu sprechen, was einzelne Formen digitaler Bewertung, wie die funktionieren, wie die einzuordnen sind. Ob es da so einfach ist, eindeutige Empfehlungen abzugeben, da bin ich eher skeptisch. Aber ab einem gewissen Alter ein Bewusstsein dafür zu schaffen, kann mit Sicherheit nicht schaden!

SPRECHER:

Das muss dann auch gar nicht immer in Sozialkunde oder im Religions- und Medienunterricht passieren. Chancen für erhellende Aha-Momente öffnen sich beispielsweise auch im Fach Deutsch:

10 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:

Wir haben so viele Preise und Wettbewerbe im Feld der Literatur, gerade im deutschsprachigen Raum. Da würde jetzt niemand auf die Idee kommen, dass das erstmal negativ zu bewerten ist. Aber es ein interessanter Zugang, um sich die Frage zu stellen Hey, was passiert da eigentlich? Lasst uns da mal drüber reden. Warum gibt es auf einmal in manchen Bereichen von Gesellschaft so viele Preise oder Wettbewerbe?

MUSIK 19 (Lisa-Marie Puy – Breathing Under Water 0‘52)

SPRECHER:

Am Ende aber hat den entscheidenden Aspekt, wenn es um Werte und Wertungen geht, hat der römische Satiriker Juvenal bereits vor fast 2.000 Jahren so auf den Punkt gebracht:

ZITATOR:

Quis custodiet ipsos custodes? – Wer bewacht die Wächter, wer kontrolliert die Kontrolleure?

SPRECHER:

Auf die Mechanismen und Akteure des Bewertens übertragen heißt das: Vorsicht! Schaut den Werteschmieden und Wertewächtern genau auf die Finger!

ZITATOR (aus dem Lautsprecher): 

Herzlichen Glückwunsch! Sie sind angekommen. Wir haben das Ende unserer gemeinsamen Fahrt erreicht.

SPRECHER:

Und wenn Sie mit unserem Service zufrieden waren…

ERZÄHLERIN:

… na, Sie wissen schon: lassen Sie uns ein Like, einen Daumen, ein Herz und gern auch fünf Sterne da!


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