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Italiener oder Imbiss. Puccini oder Punkrock. Die Herkunft prägt den Geschmack ein Leben lang. Davon ist der Franzose Pierre Bourdieu überzeugt. Wer ist der Mann, der die Soziologie als Kampfsport bezeichnet? Autorin: Maike Brzoska (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Stefan Merki, Andreas Dirscherl
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
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SPRECHERIN
Eine Abendgesellschaft irgendwo in Frankreich. Zahlreiche Gäste sind geladen.
Sie nehmen Platz an einem großen Tisch. Gleich wird das Essen serviert. Schon
an wenigen Details kann man erkennen, wer hier diniert.
SPRECHER
Sitzen die Paare nebeneinander? Dann gehören die Gastgeber vermutlich der
unteren Schicht oder dem Kleinbürgertum an. Sitzen die Paare getrennt
voneinander, gehören sie zur Oberschicht, zur Bourgeoisie.
SPRECHERIN
Auch die Speiseordnung kann die soziale Herkunft verraten.
MUSIK 2
SPRECHER
Suppe, Kartoffeln, Fleisch – bei Angehörigen ärmerer Schichten kommen die
vollen Töpfe und Pfannen mit auf den Tisch. Aufgetragen wird reichlich und mit
großen Schöpfkellen. Die Reihenfolge der Speisen ist zwanglos, Zwänge gibt es
im Alltag schließlich schon genug. Deshalb räumt die Frau zwischendurch auch
ein paar Teller beiseite und holt schon mal die Torte, während andere noch essen.
MUSIK 3
SPRECHERIN
Bei den Wohlhabenden hingegen hält man sich zurück. Erst wenn ein Gang
vollständig abgeräumt ist – inklusive Salzstreuer –, wird das Dessert aufgetragen.
Gegessen wird erst, wenn alle einen Nachtisch haben. Sich nicht zurück zu halten,
wäre respektlos gegenüber den Gastgebern.
SPRECHER
Und wer sich immer noch nicht sicher ist, wer hier feiert, sollte auf Speisen und
Getränke selbst achten.
SPRECHERIN
Gemüse, Fisch, Wasser, Wein – auf den Tisch der Oberschicht kommen leichte
und exquisite Speisen. Schlank ist schließlich schick.
SPRECHER
Bei ärmeren Leuten hingegen gibt es kalorienreiches Essen: Fettes Fleisch,
salzige Beilagen, Bier, Limo, Schnaps. Gefragt ist hier, was satt macht. Ab Montag
wird wieder schwer geschuftet.
SPRECHERIN
Zurückhaltende Askese hier, zwanglose Völlerei dort. Diese Analyse der
Tischsitten stammt von dem Soziologen Pierre Bourdieu. Sein 1979 in Frankreich
erschienenes Buch La distinction, zu deutsch: Die feinen Unterschiede, machte
ihn über Nacht berühmt, auch außerhalb der wissenschaftlichen Welt. Bourdieu
zeigt darin, wie kulturelle Praktiken, ästhetische und kulinarische Vorlieben sich je
nach sozialer Herkunft unterscheiden.
MUSIK 4
SPRECHER
Wobei die Tischsitten nur ein kleines Detail sind aus der Fülle des empirischen
Materials, das er über Jahre hinweg gesammelt hat. Stunden habe er damit
zugebracht, Gesprächen zuzuhören, schreibt Bourdieu in seinem Buch Ein
soziologischer Selbstversuch.
SPRECHERIN
Gelauscht hat er in Cafés, beim Boule, beim Fußball, auf Postämtern. Aber auch
bei Abendgesellschaften, Cocktailpartys und auf Konzerten. Manchmal habe er
unter einem Vorwand ein Gespräch angefangen, nur um mehr über Herkunft und
Beruf seines Gegenübers zu erfahren.
01 O-TON (Schultheis)
Das ist das Besondere bei ihm, seine gesamte Theorie ist empirisch gewonnen.
SPRECHER
Der Soziologe Franz Schultheis. Er ist Professor an der Universität St. Gallen und
hat viele Jahre mit Bourdieu zusammengearbeitet.
SPRECHERIN
Bourdieus Beobachtungen stammen aus den 1960er und -70er Jahren. Deshalb
ist die Analyse des Festessens auch mit Vorsicht zu genießen. Denn ob es bei
französischen Abendgesellschaften auch heute noch so zugeht, oder ob die
Unterschiede inzwischen mehr Klischee als Realität sind – Bourdieu wäre wohl
der erste, der eine neuerliche Analyse anmahnen würde.
SPRECHER
Aber ganz allgemein lässt sich seine These in Die feinen Unterschiede so
zusammenfassen:
SPRECHERIN
Was ich esse, wie ich mich kleide, welche Musik ich höre, wie ich wohne, was ich
schön finde – all das zeigt, welcher sozialen Gruppe ich angehöre. Bourdieu nennt
das den Habitus eines Menschen. Er verbindet ihn mit Anderen, die einen
ähnlichen Bildungsgrad und eine ähnliche soziale Herkunft haben.
SPRECHER
Gleichzeitig ist das, was in einer sozialen Gruppe als guter oder schlechter
Geschmack gilt, nicht für alle Zeiten festgelegt. Was en vogue ist, resultiert aus
Klassenkonflikten, die immer wieder neu ausgetragen werden. Es ist ein ständiger
Kampf, ein ständiges „Spiel“, wie Bourdieu es nennt, um Anerkennung und Macht.
SPRECHERIN
Soziale Hierarchien sind Bourdieus Lebensthema. Wie unterscheiden sich die
Schichten voneinander? Was trägt das Bildungswesen zu diesen Unterschieden
bei? Warum geben manche Intellektuelle den Ton an? Wie kommt es zur
männlichen Herrschaft? Das sind einige der Themen seiner Feldforschung.
SPRECHER
Und immer schwingt in seinen Analysen auch eine gewisse Kritik mit an den
herrschenden Gruppen, den Eliten.
MUSIK 5
SPRECHERIN
Geboren ist Pierre-Félix Bourdieu 1930 in einem kleinen Dorf am Fuße der
Pyrenäen. Sein Vater Albert war erst Kleinbauer und später Postbeamter. Seine
Mutter Noémie war ebenfalls bäuerlicher Herkunft.
SPRECHER
Vor allem sein Vater habe ihn geprägt, schreibt Bourdieu. Albert war Mitglied einer
Gewerkschaft und habe weit links gewählt, was in der konservativ-ländlichen Welt
immer wieder zu Problemen führte. Er habe seinen Vater nie glücklicher erlebt, als
in Momenten, in denen er Bedürftigen helfen konnte.
Anweisungen, Witwenrenten, Schuldverschreibungen – in blindem Vertrauen
überließen die Leute dem Postbeamten Albert ihre wichtigsten Angelegenheiten,
der immer verantwortungsvoll damit umging. Diese Haltung seines Vaters habe
ihn früh gelehrt, die sogenannten „kleinen Leuten“ zu achten, so Bourdieu
rückblickend.
SPRECHERIN
Nach der Grundschule kommt er ins Internat nach Pau, um dort aufs Gymnasium
zu gehen. Später besucht er noch ein Gymnasium in Paris. Damals etwas
Besonderes für einen Jungen aus der Provinz.
03 O-TON (Schultheis)
Gleichzeitig hat er aber auch die Schattenseiten kennen gelernt als Außenseiter in
diesen Gymnasien, wo er war. Die Anderen waren bürgerlicher Herkunft und er
kam eher aus der Unterschicht, und dadurch hat er ein ambivalentes Verhältnis
entwickelt.
MUSIK 6
SPRECHER
Raufereien, Fausthiebe, Hoffnungslosigkeit – die Jahre im Internat in Pau seien
fürchterlich gewesen, schreibt Bourdieu. Als Musterschüler sei er immer schnell
Zielscheibe von Aggressionen gewesen. Um nicht vollends ausgeschlossen zu
werden, habe er angefangen, mit den anderen Jungs Rugby zu spielen. Es seien
diese permanenten Auseinandersetzungen gewesen, die ihn dazu gebracht
haben, die soziale Welt als andauernden Kampf zu betrachten. Aber trotz dieser
negativen Erfahrungen an der höheren Schule war er dem Bildungssystem
insgesamt gegenüber wohlgesonnen.
04 O-TON (Schultheis)
Er wurde von diesem Bildungssystem quasi entdeckt und über verschiedene
Stufen bis an eine Eliteuniversität befördert. Und dadurch hatte er eigentlich
gegenüber diesem Bildungssystem immer auch eine sehr positive Einstellung. Es
hat ihn errettet, aus dieser Marginalität.
MUSIK 7
SPRECHERIN
Von der französischen Provinz nach Paris. Als Sohn einfacher Leute auf
die besten Gymnasien des Landes. Bourdieu ist ein Außenseiter in mehrfacher
Hinsicht. Aber erst später habe er die Besonderheiten seines eigenen Habitus
erkannt, schreibt er. Tonfall, Stimme, Gesichtsausdruck – als Junge vom Land
habe er sich in vielem von den hochgeborenen Parisern mit ihrer kühlen
Selbstsicherheit unterschieden. Vielleicht sei er deshalb so oft als aufmüpfig
wahrgenommen worden.
SPRECHER
Ab 1951 studiert Bourdieu Philosophie an der Pariser École Normale Supérieure,
der Kaderschmiede der französischen Intellektuellen, die auch berühmte Denker
wie Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und Émil Durkheim besucht haben.
Anfangs ist er beeindruckt von der akademischen Welt mit ihren Diskursen und
illustren Zirkeln. Seine Dissertation will er – wie damals üblich für einen
Philosophie-Studenten – über ein abstraktes Thema schreiben. Aber es kommt
anders.
MUSIK 8
SPRECHERIN
In Algerien brechen zu dieser Zeit bewaffnete Konflikte aus. Das nordafrikanische
Land stand damals unter französischer Kolonialherrschaft und kämpfte für seine
Unabhängigkeit. Das französische Militär schlägt die Aufstände blutig nieder.
Bourdieu, obwohl erklärter Gegner des Krieges, muss ab 1955 seinen Wehrdienst
dort leisten.
05 O-TON (Schultheis)
In Algerien trifft er auf eine Situation, die ihn wachrüttelt, wo er sagt; Ich kann unter
diesen Bedingungen, diesem Kolonialkrieg, dem Elend, was er da zu sehen
bekam, nicht einfach weiter Philosophie betreiben. Ich muss mich dieser Lage
annehmen, kritisch annehmen. Und er schreibt ein Buch Sociologie d Algerie,
Soziologie Algeriens, und mit diesem Buch, so sagte er, wollte ich daheim den
Franzosen überhaupt mal deutlich machen, was Algerien bedeutet. Denn in
Frankreich kennt man Algerien gar nicht. Ich will auch vermitteln, dass auch die
Algerier eine eigene Kultur haben, was eigentlich von den Kolonialherren immer
verneint wird
4.5
8080 ratings
Italiener oder Imbiss. Puccini oder Punkrock. Die Herkunft prägt den Geschmack ein Leben lang. Davon ist der Franzose Pierre Bourdieu überzeugt. Wer ist der Mann, der die Soziologie als Kampfsport bezeichnet? Autorin: Maike Brzoska (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Stefan Merki, Andreas Dirscherl
Technik: Roland Böhm
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
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Eine Abendgesellschaft irgendwo in Frankreich. Zahlreiche Gäste sind geladen.
Sie nehmen Platz an einem großen Tisch. Gleich wird das Essen serviert. Schon
an wenigen Details kann man erkennen, wer hier diniert.
SPRECHER
Sitzen die Paare nebeneinander? Dann gehören die Gastgeber vermutlich der
unteren Schicht oder dem Kleinbürgertum an. Sitzen die Paare getrennt
voneinander, gehören sie zur Oberschicht, zur Bourgeoisie.
SPRECHERIN
Auch die Speiseordnung kann die soziale Herkunft verraten.
MUSIK 2
SPRECHER
Suppe, Kartoffeln, Fleisch – bei Angehörigen ärmerer Schichten kommen die
vollen Töpfe und Pfannen mit auf den Tisch. Aufgetragen wird reichlich und mit
großen Schöpfkellen. Die Reihenfolge der Speisen ist zwanglos, Zwänge gibt es
im Alltag schließlich schon genug. Deshalb räumt die Frau zwischendurch auch
ein paar Teller beiseite und holt schon mal die Torte, während andere noch essen.
MUSIK 3
SPRECHERIN
Bei den Wohlhabenden hingegen hält man sich zurück. Erst wenn ein Gang
vollständig abgeräumt ist – inklusive Salzstreuer –, wird das Dessert aufgetragen.
Gegessen wird erst, wenn alle einen Nachtisch haben. Sich nicht zurück zu halten,
wäre respektlos gegenüber den Gastgebern.
SPRECHER
Und wer sich immer noch nicht sicher ist, wer hier feiert, sollte auf Speisen und
Getränke selbst achten.
SPRECHERIN
Gemüse, Fisch, Wasser, Wein – auf den Tisch der Oberschicht kommen leichte
und exquisite Speisen. Schlank ist schließlich schick.
SPRECHER
Bei ärmeren Leuten hingegen gibt es kalorienreiches Essen: Fettes Fleisch,
salzige Beilagen, Bier, Limo, Schnaps. Gefragt ist hier, was satt macht. Ab Montag
wird wieder schwer geschuftet.
SPRECHERIN
Zurückhaltende Askese hier, zwanglose Völlerei dort. Diese Analyse der
Tischsitten stammt von dem Soziologen Pierre Bourdieu. Sein 1979 in Frankreich
erschienenes Buch La distinction, zu deutsch: Die feinen Unterschiede, machte
ihn über Nacht berühmt, auch außerhalb der wissenschaftlichen Welt. Bourdieu
zeigt darin, wie kulturelle Praktiken, ästhetische und kulinarische Vorlieben sich je
nach sozialer Herkunft unterscheiden.
MUSIK 4
SPRECHER
Wobei die Tischsitten nur ein kleines Detail sind aus der Fülle des empirischen
Materials, das er über Jahre hinweg gesammelt hat. Stunden habe er damit
zugebracht, Gesprächen zuzuhören, schreibt Bourdieu in seinem Buch Ein
soziologischer Selbstversuch.
SPRECHERIN
Gelauscht hat er in Cafés, beim Boule, beim Fußball, auf Postämtern. Aber auch
bei Abendgesellschaften, Cocktailpartys und auf Konzerten. Manchmal habe er
unter einem Vorwand ein Gespräch angefangen, nur um mehr über Herkunft und
Beruf seines Gegenübers zu erfahren.
01 O-TON (Schultheis)
Das ist das Besondere bei ihm, seine gesamte Theorie ist empirisch gewonnen.
SPRECHER
Der Soziologe Franz Schultheis. Er ist Professor an der Universität St. Gallen und
hat viele Jahre mit Bourdieu zusammengearbeitet.
SPRECHERIN
Bourdieus Beobachtungen stammen aus den 1960er und -70er Jahren. Deshalb
ist die Analyse des Festessens auch mit Vorsicht zu genießen. Denn ob es bei
französischen Abendgesellschaften auch heute noch so zugeht, oder ob die
Unterschiede inzwischen mehr Klischee als Realität sind – Bourdieu wäre wohl
der erste, der eine neuerliche Analyse anmahnen würde.
SPRECHER
Aber ganz allgemein lässt sich seine These in Die feinen Unterschiede so
zusammenfassen:
SPRECHERIN
Was ich esse, wie ich mich kleide, welche Musik ich höre, wie ich wohne, was ich
schön finde – all das zeigt, welcher sozialen Gruppe ich angehöre. Bourdieu nennt
das den Habitus eines Menschen. Er verbindet ihn mit Anderen, die einen
ähnlichen Bildungsgrad und eine ähnliche soziale Herkunft haben.
SPRECHER
Gleichzeitig ist das, was in einer sozialen Gruppe als guter oder schlechter
Geschmack gilt, nicht für alle Zeiten festgelegt. Was en vogue ist, resultiert aus
Klassenkonflikten, die immer wieder neu ausgetragen werden. Es ist ein ständiger
Kampf, ein ständiges „Spiel“, wie Bourdieu es nennt, um Anerkennung und Macht.
SPRECHERIN
Soziale Hierarchien sind Bourdieus Lebensthema. Wie unterscheiden sich die
Schichten voneinander? Was trägt das Bildungswesen zu diesen Unterschieden
bei? Warum geben manche Intellektuelle den Ton an? Wie kommt es zur
männlichen Herrschaft? Das sind einige der Themen seiner Feldforschung.
SPRECHER
Und immer schwingt in seinen Analysen auch eine gewisse Kritik mit an den
herrschenden Gruppen, den Eliten.
MUSIK 5
SPRECHERIN
Geboren ist Pierre-Félix Bourdieu 1930 in einem kleinen Dorf am Fuße der
Pyrenäen. Sein Vater Albert war erst Kleinbauer und später Postbeamter. Seine
Mutter Noémie war ebenfalls bäuerlicher Herkunft.
SPRECHER
Vor allem sein Vater habe ihn geprägt, schreibt Bourdieu. Albert war Mitglied einer
Gewerkschaft und habe weit links gewählt, was in der konservativ-ländlichen Welt
immer wieder zu Problemen führte. Er habe seinen Vater nie glücklicher erlebt, als
in Momenten, in denen er Bedürftigen helfen konnte.
Anweisungen, Witwenrenten, Schuldverschreibungen – in blindem Vertrauen
überließen die Leute dem Postbeamten Albert ihre wichtigsten Angelegenheiten,
der immer verantwortungsvoll damit umging. Diese Haltung seines Vaters habe
ihn früh gelehrt, die sogenannten „kleinen Leuten“ zu achten, so Bourdieu
rückblickend.
SPRECHERIN
Nach der Grundschule kommt er ins Internat nach Pau, um dort aufs Gymnasium
zu gehen. Später besucht er noch ein Gymnasium in Paris. Damals etwas
Besonderes für einen Jungen aus der Provinz.
03 O-TON (Schultheis)
Gleichzeitig hat er aber auch die Schattenseiten kennen gelernt als Außenseiter in
diesen Gymnasien, wo er war. Die Anderen waren bürgerlicher Herkunft und er
kam eher aus der Unterschicht, und dadurch hat er ein ambivalentes Verhältnis
entwickelt.
MUSIK 6
SPRECHER
Raufereien, Fausthiebe, Hoffnungslosigkeit – die Jahre im Internat in Pau seien
fürchterlich gewesen, schreibt Bourdieu. Als Musterschüler sei er immer schnell
Zielscheibe von Aggressionen gewesen. Um nicht vollends ausgeschlossen zu
werden, habe er angefangen, mit den anderen Jungs Rugby zu spielen. Es seien
diese permanenten Auseinandersetzungen gewesen, die ihn dazu gebracht
haben, die soziale Welt als andauernden Kampf zu betrachten. Aber trotz dieser
negativen Erfahrungen an der höheren Schule war er dem Bildungssystem
insgesamt gegenüber wohlgesonnen.
04 O-TON (Schultheis)
Er wurde von diesem Bildungssystem quasi entdeckt und über verschiedene
Stufen bis an eine Eliteuniversität befördert. Und dadurch hatte er eigentlich
gegenüber diesem Bildungssystem immer auch eine sehr positive Einstellung. Es
hat ihn errettet, aus dieser Marginalität.
MUSIK 7
SPRECHERIN
Von der französischen Provinz nach Paris. Als Sohn einfacher Leute auf
die besten Gymnasien des Landes. Bourdieu ist ein Außenseiter in mehrfacher
Hinsicht. Aber erst später habe er die Besonderheiten seines eigenen Habitus
erkannt, schreibt er. Tonfall, Stimme, Gesichtsausdruck – als Junge vom Land
habe er sich in vielem von den hochgeborenen Parisern mit ihrer kühlen
Selbstsicherheit unterschieden. Vielleicht sei er deshalb so oft als aufmüpfig
wahrgenommen worden.
SPRECHER
Ab 1951 studiert Bourdieu Philosophie an der Pariser École Normale Supérieure,
der Kaderschmiede der französischen Intellektuellen, die auch berühmte Denker
wie Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und Émil Durkheim besucht haben.
Anfangs ist er beeindruckt von der akademischen Welt mit ihren Diskursen und
illustren Zirkeln. Seine Dissertation will er – wie damals üblich für einen
Philosophie-Studenten – über ein abstraktes Thema schreiben. Aber es kommt
anders.
MUSIK 8
SPRECHERIN
In Algerien brechen zu dieser Zeit bewaffnete Konflikte aus. Das nordafrikanische
Land stand damals unter französischer Kolonialherrschaft und kämpfte für seine
Unabhängigkeit. Das französische Militär schlägt die Aufstände blutig nieder.
Bourdieu, obwohl erklärter Gegner des Krieges, muss ab 1955 seinen Wehrdienst
dort leisten.
05 O-TON (Schultheis)
In Algerien trifft er auf eine Situation, die ihn wachrüttelt, wo er sagt; Ich kann unter
diesen Bedingungen, diesem Kolonialkrieg, dem Elend, was er da zu sehen
bekam, nicht einfach weiter Philosophie betreiben. Ich muss mich dieser Lage
annehmen, kritisch annehmen. Und er schreibt ein Buch Sociologie d Algerie,
Soziologie Algeriens, und mit diesem Buch, so sagte er, wollte ich daheim den
Franzosen überhaupt mal deutlich machen, was Algerien bedeutet. Denn in
Frankreich kennt man Algerien gar nicht. Ich will auch vermitteln, dass auch die
Algerier eine eigene Kultur haben, was eigentlich von den Kolonialherren immer
verneint wird
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