Kaum ein Tier ruft mehr Angst oder Ekel hervor als die Spinne. Sie ist das schreckliche Andere im Horrorfilm Tarantula und als schwarze Spinne, die mit dem Teufel im Bunde ist, muss sie in der Schauerliteratur zur Strecke gebracht werden. Dabei inspiriert ihr Netzbau die moderne Architektur, ihr Faden die Textilindustrie, ihre subtil tastende Weltaneignung die Ideen der Aufklärung über die Natur der Sinne.
Ganz gleich, ob es sich um Lügengewebe, Hirngespinste oder Netze metaphysischer Spekulation handelt – der seidene Faden, den die Spinne aus Drüsen an ihrem Hinterteil blitzschnell abzusondern vermag, inspiriert dazu, dieses Verhalten als Metapher für vielfältige und auch widersprüchliche Praktiken zu lesen. Und so knüpft Lothar Müller in seinem assoziationsreichen Portrait ein dichtes Netz aus erhellenden und obskuren, auf jeden Fall schillernden Deutungen der fremdartigen, doch allgegenwärtigen Tiere: von Kierkegaard, der mit ihnen über das Dasein spekuliert, zu Spiderman, der doch nie Spinne wird, von Marx, der seine Arbeitswertlehre mit Blick auf die »Spinning Jenny«, die erste Spinnmaschine, und auf die automatischen Webstühle entwickelt, zum Arachne-Mythos als Ursprung des Erzählens als Widerstand, bis zur Künstlerin Louise Bourgeois, die sie als »Maman« in Riesenskulpturen zur großen Beschützerin werden lässt, deren Kokon Platz für uns alle bietet.